Fabrizio Titone (ed.): Disciplined Dissent in Western Europe, 1200-1600. Political Action between Submission and Defiance (= Late medieval and early modern studies; Vol. 29), Turnhout: Brepols 2022, 356 S., eine Kt., ISBN 978-2-503-59828-4, EUR 95,00
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Kim M. Phillips: Before Orientalism. Asian Peoples and Cultures in European Travel Writing, 1245-1510, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2014
Jaroslav Svátek: Prier, combattre et voir le monde. Discours et récits de nobles voyageurs à la fin du Moyen Âge, Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2021
Alfred Hiatt: Dislocations. Maps, Classical Tradition, and Spatial Play in the European Middle Ages, Toronto: Pontifical Institute of Mediaeval Studies 2020
Dem hier anzuzeigenden Band geht es um Formen gewaltlosen Protests in Westeuropa zwischen 1200 und 1600, die in zehn Fallstudien sowie einer Einleitung und einem Fazit untersucht werden.
In der substantiellen Einleitung (7-47) stellt der Herausgeber, Fabrizio Titone, das titelgebende Konzept des "disciplined dissent" ausführlich vor und definiert es gleich eingangs wie folgt: "Unter diszipliniertem Dissens versteht man den Prozess, der mit der Durchführung friedlichen Protests verbunden ist, bei dem Personen mit abweichender Meinung das kulturelle Repertoire von Autoritätspersonen aufgreifen und nutzen können, um weniger bedrohlich zu wirken und überzeugender zu sein." (7, eigene Übersetzung). Es geht also um Formen von Protest, mit denen sich spezifische Gruppen gegen soziale Exklusion wehrten und auf mehr politische Beteiligung drängten - exzeptionelle gewaltsame Aufstände bleiben damit bewusst außen vor. Stattdessen rücken die "Wechselwirkung und gegenseitige Beeinflussung zwischen Herrschern und Beherrschten" (7) in Form von alltäglichen Konflikten in den Blick, die, so Titone, deutlicher als gewaltsame Aufstände Strategien gruppenbezogener Organisation aufzeigen können. Mitunter sei für die Akteurinnen und Akteure eine solche Form des Dissens erfolgreicher gewesen als die offene Konfrontation.
Enrico Faini (49-74) nimmt in seinem Beitrag die italienische Kommune San Gimignano in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in den Blick und kann auf der Grundlage von Ratsprotokollen und Petitionen zeigen, dass Handwerker und Kleinhändler durchaus politisch tätig waren und ihre Positionen gegenüber dem Rat vertraten. Sie wussten um die Möglichkeiten politischer Beteiligung in ihrer Stadt und nutzten diese sehr gezielt. Faini kann nachweisen, dass die Positionen von Handwerkern und Kleinhändlern im Rat gehört wurden, auch wenn sie sich nur selten durchsetzen konnten.
Eine ähnliche Situation analysiert Alma Poloni in ihrem Beitrag (75-105), der sich auf Pisa in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts fokussiert. Nach einigen erfolglosen Versuchen der lokalen, in Gilden organisierten Handwerker schlossen sich diese ab in den 1360er Jahren mit einer Gruppe von Tuchproduzenten und -händlern zur Compagnia di San Michele zusammen und gewannen so deutlich höhere Durchschlagskraft. Zwar wurde die Compagnia mit der Einrichtung der Signoria unter Pietro Gambacorta 1370 aufgelöst, das Bündnis blieb aber dennoch eine wichtige Stütze für Gambacorta und konnte so eigene politischen Anliegen durchsetzen.
Wim Blockmans thematisiert die Strategien flämischer Textilarbeiter im 13. Jahrhundert, ihren Forderungen nach politischer Beteiligung und sozialer Besserstellung Gehör zu verschaffen (107-136). Als prägend sieht der Autor kollektive Aktionen, die häufig, aber nicht ausschließlich gewaltfrei waren. Hintergrund dafür ist die hohe Abhängigkeit Flanderns von externen Märkten und dynastischen Verbindungen sowie die Expansionsziele der französischen Krone - alles Umstände, die den Handel unter Druck setzten. Mit ihren Protesten konnten die Arbeiter durchaus Erfolge erzielen, so etwa die Organisation in Gilden oder Lohnerhöhungen. Das politische Monopol des Patriziats endete dann endgültig 1302, als der flämische Sieg in der Schlacht von Courtrai vor allem den Handwerkern und Arbeitern zu verdanken war.
