Vadim Oswalt: Weltkarten - Weltbilder. Zehn Schlüsseldokumente der Globalgeschichte (= Reclam Taschenbuch; 20382), Stuttgart: Reclam 2015, 220 S., 60 Abb., ISBN 978-3-15-020382-8, EUR 12,95
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Was ist Globalgeschichte? So wenig neu diese Frage ist, so sehr drängt sie sich immer wieder auf, wenn es um Publikationen geht, die einen globalgeschichtlichen Anspruch erheben. Im Fall des vorliegenden Werks von Vadim Oswalt scheint die Definition sich bereits aus dem Titel zu ergeben: Global ist, was auf eine Weltkarte passt. So lassen sich dann wiederum Weltkarten als "Schlüsseldokumente der Globalgeschichte" apostrophieren und beschreiben. Ausgewählt als solche wurden hier zehn Karten, die in der Einleitung mit Pierre Nora als historische Erinnerungsorte angesprochen werden. Diesen Karten wird so zugeschrieben, dass sie "Vorstellungswelten sowie Imaginationen [schufen], die politische, kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Ordnungen spiegelten oder zum Teil erst entwarfen. Sie normierten Wissensbestände ihrer Zeit (...)." (11) Abgeleitet wird die universelle - da ja global verstandene - Gültigkeit dieses Theorems der Karte als Wissensspeicher dabei über die Universalität des Kartierens als primärer Kulturtechnik, die bereits seit der Steinzeit in nahezu allen Kulturen anzutreffen sei. Die Fokussierung auf Weltkarten dient dem Werk damit als Konzentrationsmöglichkeit, soll aber auch die Herstellung von Vergleichen und Querbezügen erleichtern.
Ausgewählt als dergestalt verstandene Schlüsselikonen der Weltabbildung werden nunmehr die auf eine Tontafel geritzte Karte des Babylonischen Reiches von ca. 600 v.Chr; die oft als Straßenkarte des Römischen Reichs gedeutete Tabula Peutingeriana, die vermutlich auf ein Original des 4. Jahrhunderts zurückgeht; die Karten Al-Idrisis im sizilianischen Buch des Roger aus dem 12. Jahrhundert; die Ebstorfer Weltkarte (um 1300 entstanden); die koreanische Kangnido-Karte von 1402; die Waldseemüller-Karte von 1507 als möglicherweise erste kartografisch gedruckte Erwähnung des Terminus "America"; Gerhard Mercators erste Weltkarte in der später so benannten Mercator-Projektion von 1569; Matteo Riccis zu Missionszwecken in China aus chinesischen und europäischen Quellen kompilierte Karte Kun-yu Wan Guo Quan-tu aus dem Jahr 1602; die "Imperial Federation Map of the World Showing the Extent of the British Empire" (1886); und schließlich die Peters-Weltkarte des Jahres 1973. Im Fazit widmet sich Oswalt schließlich noch der "Weltkarte im Satellitenzeitalter", eigentlich aber der digitalen Transponierung der Kartografie in Zeiten des Internets.
Die Kapitel sind unterschiedlich lang, wobei die Schwerpunkte des Autors deutlich erkennbar auf den moderneren Karten liegen. Das Kapitel zu Arnos Peters Versuch einer global gerechten Projektion ist hierbei das deutlich längste und auch stärkste. Dass sowohl Autor wie Verlag sich mit den beiden Beispielen mit ostasiatischem Kontext schwer tun, zeigt sich auf Seite 113, wo das Yugong-Diagramm auf dem Kopf stehend abgedruckt wird. Ebenso auf Seite 116, wo im Text auf das chinesische Schriftzeichen für "Karte" verwiesen wird, direkt daneben aber die Schriftzeichenkombination (aus zwei Zeichen) für "Weltkarte" wiedergegeben wird, ohne dass klar wird, dass sich der Kommentar nur auf das rechte der beiden Ideogramme bezieht. [1] Im selben Zusammenhang wird bei der Kangnido-Karte auf die Kombination von Text und Bild in der Karte als Besonderheit der chinesischen Tradition verwiesen, ohne die offensichtliche Parallele zur im vorhergehenden Kapitel behandelten und ebenso operierenden Ebstorfer Weltkarte zu ziehen. Trotz des globalen Anspruchs wird damit bereits eine eher eurozentrische Sichtweise deutlich. Das mag auch an der herangezogenen Literatur liegen, die - das mag dem Wunsch nach leichter Lesbarkeit geschuldet sein - stets knapp bemessen ist und sich daher auf euroamerikanische Publikationen beschränkt.
Nach dem bislang Gesagten lohnt es sich, zum Vergleich auf ein anderes Werk zu verweisen: Jerry Brottons "A History of the World in Twelve Maps" [2], das Oswalt in seiner Einleitung immerhin einmal in einer Fußnote kurz erwähnt (12). Das ist vor allem deswegen spannend, weil beide sich einen signifikanten Bereich ihrer Beispiele teilen: Mit Oswalts Epilog, dem Brottons 12. Kapitel entspricht, sind es 7 von 11 Beispielen bei Oswalt, 7 von 12 bei Brotton. Beide gehen chronologisch vor und handeln einen ähnlichen Kanon von Referenzen ab. Auch dasselbe offenbar mittlerweile kanonische Borgés-Zitat teilen sie sich [Oswalt: 23, Brotton (dt.): 19]. Bis zur Waldseemüller-Karte arbeiten sich beide durch das gleiche Programm, auch wenn Brotton als mittelalterliches Beispiel die Hereford-Karte (Kap. 3) nutzt, die aber von Aufteilung, Bild- und Textprogramm mit der Ebstorfer Karte deutliche Parallelen aufweist. Nur zwischen 1507 und 1973 gibt es relevante Unterschiede in der Stoffauswahl, was daran liegen mag, dass die Auswahl in diesem Zeitraum deutlich größer ist.
