Franziska Neumann: Die Ordnung des Berges. Formalisierung und Systemvertrauen in der sächsischen Bergverwaltung (1470-1600) (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit; Bd. 52), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, 411 S., ISBN 978-3-412-52102-8, EUR 70,00
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Die Bedeutung des Bergbaus im Erzgebirge während des 16. Jahrhunderts nicht nur für die Wirtschaftsgeschichte steht außer Frage. Die Prosperität des Montansektor wirkte auf den Staatsbildungsprozess in Kursachsen und den Aufstieg der Wettiner ein. Das gängige Narrativ befragt Franziska Neumann in ihrer an der Technischen Universität Dresden bei Gerd Schwerhoff entstandenen Dissertation, indem sie die sächsische Bergverwaltung von innen untersucht. Sie stützt sich auf soziologische Untersuchungen von Max Weber bis Andreas Reckwitz, zentriert um Niklas Luhmanns Organisationssoziologie, sowie auf neuere Arbeiten zur Kulturgeschichte der Verwaltung. Der Begriff der Formalisierung, verstanden nach Barbara Stolberg-Rilinger als "das Explizitmachen geltender sozialer Regeln" (21), steht im Mittelpunkt. Die reiche Überlieferung des Bergarchivs Freiberg sowie das Finanzarchiv und das Archiv des Geheimen Rats im Hauptstaatsarchiv Dresden ermöglichen einen innovativen Zugriff auf ein Thema, das bereits vielfach untersucht ist.
Zunächst geht es Neumann darum, die Montanregion Erzgebirge nach dem zweiten "Berggeschrey" der 1470er-Jahre kurz zu präsentieren. Eine wichtige Rolle spielt das Bergregal, das sich Ernestiner und Wettiner bis 1547 in Schneeberg teilten. Einer knappen technikgeschichtlichen Skizze folgt der Blick auf die Bergstädte und den lokalen Adel als wichtige Akteure. Bei der Vorstellung der Bergverwaltung beginnt Neumann bei den lokalen Bergämtern, dem "Herz des sächsischen Bergbaus" (66). Das Oberbergamt als intermediäre Instanz zwischen lokalem Bergamt und landesherrlicher Finanzverwaltung war eine späte Einrichtung der 1540er-Jahre im Zusammenhang mit einem größeren administrativen Umbau. Die Finanzierung wirkte gravierend auf die Organisation ein, weil zur Deckung der Kosten für die Wasserbewältigung auswärtiges Kapital benötigt wurde und es zur Umwandlung von Genossenschaften zu kapitalistischen Unternehmen auf der Basis von Kuxen kam. Folglich mussten die Interessen anwesender wie abwesender Investoren berücksichtigt werden. Die Bergbauverwaltung wurde dadurch zu einem "Hybrid zwischen Wirtschaftsunternehmung und landesherrliche[r] Verwaltung" (89).
Der Hauptteil über "die Formalisierung der Bergverwaltung" gilt drei Themenbereichen: der Mitgliedschaft, den formalen Regeln (Normen) und den administrativen Praktiken. Unter der Leitfrage "Wie wurde man Mitglied der Bergverwaltung?" (100) erschließt Neumann über Bestellungsbriefe und Amtseide die Rollenerwartungen. Sie zielten nicht auf die gesamte Person des Amtsträgers, sondern nur auf eine "Partialinklusion". Netzwerke, Patronage und Klientelbeziehungen besaßen herausgehobene Bedeutung. Neumann zeigt dies an mehreren Beispielen auf: am Berghauptmann Wolf von Schönheim, dem Oberbergmeister Merten Planer und der Familie Röhling in Geyer und Annaberg. Solche Personalisierung macht eine Stärke des Buches aus, zumal Quellen der Memorialüberlieferung einschließlich von Gemälden einbezogen sind. Weil die Grenzen zwischen Amt und Familie ineinanderflossen, kam es zur Normenkonkurrenz. Sie betraf auch die vermeintliche Neutralität der Bergbeamten, die jenseits aller Vorschriften in Bergordnungen Kuxen besaßen. Auch Korruption spielte eine Rolle, wie der tiefe Fall des Oberhüttenverwalters Michel Schönleben zeigt.
