Alfred Hiatt: Dislocations. Maps, Classical Tradition, and Spatial Play in the European Middle Ages (= Studies and Texts; 218), Toronto: Pontifical Institute of Mediaeval Studies 2020, XII + 347 S., 42 Farbabb., ISBN 978-0-88844-218-5, EUR 95,00
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Mit seinem jüngsten Buch legt Alfred Hiatt, mediävistischer Anglist aus London und exzellenter Kenner der mittelalterlichen Kartographie bzw. geographischer Vorstellungen ein herausforderndes Werk vor. Inhaltlich geht es ihm um eine spezielle Art der Raumdarstellung und -deutung, die von Unordnung und Dislozierung ("disorder and dislocation", 3) geprägt ist, womit letztlich intellektuelle Spielereien, literarische Finessen und geographische Vexierspiele gemeint sind, die sich in zahlreichen, geographische Fragen berührenden Quellen finden lassen. Hiatt stellt dies am Beispiel des europäischen Mittelalters dar, ohne jedoch zu behaupten, das Phänomen sei einzig für diese Epoche signifikant. Tatsächlich flicht er im Laufe des Werks Verweise auf jüngere Beispiele in seine Argumentation ein.
Ansatzpunkt für Hiatts Ausführungen ist die Rezeption antiken geographischen Wissens durch mittelalterliche Gelehrte, die häufig mit Lücken, Widersprüchlichkeiten oder auch schwer verständlichen Passagen in antiken Texten konfrontiert waren - oder, um es positiv zu wenden, mit der Lust antiker Autoren, mit Raumvorstellungen zu spielen. Insgesamt unterscheidet Hiatt vier verschiedene Arten von 'Dislozierung' (7-16): 1) Die Überlagerung ("superimposition") verschiedener Orte, wenn etwa das eigentlich in Jerusalem zu findende Heilige Grab an verschiedenen Plätzen nachgebaut wurde; 2) Exil und das In-der-Fremde-sein, wobei es um die Lokalisierung von Heimat für sich selbst, aber auch (auf spekulativer Ebene) für andere geht; 3) Translatio und mutatio, womit die Verschiebung oder Veränderung spezifischer geographischer Vorstellungen oder Orte gemeint ist; 4) Fehler, die immer wieder passieren können, wenn es etwa um die Identifikation von Orten geht; sie stören die jeweilige Ordnung, sind aber doch unvermeidbar.
Wenn Sie als Leserin und Leser sich nun fragen, worum es eigentlich in diesem Buch geht, sind Sie nicht alleine: Der Rezensent stellte sich die Frage ebenso, wie ein fiktiver Gesprächspartner des Autors, den Hiatt hier und da mit Rückfragen und Bemerkungen zu Wort kommen lässt. Dies, so Hiatt, habe sich beim Schreiben des Buches quasi organisch ergeben, um spezifische Probleme direkt diskutieren zu können (IX). Dies ist zweifellos eine innovative und frisch daherkommende Schreibform, die eine Schwierigkeit des Buches selbst klar benennt: Wiederholt fragt der fiktive Leser, was "dislocation" nun eigentlich bedeute (7, 17f. und 281: "one feels compelled to ask, once again: what is dislocation? You haven't really explained it."). Hiatt antwortet mit Erläuterungen, aber keiner klaren Definition, weil man damit der Fluidität des Untersuchungsgegenstandes nicht gerecht werde (281). 'Dislozierung' sei ein markantes Phänomen in vielen Quellen, für das die mittelalterlichen Zeitgenossen selbst aber keinen Begriff gehabt haben. Als moderne Analogie bietet Hiatt hier die "Mischbildungen" aus Sigmund Freuds Traumdeutung an, womit die Besonderheit gemeint ist, dass sich Räume, Personen und Objekt in Träumen überlagern können: Die oder der Träumende wähnt sich zum Beispiel in Rom, befindet sich aber in Prag (281f.).
Inhaltlich analysiert Hiatt das Phänomen in acht Kapiteln, die sich jeweils spezifischen Texten oder Kontexten widmen, deren konkrete Auswahl leider nicht erläutert wird und daher eher eklektisch wirkt. Nach der Einleitung thematisiert Kapitel 2 Modelle räumlicher Repräsentation antiker Autoren; am Beispiel von Plinius führt Hiatt aus, wie dieser nicht nur die Wandelbarkeit geographischen Wissens betonte, sondern in seiner 'Naturkunde' auch ältere mit neuen Informationen kombinierte und mitunter Städte in Italien anführte, die es gar nicht mehr gab. Diese "dislocative manoeuvres" (33) haben spätere Autoren geerbt, was an den geographischen Exkursen Solinus' und Orosius' ausgeführt wird: Diese änderten die Struktur, anhand der sie das geographische Wissen erläuterten, sorgten sich jedoch nicht um dessen Aktualität. Dennoch wussten Gelehrte wie Isidor von Sevilla sehr wohl um die Wandelbarkeit von Orten und Namen - Geographie war ein spatiales und gleichermaßen temporales Konzept.