Die politische Kommunikation zwischen der Metropole Florenz und den abhängigen Orten der Umgebung im Spätmittelalter untersucht Isabella Lazzarini (137-166). Die Analyse zahlreicher Briefe, u.a. von Lorenzo di Piero de' Medici, zeigt, dass man eine gemeinsame Sprache nutzte. So entsteht das Bild einer politischen Landschaft, die durch die Pluralität politischer Zentren geprägt war: Individuen wie Gruppen betonten sprachlich ihre Eigenständigkeit sowie ihre freiwillige Kooperation und konnten auf dem Verhandlungsweg so ihre Interessen und Rechte wahren, ohne dass aus Florentiner Sicht die Unterordnung in Frage gestellt wurde - gewaltsame Konflikte konnten so größtenteils verhindert werden.
Die Rolle des englischen Parliament im 13.-14. Jahrhundert analysiert Peter Coss (167-193). Zentral ist hier vor allem die Möglichkeit, Petitionen einreichen zu können, was zumindest theoretisch jedem Zugang zur Krone ermöglichte. Im frühen 14. Jahrhundert erlaubten Petitionen es mehreren Gruppen, ihre Beteiligungsmöglichkeiten im Unterhaus zu formalisieren und so Anschluss an die herrschende Elite zu finden. Gleichzeitig zeigt Coss die Grenzen des 'disziplinierten Dissens' auf, denn die Zugriffsmöglichkeiten der Commons im Parliament blieben doch beschränkt: Am Beispiel der Parteiabzeichen (badges) zeigt der Autor, dass die fortgesetzten Anträge auf Beschränkung und Verbot dieser Zeichen zwar gehört, aber kaum je effektiv umgesetzt wurden.
Genau hier setzt Hannah Skoda mit ihrem Beitrag an (195-221), der politische Erwartungen niederer Schichten im England des 14. Jahrhunderts thematisiert. Anhand von Petitionen, Predigten, politischen Gedichten und anderen Quellen stellt die Autorin heraus, wie durch Vorstellungen von politischer Einheit eine wachsende Nostalgie nach vermeintlich besseren Zeiten sowie der Wunsch nach Gerechtigkeit formuliert und an die Commons im Parliament adressiert wurde, jedoch kaum adäquat umgesetzt werden konnte. Der weitreichende gewaltsame Aufstand von 1381 könnte so als Zeichen für das Scheitern des politischen Beteiligungsprozesses gedeutet werden.
Dass Obrigkeit und Bevölkerung tatsächlich aufeinander angewiesen waren und effizient miteinander kommunizieren konnten, zeigt Eliza Hartrich in ihrem Aufsatz (223-246), der politische Aushandlungsprozesse in englischen Städten in den Blick nimmt. Diese fußten stark auf der für die Legitimierung der Obrigkeit notwendigen Präsenz breiter Bevölkerungsteile bei ritualisierten Festen und Treffen. Als im Coventry des 15. Jahrhunderts Handwerksgilden klagten, sie könnten sich die aufwendigen öffentlichen Fronleichnamsspiele nicht mehr leisten, zwangen sie die Obrigkeit letztlich dazu, für eine finanzielle Besserstellung zu sorgen, weil ein Ausfall der Vorführungen die Legitimation der herrschenden Elite in Frage gestellt hätte.
