Rezension über:

Helge Wendt: Kohlezeit. Eine Global- und Wissensgeschichte (1500-1900), Frankfurt/M.: Campus 2022, 479 S., ISBN 978-3-593-51538-0, EUR 45,00
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Rezension von:
Tobias Winnerling
Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Winnerling: Rezension von: Helge Wendt: Kohlezeit. Eine Global- und Wissensgeschichte (1500-1900), Frankfurt/M.: Campus 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/37645.html


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Helge Wendt: Kohlezeit

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Hervorgegangen ist das vorliegende Werk aus dem Kontext des SFB 980 ("Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit") [1]. Helge Wendt befasst sich darin mit der Vorgeschichte der fossilen Energiewende, die zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert weg von regenerativen Energieformen wie Wind-, Wasser- und Muskelkraft sowie nachwachsenden Brennstoffen wie Holz hin zu Kohle, Öl und Gas als Primärenergieträgern geführt hat. Er beschreibt diese "fossile Transformation" (59) als einen langen, langwierigen und erst sehr spät in der Vorrangstellung fossiler Energieträger endenden Prozess, dem vielfältige Nutzungs- und Aneignungsprozesse vorausgingen. Wendt will diese Prozesse am Beispiel der Kohle als dem Hauptrohstoff fossiler Energienutzung bis weit ins 20. Jahrhundert aufzeigen. Die zentrale These der Arbeit stellt er selbst wie folgt vor: "dass die Kohlezeit eine in Europa entstehende, aber nur in multilokaler Interdependenz verständliche Epoche von Energiewenden unter Anbahnung des Anthropozäns ist" (13). Diese Energiewenden seien nur möglich gewesen durch das Wissen um den Brennstoff und seine Anwendungsmöglichkeiten, das der großmaßstäblichen Nutzung und schließlichen Durchsetzung vorausgehe. Daher ist die Arbeit dezidiert nicht wirtschafts- oder sozialgeschichtlich, sondern wissensgeschichtlich angelegt. Auf die Ergebnisse der Wirtschafts- und Sozialgeschichte wird nur unterstützend zurückgegriffen. Aus der zentralen These leitet Wendt dann auch den globalgeschichtlichen Fokus seiner Untersuchung ab - die Kohlezeit sei nur in Verbindung mit der europäischen Expansion des 16. bis 18. und dem Kolonialismus des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Dementsprechend situiert er seinen Gegenstand zunächst in europäischen Zusammenhängen; von der Entstehung des Begriffs von fossiler Kohle als einem eigenen epistemischen Gegenstand im zweiten Kapitel hin zu regionalen Beispielen von Autoren, die in Sachsen, Preußen, Schottland und Frankreich exemplarische Werke zu Papier brachten, im dritten. Über Alexander von Humboldt und dessen recht wenig umfangreicher Befassung mit Kohle im Verlauf seiner Reisen wird der Übergang zum vierten Kapitel gefunden, das sich mit Kohle in kolonialen Kontexten - Französisch-Kanada, Schlesien, Mexiko, Kuba, den Philippinen - befasst.

