Fabian Fechner: Entscheidungsprozesse vor Ort. Die Provinzkongregationen der Jesuiten in Paraguay (1608-1762) (= Jesuitica. Quellen und Studien zu Geschichte, Kunst und Literatur der Gesellschaft Jesu im deutschsprachigen Raum; Bd. 20), Regensburg: Schnell & Steiner 2015, 356 S., ISBN 978-3-7954-3020-7, EUR 49,95
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Die grundlegende Fragestellung dieses 2013 mit dem Dissertationspreis der Universität Tübingen ausgezeichneten Buchs lautet: Was ist Macht? - so beginnt zumindest die Einleitung. Ebenso wie die zweite Formulierung - Wie wird Herrschaft durchgesetzt und ausgeübt? - tritt sie bei der Lektüre allerdings zunächst hinter eine viel konkretere Frage zurück, deren Antwort dann auch den Schlüssel für die beiden Eingangsfragen liefert: Was ist eigentlich eine Provinzkongregation der Jesuiten in der Frühen Neuzeit? Anhand dieses organisatorischen Instruments der Gesellschaft Jesu, genauer gesagt an den 23 vollumfänglichen und 4 verkürzten Versammlungen dieser Art, die während der gut anderthalb Jahrhunderte des Bestehens der Provinz Paraguay stattfanden, arbeitet Fechner verschiedene Problemkomplexe auf, die in der Geschichtsschreibung zur alten Gesellschaft Jesu immer wieder diskutiert wurden. Wie war es um das Verhältnis der Ordenszentrale in Rom zu den übrigen Ordensteilen bestellt, also um die berühmte "Monarchia" des Ordensgenerals? Welche Verbindungen hatte die Societas Jesu (SJ) zu den politischen Herrschaftsträgern? Wie genau gestaltete sich "nuestro modo de proceder", "unsere Art, vorzugehen" des Ordens auf der lokalen Ebene? Wie sahen die Jesuiten in Außereuropa ihre Konvertiten, und welcher Platz wurde Außereuropäern im Orden eingeräumt? Wie sehr war die Gesellschaft Jesu schriftgesteuert, ein Bürokratenapparat? Am Beispiel der Ordensprovinz Paraguay, die in der bisherigen Historiographie zur alten SJ vor allem wegen der Reduktionen in den Missionsgebieten thematisiert wurde, lieferten diese doch den Anlass zur bekannten Polemik vom "Jesuitenstaat" in Südamerika, lassen sich all diese Fragen am konkreten Beispiel verhandeln.
Hierfür setzt der Verfasser im Rahmen einer "Kulturgeschichte des Politischen" (23) auf ein lokales Untersuchungsfeld - eben die Ordensprovinz Paraguay -, das unter einer globalgeschichtlich orientierten Perspektive quellennah untersucht werden soll. Die Breite und Tiefe der Quellenarbeit des Verfassers ist dabei vorbildlich. Hierbei verfolgt er erfolgreich das lobenswerte Ziel, zur Ausweitung der zur Verfügung stehenden Quellenbasis den bislang vernachlässigten Verwaltungsdokumenten unterer Instanzen breiteres Gehör gegenüber den normativen Schriftstücken zu verschaffen, die sonst üblicherweise als Belege für institutionelles Handeln und seine Möglichkeiten herangezogen werden. Ihre Durchsicht und Interpretation gilt es dann aber noch zu leisten.
Dieser Aufgabe stellt sich der Autor in vier Großkapiteln, die den politischen Kontext vor Ort (Kapitel 2: Die institutionellen Verbindungen zwischen der Gesellschaft Jesu, der spanischen Krone und der Verwaltung in Hispanoamerika), die normativen Grundlagen, die es natürlich als Referenzrahmen weiterhin zu bedenken gilt (Kapitel 3: Entstehung und Entwicklung der Provinzkongregationen in normativen Texten und in der Verwaltungspraxis), die konkreten Ereignisse, also die untersuchten 27 Kongregationen (Kapitel 4: Die Provinzkongregationen der Provinz Paraguay) und die dort verhandelten Entscheidungen, also das, was tatsächlich zur Herrschaftsausübung dienen sollte (Kapitel 5: Aushandlungsprozesse und Interessenkonflikte auf den Provinzkongregationen in Paraguay) behandeln. Ein kurzes sechstes Schlusskapitel fasst die Ergebnisse dieses Vorgehens dann noch einmal zusammen.
Bei der Durchsicht des Inhaltsverzeichnisses könnte der Verdacht aufkommen, die lange Befassung des Autors mit Verwaltungsquellen habe auch der Arbeit ihren Stempel aufgedrückt, sind die einzelnen Kapitel doch minutiös in Unterkapitel von jeweils ein bis vier Seiten gegliedert. Der große Vorteil dieser Vorgehensweise ist es, dass so die vielfältigen Materien, die hier verhandelt werden - vom Verhältnis zum spanischen König bis zum Sitzungsablauf innerhalb der Kongregationen, von der Stellung der Nichteuropäer im Orden über den Guaraní-Krieg bis hin zum finanziellen Lastenausgleich zwischen einzelnen Niederlassungen der Jesuiten - transparent werden und einfach auffindbar sind. Das Fehlen eines Sachregisters (gegenüber den guten Personen- und Ortsregistern) wird so wirksam kompensiert. Die Zwischenfazite der einzelnen Großkapitel unterstützen zusätzlich eine selektive Lektüre. Der Nachteil eines solchen Vorgehens ist allerdings, dass damit eine zusammenhängende Lektüre in gewisser Weise erschwert wird; aber wer liest auch schon wissenschaftliche Bücher an einem Stück?