Das dritte Kapitel greift anhand von Vergils Aeneis und Ovids Beschreibung des Trojanischen Kriegs auf die 'Dislozierungs'-Art des 'Exils' zurück. In diesen - wie auch anderen antiken - Werken habe geographisches Wissen eine bedeutende Rolle für die Erzählung gespielt. Im Mittelalter wurden solche Werke daher nicht zuletzt als Wissensquelle rezipiert, ausgiebig kommentiert und auch erzählerisch ausgestaltet. Im dritten Buch der Aeneis wird berichtet, wie Aeneas seine Heimat verließ, um eine neue zu finden - deren Lokalisierung jedoch noch unklar war. Aeneas versucht also Städte neu zu gründen, die mitunter schon existieren, schon einen Namen hatten. Hiatt führt aus, dass etwa der Aeneis-Kommentar des Servius (Rom, 4. Jahrhundert) dies als gezieltes Spiel Vergils mit den sich wandelnden Grenzen des Römischen Reichs gedeutet habe. Später führten sich zahlreiche Völker und Familien auf die Trojaner zurück und machten sich hierfür die Vielschichtigkeit geographischer Informationen in der Aeneis zu Nutze. Petrarca wiederum habe versucht, die verschiedenen Orte der Aeneis klar zu identifizieren und im Klagen über die Schwierigkeit dieses Unterfangens einen "mini-essay on spatial dislocation" (60) verfasst.
Bei der Lektüre wird deutlich, wie sich das Thema geographischer Mehrdeutigkeiten, die Hiatt als 'dislocations' fasst, als roter Faden durch die Kapitel zieht. Kapitel vier greift die geographischen Exkurse in Lucans Bellum civile sowie das enorme mittelalterliche Interesse an diesen auf; Kapitel fünf thematisiert unter den Schlagwörtern mutatio und translatio die Wandelbarkeit und Übersetzbarkeit von Ortsbezeichnungen am Beispiel von Weltkarten (Ebstorfer und Hereforder Weltkarten sowie Ortelius' Karte des Römischen Reichs von 1571/79); Kapitel sechs überträgt dies auf migrierende Gruppen, die als ethnisch konsistent aber räumlich mobil gedacht wurden (wobei der Exodus der Israeliten aus Ägypten sowie das Schicksal der Thebanischen Legion unter Mauritius als Beispiele dienen); Kapitel sieben geht noch genauer auf die sprachliche Vielschichtigkeit mittelalterlicher Karten ein, die manche Toponyme auf Latein, andere wiederum in Vernakularsprachen anführten; Kapitel acht widmet sich den kartographischen Experimenten des Opicinus de Canistris († 1353), der - von psychischen und physischen Problemen gepeinigt - eine Reihe bemerkenswerter anthropomorpher Karten produzierte, die den Mittelmeerraum als Ausgangspunkt nahmen, diesen jedoch auf einer weiteren Ebene mit anderen Räumen überblendete (etwa einen Plan seiner Heimatstadt Pavia); Kapitel acht nimmt die Adaptionen der Ebstorfer Weltkarte durch Gulammohammed Sheikh in den Blick, der zwischen 2003 und 2004 seine "mappamundi suites" schuf, 14 Bilder, die die berühmte Weltkarte aufgriffen und um sie herum Elemente der Geschichten Majnuns, Maria Magdalenas und Franziskus platzierten. Das Fazit lässt schließlich den fiktiven Leser erneut zu Wort kommen und sechs Fragen an den Autor richten, die zum Beispiel erneut das Konzept, die Rolle Jerusalems oder die Bedeutung moderner Raumtheorien für das Buch hinterfragen.
Hiatt gelingt es, auf eine besondere Ebene der Raumdarstellung und -deutung hinzuweisen, die vielleicht nicht für das Mittelalter spezifisch ist, jedoch in dieser Zeit besondere Ausprägungen erfuhr - wenn auch eher auf der Ebene einzelner Werke und Autoren und nicht als durchgängig prägendes Konzept: Orte und Regionen wurden nicht zwangsläufig (nur) als Fixpunkte im Raum gesehen, sondern konnten als zeitlichem, politischem und geographischem Wandel unterworfene, in sich selbst wandelbare und mehrdeutige Phänomene aufgefasst werden. Dies herausgestellt zu haben, ist das Verdienst von Hiatts Studie, die zu weiterem Nachdenken anregt. Wünschenswert wäre es gewesen, genauer auf die Reichweite und die Grenzen dieser Art geographischen Denkens einzugehen. Auch die Kritik des fiktiven Lesers, dass die Analysen aufgrund der fehlenden Erklärung des Kernkonzepts "sketchy, rootless - dislocated" (281) bleiben, ist nicht von der Hand zu weisen. Hier hätte es Hiatt seinen Leserinnen und Lesern sicher einfacher machen können.
Christoph Mauntel