Der Abschnitt über formale Regeln wendet sich den Bergordnungen zu. Neumann schmälert nicht ihren hohen Quellenwert, sieht sie aber in Einheit mit den lokalen, mündlich tradierten Gewohnheitsrechten, die freilich selten ediert sind. Überhaupt vermisst sie systematische neuere Editionsprojekte (197 mit Anm. 367). Welche "Bedeutung den Bergordnungen in der Praxis zukam", sei schwer herauszuarbeiten (211). Gewohnheitsrechte blieben wirkmächtig, so dass ein Nebeneinander mit den schriftlich verfassten Statuten bestand. Die administrative Praxis untersucht Neumann unter dem Leitbegriff "pragmatische Schriftlichkeit" anhand der Frage, wie Amtsbücher im Bergbau geführt wurden. Angeregt durch die Forschung zu frühen Buchhaltungssystemen bleibt sie nicht bei den Bergbüchern stehen, sondern fragt, wie die Amtsstuben funktionierten. Sie stellt große Übereinstimmung mit der Amtsbuchführung in Städten, Kirchen und kaufmännischen Kontoren fest und führt dies auf die Qualifikation der Schreiber in den Rechen- und Winkelschulen der Bergstädte zurück. Die Buchhaltung speicherte und aktualisierte Informationen aus dem Bergbau, hatte aber auch eine "Schauseite für die Umwelt der Verwaltung" (259). Über die Amtsbücher hinaus dienten Berichte, "Aufstände" (listenartige Zusammenstellung über den Zustand der Lagerstätten und Zechen, 263) und "Handsteine" (Probematerial aus Erz, 265) als Informationsquellen. Suppliken verschafften auch den Bergarbeitern Gehör.
Anhand der Untersuchung von drei Verfahren zur Abrechnung (Bergrechnung, Berechnung der Zubußen und des Zehnts) kommt Neumann zu dem Befund, dass "[i]m Gegensatz zur Satzung formaler Regeln [...] die Entstehung von Routinen weniger als Ergebnis eines gezielten Planungsaktes zu begreifen" ist, "sondern sie entstehen unintendiert durch administrative Praktiken, die auf Dauer gestellt werden" (314). Das Schlusskapitel steht unter der von Luhmann übernommenen Überschrift "Erwartungserwartungen". Einheimische wie auswärtige Gewerken erwarteten Informationen von der Bergverwaltung, die unter Beobachtung stand. Ihre Erwartungen zu rekonstruieren bleibt freilich ein methodisches Problem trotz der Fallstudie zum Großgewerken Heinrich Harrer. Besser zu erfassen ist die Selbstwahrnehmung der Bergverwaltung, z. B. bei der kurfürstlichen Visitation 1570 zu greifen.
Der Autorin ist es erfolgreich gelungen, die Geschichte des Montansektors einzubringen in allgemeine Fragen der Geschichte der Vormoderne. Sie bindet sie mit großem Gewinn vor allem an Forschungen zu Netzwerken und zur pragmatischen Schriftlichkeit an. Ihre kritische Auseinandersetzung mit den Standardwerken zum erzgebirgischen Bergbau von Adolf Laube (1974) und Uwe Schirmer (2006) führt nicht dazu, deren Befunde zu verwerfen, sondern sie zu modifizieren, indem sie die Analyse von Prozesse und Strukturen um "vormoderne Eigenlogiken und informelle Faktoren" erweitert (18). Den Leitaspekt der Formalisierung überschätzt sie nicht, stellt jedoch deutlich fest: "Die Bergverwaltung war mitnichten eine formale Organisation im modernen Sinne" (348). Das Resümee deutet zwei Richtungen an, in der ihre Fragestellungen weiter nutzbar werden können: ein Vergleich mit anderen großen Montanrevieren, wo der Quellenbestand es möglich macht, und ein Vergleich mit anderen Verwaltungen der Frühen Neuzeit (349f.).
Wilfried Reininghaus