Versucht man es dennoch, braucht man etwas Geduld. Die gut hundert Seiten der Kapitel zwei und drei, die vor allem die größeren Zusammenhänge beleuchten, in die die Provinzkongregationen Paraguays eingebettet sind, lesen sich nicht leicht, was einerseits der sehr ruhigen und gleichmäßigen Diktion geschuldet ist und andererseits der stellenweise verwirrenden Fülle von Details. Hier werden zwar wichtige Fragen sehr sachkundig geklärt, etwa, was das Amt des Provinzprokurators - der vor allem für die wirtschaftlichen Belange einer Provinz verantwortlich war - eigentlich ausmachte, und wie sich das Institut der Provinzversammlungen überhaupt entwickelte - aber wer eine straffe Erzählung erwartet, wird sich hier Kürzungen wünschen. Gerade wegen der detaillierten Kenntnisse des Verfassers haben diese Passagen stellenweise aber geradezu Handbuchcharakter und lassen sich auch ohne den Rest des Werks gewinnbringend heranziehen.
Das Herzstück des Buches sind die Kapitel 4 und 5, die sich mit den Provinzkongregationen selbst und ihren Ergebnissen befassen. Da hier durchaus sensible Probleme verhandelt werden, etwa wenn das Verhältnis des Ordens zu den Reduktionen untersucht wird, ist die sachliche und unaufgeregte Schreibweise dem Verständnis sehr förderlich. Wenn man diesen Kapiteln einen Vorwurf machen wollte, dann den, dass wichtige Erkenntnisse nicht immer so herausgestellt werden, wie sie es eigentlich verdienen würden, sondern dem Leser ganz beiläufig mitgeteilt werden. Dass etwa die Jesuiten in den Reduktionen durchaus geistige und weltliche Gewalt ausübten und das durch das Drängen auf Ausschaltung aller intermediären Gewalten zwischen ihnen und dem König im fernen Spanien in der Verwaltung dieser Gebiete auch bewusst vorantrieben (221-2), diese Selbstverwaltung aber im Guaraní-Aufstand (1753-1756) aufgrund der Schwerfälligkeit ihrer Abläufe de facto wirkungslos blieb (248), wäre durchaus prominenter herausstellbar gewesen. Auch dass der Orden das Armutsgelübde zumindest im 18. Jahrhundert in Paraguay offenbar recht flexibel handhabte, bleibt im Kapitel zu den Finanzen eher implizit (vgl. 297). Dass die Haltung der Gesellschaft Jesu hinsichtlich der Mitgliedschaft und Aufstiegsmöglichkeiten nichteuropäischer Bewerber - seien es hispanoamerikanische Kreolen, Mestizen oder gar konvertierte Indios - stark ablehnend war und sie immer nur als Mitglieder zweiter Klasse und Notlösung behandelt wurden, wird allerdings mehrfach deutlich.
Das abschließende Ergebniskapitel versammelt schließlich kurz das, was eingangs gesucht wurde: Antworten auf die übergreifenden Fragen. Die Herrschaft des Generals war weit weniger absolut, als sie gern dargestellt wird; die Provinzkongregationen waren durchaus selbstbewusst genug, ihre eigenen Lösungen für ihre Probleme zu finden. Mit den politischen Herrschaftsträgern wusste sich der Orden vor Ort zu arrangieren, sie aber auch geschickt gegeneinander und gegen die eigene Zentrale in Rom auszuspielen, wenn es vorteilhaft schien. Das Vorgehen der Gesellschaft Jesu hingegen war ebenso wenig monolithisch wie der Orden selbst und wurde lokal vor allem von den örtlichen Gegebenheiten bestimmt. Hier waren die Provinzkongregationen die wirksamen normativen Akteure, weniger die Ordensleitung. Das führte dann auch zu Lösungen, die dem General in Rom wohl weniger recht waren als den Jesuiten an der Peripherie, wenn es um die Frage der Teilhabe von Nichteuropäern am Jesuitenorden ging. Hier schrieben die Patres vor Ort ihre herausgehobene Stellung fest, trotz aller Schwierigkeiten, die das praktisch mit sich brachte. All das zeigt - gerade am Beispiel der die örtlichen Jesuiten immer persönlich versammelnden Provinzkongregationen - dass Schriftlichkeit und bürokratisierte Institutionalisierung zwar wesentliche Bestandteile des ordenseigenen Vorgehens waren, aber persönliche Interaktionen nie ersetzen oder aushebeln konnten. Macht erweist sich hier damit als etwas, das in einem zähen Aushandlungsprozess zwischen Personen entsteht und dessen wesentliches Kennzeichen es ist, dass es - wie die Geschichte der Jesuitenprovinz Paraguay zeigt - Spuren hinterlässt. Diese in großer Fülle, wenn auch manchmal mit sehr viel Freude am Detail, zusammengetragen und ausgewertet zu haben, ist das Verdienst von Fechners Studie, die hoffentlich viele Nachfolger inspiriert.
Tobias Winnerling