Es handelt sich bei Oswalts Buch aber mitnichten um eine Kurzversion des Brottonschen Œuvres [3], sondern durchaus um eine andere Akzentsetzung. Brotton bemüht sich in der Einleitung, deutlich zu machen, dass seine Beispiele eben nicht wegen ihrer zeitgenössischen Wirksamkeit gewählt wurden, sondern wegen der Möglichkeiten, sie kontextuell einzubetten - und zwar nicht in einen übergreifenden Weltkartendiskurs, sondern auf der Ebene ihrer Produzenten und Rezipienten (vgl. 30). Oswalt hingegen betont die übergreifende Relevanz seiner Beispiele (siehe oben). Damit konstruiert er trotz seiner Relativierung der Möglichkeit, die Erdoberfläche ideal zu repräsentieren, dennoch implizit ein Fortschrittsnarrativ, das hinsichtlich der technischen Errungenschaften der Kartografie auf die Gegenwart abzielt. Nicht nur bei der Behandlung Mercators und Peters' ist das der Fall, sondern bereits dann, wenn er bei der babylonischen Karte konstatiert: "Die Babylonier waren in der Lage, die 360 Grad als Grundlage eines Kreises zu berechnen" (37). Kreise haben nun keinesfalls natürlicherweise 360 Grad, sondern nur, weil eben diese Babylonier das - aus ihrer Sichtweise heraus nachvollziehbar, nach heutigem Maßstab eher arbiträr - so festlegten.
Die Fortschrittsteleologie, die sich allen kulturgeschichtlichen Relativierungen zum Trotz hier andeutet, ist dementsprechend eine europäische (es finden sich ja auch nur zwei nicht-europäische Karten unter seinen Beispielen). Schließlich haben Griechen und Römer und in deren Folge das mittelalterliche und frühneuzeitliche Europa diese Setzung mitgetragen, sodass das Europa des 19. Jahrhunderts sie über die ganze Welt verbreiten konnte. So zumindest die bei Oswalt implizit angelegte Erzählung. Der Misserfolg der Karte Al-Idrisis wird dementsprechend daraus abgeleitet, dass die Karte zu modern und also ihrer Zeit voraus gewesen sei - nicht daraus, dass sie für die Zeitgenossen wohl einfach nicht besonders funktional war. Bei der Diskussion der Imperial Federation Map beschreibt Oswalt die Jahre zwischen 1881 und 1914 als die der kolonialen Expansion Europas und der USA. Die japanische Expansion im selben Zeitraum bleibt außen vor. Die Karte Matteo Riccis interessiert vor allem als Kulturtransfer europäischen Wissens nach China. Die fehlende Rückwirkung der Karte in Europa, wo Ricci wegen der Verlegung Chinas in die Kartenmitte vorgeworfen wurde, dass er "sich nach ihrem [= der Chinesen] Praeiudicio accomodiret" [4] habe, wird nicht thematisiert. Es ließe sich argumentieren, dass das in der Einleitung skizzierte Programm diese Schlagseite bereits vorzeichnet. Die Fokussierung auf das Konzept Weltkarte beinhaltet möglicherweise bereits eine eurozentrische Setzung: Nicht alle Kulturen haben Weltkarten entworfen, und nicht alle, die es taten, maßen ihnen das gleiche Gewicht zu wie die Europäer. Desgleichen auch die - zu Recht umstrittene - Kategorie des Erinnerungsorts: Für wen sollen diese Karten einen Erinnerungsort darstellen? Und warum? Und kann ihnen mit Recht zugesprochen werden, diese Funktion in globaler Weise zu erfüllen?
Dem Charakter eines Einführungs- und Überblickswerks geschuldet lässt Oswalt diese Fragen offen. In dieser Hinsicht regt der Band durchaus zum Weiterdenken an. Er lässt sich auch - was wohl die Absicht war - gut und eingängig als erster Schritt in die Kulturgeschichte der Weltkarten lesen. Allerdings trifft ihn, allen wohlgemeinten Absichten zum Trotz, der Vorwurf, den sich viele Globalgeschichten gefallen lassen müssen: Dass es sich weniger um Geschichten der Welt als vielmehr um Geschichten Europas in der Welt handele, die eine Geschichte heraufbeschwören, in der Europa in der Lage war, den Globus nach seinem Willen zu formen. Die von Oswalt ausgewählten Weltkarten legen für diese Sichtweise ein sprechendes Zeugnis ab. Ob sie berechtigt ist, das gehört zu den Fragen, die sich nach der Lektüre stellen. Und das ist wohl das Beste, was man von einem Buch sagen kann: Dass es zum Weiterdenken zwingt.
Anmerkungen:
[1] Nach Richard Sears verweist das Zeichen etymologisch auch nicht auf eine Karte, sondern auf das Lagern von Vorräten: vgl. http://www.chineseetymology.org/CharacterEtymology.aspx?characterInput=%E5%9C%96 (Zuletzt abgerufen am 23.11.2015).
[2] Jerry Brotton: A History of the World in Twelve Maps, London 2012; dt.: Die Geschichte der Welt in zwölf Karten, München 2014; außerdem ins Spanische, Chinesische und Koreanische übersetzt.
[3] 220 Seiten gegenüber 717 Seiten bei Brotton (in der deutschen Ausgabe).
[4] Eberhard D. Hauber: Versuch einer umständlichen Historie der Land-Charten, Ulm 1724 / Karlsruhe 2003, 41f.
Tobias Winnerling