Rezension über:

Nora Thorade: Das Schwarze Gold. Eine Stoffgeschichte der Steinkohle im 19. Jahrhundert (= Geschichte der Technischen Kultur; Bd. 10), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, VI + 342 S., 9 Tbl., 7 s/w-Abb., 5 Kt., ISBN 978-3-506-70289-0, EUR 98,00
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Rezension von:
Franz-Josef Brüggemeier
Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Franz-Josef Brüggemeier: Rezension von: Nora Thorade: Das Schwarze Gold. Eine Stoffgeschichte der Steinkohle im 19. Jahrhundert, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 6 [15.06.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/06/33989.html


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Nora Thorade: Das Schwarze Gold

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Steinkohle ist nicht gleich Steinkohle. Sie existiert vielmehr in unterschiedlichen Formen, Ausprägungen und Qualitäten. Es gibt Flamm-, Gasflamm- und Gaskohle, Fett-, Ess- und Magerkohle sowie Anthrazit, die jeweils unterschiedliche Mengen an flüchtigen Gasen, Kohlenstoff, Sauerstoff und Wasserstoff enthalten, außerdem Schwefel, Wasser, Stickstoff und Schwermetalle. Auch die einzelnen Steinkohlenreviere unterscheiden sich, in denen bestimmte Sorten vorherrschen können, andere aber ebenfalls vorhanden sind. Schließlich können selbst einzelne Flöze unterschiedliche Sorten enthalten. Hinzu kommt, dass diese leicht oder schwer zugänglich sind, dick und mächtig oder auch dünn ausfallen und unterschiedliche Mengen an Erde und Gestein enthalten können. Anders ausgedrückt: Wenn es um Steinkohle geht, handelt es sich um einen sehr heterogenen Stoff, dessen stoffliche Qualität bzw. Materialität sehr unterschiedlich ausfällt und die von entscheidender Bedeutung sind. Das gilt für Bemühungen, einzelne Kohlesorten und Lagerstätten zu bestimmen, und insbesondere für die Förderung, Aufbereitung und Nutzung dieses Rohstoffes.

Damit sind die zentralen Themen der vorliegenden Studie genannt, die - so der Untertitel - eine Stoffgeschichte der Steinkohle im 19. Jahrhundert anstrebt. Sie gehört zu den (noch) wenigen Untersuchungen, die sich nicht nur programmatisch am material turn orientieren, sondern diesen Ansatz in einer Fallstudie konkret anwenden möchten. Das Vorgehen und den methodischen Ansatz erläutert die Einleitung, die einen sehr guten Überblick über die jüngeren Diskussionen zur materiellen Kultur, zur material agency sowie der Akteur-Netzwerk-Theorie gibt und erläutert, wie sie diese Ansätze für die Studie fruchtbar machen will. Dafür ist die Steinkohle ein sehr gut gewähltes Thema, da sie im Laufe des 19. Jahrhunderts eine zentrale Bedeutung für die Industrialisierung erlangte und zu deren wohl wichtigsten Rohstoff aufstieg. Für diesen Aufstieg liegen zahlreiche Untersuchungen vor, deren Schwerpunkt auf den bekannten und großen Kohlerevieren liegt. In Abgrenzung davon untersucht die Verfasserin drei kleinere Reviere, um deren spezifischen Qualitäten zu erfassen, und bietet auch hier eine konzise Zusammenfassung des Forschungsstandes. Doch wichtiger als die Absicht, bislang wenig beachteten Revieren die verdiente Aufmerksamkeit zu geben, ist die zentrale Zielsetzung, eine Stoffgeschichte der Steinkohle zu verfassen.