Das Buch zeichnet sich insgesamt durch eine in der Wissensgeschichte eher unübliche Theorieferne aus. Weder wird eingangs ein theoretisches Rahmenwerk postuliert, innerhalb dessen die empirischen Befunde eingehängt wären, noch wird im Lauf des Textes induktiv eines aus den Einzelbefunden heraus generalisiert. Wendt bezieht sich auf Wissensökonomie als Konzept in der Tradition Ernst Machs (25/26), schreibt allerdings im Fazit auch von "Wissensoikonomie" und bezieht sich damit auf das im SFB 980 entwickelte Konzept einer wissensgeschichtlichen Heuristik (356; auch 22). Beide Bezüge bleiben aber vage und werden im Text nicht weiterverfolgt. An einer Stelle spricht er auch vom "europäischen Weltsystem" (141), was zwar durch eine Anmerkung als Bezug auf Wallersteins Weltsystemtheorie markiert ist, aber keine weitere Auseinandersetzung mit Begriff oder Konzept nach sich zieht. Besonders frappant wirkt das im Unterkapitel 4.2, "Kohle zu Beginn der preußischen Herrschaft in Schlesien (1740-1770)", das Schlesien als Beispielfall für koloniale Machtpolitik aufführt: "als einzige[s] hier behandelte[s] Beispiel, das innerhalb Europas Mitte des 18. Jahrhunderts kolonisiert wurde." (235). Die Frage, ob und inwieweit die Eroberung und Inkorporation Schlesiens durch Preußen als im heutigen Verständnis kolonialer Prozess oder als "Colonisation" mit dem Akzent auf Nutzbarmachung und Entwicklung wie in der älteren Literatur betrachtet werden sollte (253) [2], wird dabei nicht weiter diskutiert. Es wäre im Kontext eines Oberkapitels, das sich dezidiert dem europäischen kolonialen Ausgreifen auf die Welt widmet, aber wünschenswert.

Hinsichtlich der globalgeschichtlichen Dimension werden sowohl Indien wie China als Großräume mit langer Tradition der Nutzung von Steinkohle aus der Darstellung ausgeklammert. Im Fall Chinas wird das noch damit begründet, dass der Autor einerseits keine chinesischen Quellen heranziehen könne und andererseits die Diskussion seit den Ergebnissen von de Vries und Pomerantz im Verlauf der Great Divergence-Debatte für beendet halte: Eine großmaßstäbliche Kohlenutzung sei in China eben erst unter europäischem Einfluss im 19. Jahrhundert begonnen worden (16/17). Für Indien wird das gleiche Argument geltend gemacht und die vorkoloniale Nutzung als unbedeutend abgetan, ohne dass hier die Quellen- oder Forschungslage weiter diskutiert werden (13). Das ist insofern nicht ganz spannungsfrei, als eines der Argumente Wendts für die Diskussion der vorindustriellen europäischen Kohlediskurse ist, dass das Wissen über die Ressource und ihre Nutzung eben nicht direkt miteinander gekoppelt seien, sondern unterschiedliche Konstellationen bilden könnten (42). Die Kohlezeit beginne daher bereits vor der großmaßstäblichen Verwendung des Materials als Energieträger. Die indische und chinesische Kohlenutzung kann also kein sachlich valides Argument für den Ausschluss des jeweiligen Kohlewissens aus dem Themenkreis liefern. Die pragmatische Begründung, dass die nötigen Sprachkenntnisse nicht vorliegen, hätte klarer herausgestellt werden können. Das gilt nicht nur für den asiatischen Raum, sondern auch für andere Beispielfälle: Im bereits angesprochenen Unterkapitel 4.2 wird die polnische Forschung zum schlesischen Kohlebergbau nur über die deutschsprachigen Veröffentlichungen von Eufrozyna und Zygfryd Piątek abgedeckt, ohne dass das weiter thematisiert würde. Das alte Dilemma der Globalgeschichte, dass zwischen Anspruch und Umsetzung eine schwer aufzulösende Kluft bestehen kann, weil kaum ein einzelner Mensch über alle nötigen Sprachkenntnisse verfügt, zeigt sich damit auch in diesem Buch. Der Untertitel hätte besser "Eine europäische Global- und Wissensgeschichte" lauten sollen, um klarzustellen, welche Perspektive hier zum Tragen kommt - denn das kann das Werk einlösen. Die französische, englische, spanische und deutsche wissensgeschichtliche Dimension fossiler Kohle werden ausgeleuchtet und in unterschiedliche, auch globale, Kontexte eingeordnet.