Um das Recht auf Selbstverteidigung südfranzösischer Bauern geht es Vincent Challet (247-268). Im Rahmen des Hundertjährigen Krieges wurden ländliche lokale Gemeinschaften wiederholt Opfer sowohl regulärer Truppen als auch plündernder Banden - ein Problem, das der König nicht lösen konnte und auf das man daher vor Ort mit gewaltsamer Gegenwehr reagierte, allerdings gegen jegliche Übergriffe, d.h. mitunter auch gegen Krieger mit königlichem Auftrag. Die ländliche Bevölkerung machte dabei klar, dass es ihr um das Allgemeinwohl (bien commun) ging, und nicht um Widerstand gegen die Krone. 'Diszipliniert' sei diese Praxis, so Challet, weil sie sich auf den Leitwert der Gerechtigkeit berief und der König um Billigung gebeten wurde.
Mit einem Blick auf das spätmittelalterliche Catania zeigt Fabrizio Titone, wie verschiedene marginalisierte Gruppen sich zusammenschlossen, um an politischem Gewicht zu gewinnen (269-306). Einfache Arbeiter und Handwerker teilten eine gewisse Frustration, da sie Missstände aus erster Hand erlebten, politisch jedoch keine Mitsprache hatten. Titone weist nach, wie sich beide Gruppen verbanden und dann mit lokalen Notaren und Konsuln ein festeres Bündnis eingingen. Dieser Zusammenschluss sicherte den Gruppen Gehör, sowohl innerhalb der Stadt als auch gegenüber dem aragonischen König. Durch Kooperation erreichte man hier Besserungen, so etwa eine eigenständigere Organisation sowie eine Beteiligung am Stadtregiment.
Martin Ingram wirft abschließend einen Blick auf Geschlechterrollen in den Diözesen London und York im 15. Jahrhundert (307-341). Obwohl Ehefrauen der zeitgenössischen Auffassung nach ihren Männern gehorchen sollten und den Männern das Recht auf Disziplinierung ihrer Frauen zugebilligt wurde, konnten Frauen durch Nachbarschaftshilfe sowie Appelle an Friedensrichter übergriffigen Männern Grenzen setzen. Sowohl geistliche als auch säkulare Richter sahen eine Störung der öffentlichen Ordnung, wenn die eheliche Zuneigung nicht mehr gewährleistet schien. Diese liberale Auslegung der Gesetze endete jedoch um 1590, als v.a. die klerikale Seite aus Angst vor einer Schädigung des Sakraments der Ehe eine konservativere Auslegung durchsetzte.
Die Beiträge des Sammelbandes bewegen sich durchweg auf hohem Niveau und arbeiten erkennbar mit dem titelgebenden Konzept des 'disziplinierten Dissens' - es ergibt sich also das erfreuliche Bild eines sehr kohärenten Bandes. Der Blick auf politische Aushandlungsprozesse und Protestmöglichkeiten unterhalb der Gewaltschwelle ist dabei grundsätzlich eine wertvolle Bereicherung der Forschung, die diese Ebene der politischen Kultur oft außen vor gelassen hat. Die These, dass sich die in den Beiträgen des Bandes vorgestellten Phänomene wirklich am besten mit dem etwas umständlichen Konzept des 'disziplinierten Dissens' fassen lassen, überzeugt den Rezensenten nicht ganz: Ist denn jede von der Obrigkeit abweichende Meinung gleich als Dissens oder Protest zu fassen? Die Lektüre des Bandes zeigt eher, dass es breite Möglichkeiten der gewaltfreien politischen Partizipation gab, von formellen Wegen der Beschwerde über informellere Kooperationen um Druck auszuüben bis hin zu kollektiven Formen der Verweigerung - diese Wegen waren entweder innerhalb der jeweiligen politischen Ordnung möglich oder weiteten deren Grenzen gezielt aus und können so womöglich gar als konstitutiv für vormoderne politische Systeme gelten. 'Diszipliniert' ist dieses politische Handeln eigentlich nur dann, wenn man den gewaltsamen Aufstand als stets drohende, undisziplinierte Eskalation sieht - ein Bild, das die neuere Forschung jedoch vielfach widerlegt hat. [1]
Anmerkung:
[1] Vgl. etwa Justine Firnhaber-Baker / Dirk Schoenaers (Hgg.): The Routledge History Handbook of Medieval Revolt, Abingdon 2017.
Christoph Mauntel