Dazu behandelt Kapitel 3 die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmenden Versuche, die Entstehung der Steinkohle, die Zusammensetzung der Sorten und die Geologie der Lagerstätten zu bestimmen und diese durch eine Verbesserung des Markscheidewesens möglichst genau zu erfassen und auf Karten zu verzeichnen. Gerade hier wird deutlich, wie heterogen dieser Rohstoff war und ist, welchen Aufwand es erforderte, seine Zusammensetzung zu bestimmen, und wie unterschiedliche wissenschaftliche und technische Ansätze dabei ineinandergriffen. Kapitel 4 behandelt Steinkohle als Produkt, wobei erneut die Heterogenität von zentraler Bedeutung war. Von der je nach Lagerstätte und Flöz unterschiedlichen Zusammensetzung hing entscheidend ab, zu welchen Zwecken Steinkohle genutzt werden konnte, ob sich ein Abbau lohnte oder welcher Aufwand dazu erforderlich war. Zusätzlich zu den Bemühungen, die bestmögliche Verwendung der einzelnen Sorten zu bestimmen, wurden neue Verfahren der Aufbereitung entwickelt und versucht, durch Verarbeitungen zu Koks, Gas oder Briketts zusätzlichen Nutzen aus den diversen Steinkohlesorten zu gewinnen. Dabei griffen zahlreiche Faktoren ineinander: die Mächtigkeit der Flöze, die Qualität der Kohle und die Größe der Lagerstätte; die Konkurrenz durch andere Brennstoffe und vor allem durch benachbarte Reviere, die wiederum von der Leistungsfähigkeit und den Kosten des Transportsystems abhingen; die Fähigkeit, den Verlauf der Flöze und die Dimensionen der Lagerstätten vorab zu bestimmen; die wissenschaftlichen Kenntnisse über und technischen Möglichkeiten zur Förderung und Verarbeitung - um nur die wichtigsten zu benennen. Diese Faktoren waren in den untersuchten Revieren unterschiedlich ausgeprägt, so dass diese je eigene Entwicklungen erlebten, die wesentlich von den vorhandenen Kohlesorten, der Größe der Lagerstätten, den Möglichkeiten der Verarbeitung und der Konkurrenzsituation abhingen.

Es ist wichtig, bei Erörterung dieser Faktoren die stoffliche Qualität der Steinkohle zu betonen. Es gab und gibt nun einmal Sorten, die für die Verkokung geeignet waren oder die in der Stahl- und Eisenindustrie heiß begehrt waren, während andere kaum Abnehmer fanden oder sich erst gar nicht zum Abbau eigneten. Auch die zahlreichen Möglichkeiten, Steinkohle aufzubereiten und für unterschiedlichste Zwecke zu verarbeiten, hingen wesentlich von den besonderen Qualitäten dieses Rohstoffs und seiner einzelnen Sorten ab. Darauf verweist die vorliegende Untersuchung immer wieder. Sie ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie wichtig nicht nur für Steinkohle, sondern auch für andere Rohstoffe deren stoffliche Qualität bzw. Materialität ist.

Das allerdings ist keine neue Erkenntnis. Vielmehr spielte in der Geschichte des Steinkohlenbergbaus, bei der Nutzung dieses Rohstoffes und seiner Weiterverarbeitung die stoffliche Qualität von Beginn an eine zentrale Rolle. Entsprechend stützt sich die Studie auf die zahlreichen zeitgenössischen Untersuchungen, die diese Thematik behandelten und die versuchten, Lagerstätten zu bestimmen, Kohlesorten zu analysieren und bestmögliche Nutzungen zu entwickeln. Neu hingegen ist die These, die Steinkohle sei hierbei selbst Akteurin gewesen.

Als Akteurin habe Steinkohle Beziehungen und Netzwerke gestaltet, den Erfolg der Eisen- und Stahlindustrie vorangetrieben und ebenso die Entwicklung von Industrieregionen, sie habe eigendynamisch und selbstbestimmt gehandelt, sei unterschiedlichste Allianzen eingegangen und habe sich als wirkungsmächtige Akteurin und zentrale Protagonistin in der Geschichte der Industrialisierung erwiesen. Zur Untermauerung dieser Aussagen bezieht sich die Verfasserin immer wieder auf die aktuellen Agency-Debatten und die Akteur-Netzwerk-Theorie, die wichtige Orientierungspunkte bieten. Doch tatsächlich wird zwar postuliert, aber nicht wirklich deutlich, inwieweit und wodurch Steinkohle als zentrale Protagonistin handelte. Sie setzte Grenzen, wenn bestimmte Kohlesorten sich nicht zur Herstellung von Koks eigneten oder geringe Lagerstätten keine blühenden Zechenlandschaften zuließen. Und zugleich eröffnete ihr Einsatz Möglichkeiten, wenn Kohle verfeuert wurde, um Dampfmaschinen anzutreiben oder wenn Teer als Ausgangsbasis der organischen Chemie diente. Doch diese Möglichkeiten und Grenzen, die beim Umgang mit Kohle herrschten, sind noch kein Beleg für deren Fähigkeit, selbst Akteurin zu sein. Diese Aussagen gelten auch für andere Rohstoffe, deren je unterschiedliche Materialität ebenfalls sowohl Möglichkeiten wie Grenzen beinhaltet. So lässt sich Gold zu Schmuck verarbeiten, aber nicht als Brennmaterial nutzen. Wo es nur in geringen Mengen gefördert werden kann, entsteht keine entsprechende Industrie.