Der Verlag hat bei diesem Buch leider keine sonderlich gute Arbeit geleistet. Der Text ist schlecht lektoriert, nicht nur im Hinblick auf immer wieder einmal fehlende Verben, unvollständige oder nicht mehr geglättete Sätze, sondern auch inhaltlich. In den ersten fünfzig Seiten finden sich einige unnötige Wiederholungen, in den späteren Kapiteln Sprünge im Stoff, die den Eindruck erwecken, hier hätte stärker systematisiert werden können. Dass alle Anmerkungen nur als Endnoten vorliegen und auch Verweise auf andere Kapitel nur dort zu finden sind, ist schon benutzer*innenunfreundlich genug; dass auch ein Literaturverzeichnis fehlt (lediglich ein Verzeichnis der archivalischen Quellen folgt auf die Endnoten), ist außerordentlich unpraktisch. Die Abbildungen sind alle schwarz-weiß wiedergegeben, manche davon allerdings so klein oder unscharf, dass sie nichtssagend bleiben (Abb. 4, 187, Abb. 5, 193, Abb. 11, 316). Dass im Impressum darauf verwiesen wird, das Buch sei klimaneutral, kann das nicht ausgleichen.

Bei den wörtlichen Zitaten ist die Beurteilung nicht ganz so einfach. Wendt verweist zweimal darauf, dass er die Übersetzungen nicht-deutscher Zitate angefertigt habe (EN 10, 374, EN 43, 376), so dass die schlechte Qualität der Übersetzungen nicht allein dem Verlag angelastet werden kann. Die Beigabe der originalsprachlichen Zitate in den Endnoten zeigt im Vergleich, dass vielfach flüchtig übersetzt wird, teilweise sehr wörtlich, was zu hölzerner Form, grammatikalischen Fehlern oder Auslassungen in den deutschen Fassungen führt und an manchen Stellen den Sinn verfälscht. [3] Hier hätten Redaktion oder Lektorat vor der Drucklegung eingreifen sollen.

Wie lautet also die Bilanz des Buches? Wendt hebt im Fazit hervor, dass die titelgebende "Kohlezeit" nicht als Epochenbegriff tauge (359). Ihre Weltgeltung erhielte die Kohle erst Ende des 19. Jahrhunderts, die Kohlezeit sei nur ein Teil des "Protoanthropozäns" (362). Trotz des großen Wissenszuwachses über Kohle zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert sei keine direkte Verkopplung der Episteme mit konkreten industriellen Entwicklungen nachzuweisen. Wichtig sei aber der Umschlag von lokalen und vereinzelten zu einer globalen und massiven Diskursformation über Kohle. Hierfür bringt das Buch viele eindrückliche Einzelbeispiele. Stärker akzentuiert hätte hier werden können, dass fossile Kohle für viele der genannten Autoren, nicht zuletzt Alexander von Humboldt, nur als Substitut für Holz und Holzkohle gedacht wurde. Wendt erwähnt das immer wieder, führt diese Befunde aber nicht zusammen; die Forschungsdiskussionen um die "Holznot" der Frühen Neuzeit finden kaum Berücksichtigung. Durch den starken Fokus auf Kohle geraten andere, vielleicht vergleichbare Entwicklungen tendenziell aus dem Blick, und es wird nicht ganz klar, ob Kohle wirklich eine Sonderstellung einnimmt - und wenn ja, warum. Für alle, die sich für Wissensgeschichte auch abseits ihrer klassischen Themen begeistern und an der Verknüpfung von Wissens- und Lebenswelt in lokalen und globalen Zusammenhängen aus einer europäischen Perspektive interessiert sind, ist die Lektüre aber sicherlich bereichernd und zum Weiterdenken anregend.


Anmerkungen:

[1] https://www.sfb-episteme.de/.

[2] Dort zitiert nach: Otto Hintze: Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, Bd. 6.1 (Einleitende Darstellung der Behördenorganisation und allgemeine Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrichs II.), Berlin 1901, 33-35.

[3] Exemplarisch: "for steamers of long voyage preference is given to the first quality of said coal" muss heißen "auf Langstreckenfahrten der Dampfschiffe wird die höchste Güteklasse besagter Kohle bevorzugt", nicht "wird die erste Eigenschaft bevorzugt" (319).

Tobias Winnerling