Die Befürworter eines material turn sehen in diesen Merkmalen von Rohstoffen (und anderen Gegenständen) Belege einer agency und verwenden dabei einen sehr umfassenden Begriff, der ein weites und zugleich unbestimmtes Feld von diffusen Handlungsmöglichkeiten meint. Doch selbst wer diesen Begriff sinnvoll findet: Der Weg von den diffusen, damit bezeichneten Handlungsmöglichkeiten zur Annahme einer tatsächlichen Akteurin und zentralen Protagonistin der Industrialisierung ist weit, und die vorliegende Studie bietet dafür keine hinreichenden Begründungen. Um nur eine der Herausforderungen zu nennen: Zu erklären wäre u.a., warum Steinkohle über Millionen von Jahre - abgesehen vom Prozess der Inkohlung - inaktiv blieb, sich dann aber im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer überaus aktiven Akteurin entwickelte.

Zusätzlich sind Einschränkungen bei der Auswahl der untersuchten Themen zu erwähnen. Derartige Einschränkungen sind bei Dissertationen unvermeidlich. Im vorliegenden Fall führten sie dazu, dass die Verfasserin zwei Schwerpunkte gewählt hat: die Erforschung der Steinkohle und ihrer Lagerstätten durch Geologie und Markscheidewesen und Verfahren zur Aufbereitung und Verarbeitung der Steinkohle. Kurz erwähnt, aber nicht behandelt werden deren Umweltauswirkungen, die schon im 19. Jahrhundert sehr vielfältige Folgen hatten, bereits damals intensiv diskutiert wurden und mittlerweile gut genug erforscht sind, um zumindest eine kurze Darstellung zu ermöglichen. Ebenfalls eine Leerstelle ist der Bergbau selbst, d.h. die Auswirkungen der stofflichen Qualität der Steinkohle auf deren Förderung, die Arbeitsbedingungen, Unfälle, Krankheiten usw. Auch hierzu liegen zahlreiche Untersuchungen vor, und es überrascht, dass in einer Untersuchung zur Stoffgeschichte der Steinkohle diese Aspekte nicht erörtert werden.

Im Ergebnis liegt eine Studie vor, die als Wissenschafts- und Technikgeschichte interessante Befunde zur Erforschung der Steinkohle und deren Verarbeitung als Produkt bietet; sie arbeitet überzeugend die besondere stoffliche Qualität dieses Rohstoffes heraus und betont zurecht, dass diese eine besondere Beachtung verdient; und sie zeigt die unterschiedlichen Entwicklungen in den drei behandelten kleineren Revieren. Zusätzlich und nicht zuletzt ist sie ein aufschlussreicher Beitrag zu den Debatten um einen material turn. Deren zentralen Argumente, Ansätze und Beiträge stellt die Verfasserin souverän dar; die Studie zeigt aber auch die Herausforderungen und offenen Fragen. So anregend das Konzept einer agency für Dinge und Rohstoffe ist, so problematisch und begründungsbedürftig ist es weiterhin, diese als Akteure zu bezeichnen. Die Verfasserin sieht Steinkohle als eine selbstbestimmte Akteurin und als zentrale Protagonistin in der Geschichte der Industrialisierung. Das ist eine steile These, deren Begründungen nicht wirklich überzeugen.

Franz-Josef Brüggemeier