Inger N.I. Kuin / Jacqueline Klooster (eds.): After the Crisis. Remembrance, Re-anchoring and Recovery in Ancient Greece and Rome, London: Bloomsbury 2020, IX + 265 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-1-350-12855-2, GBP 85,00
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Jacqueline Arthur-Montagne / Scott J. DiGiulio / Inger N.I. Kuin (eds.): Documentality. New approaches to written documents in imperial life and literature, Berlin: De Gruyter 2022
Tamara M. Dijkstra / Inger N.I. Kuin / Muriel Moser et. al. (eds.): Strategies of Remembering in Greece under Rome (100 BC - 100 AD), Leiden: Sidestone Press 2017
Krisensituationen versetzten Gesellschaften in Stress, erzeugen höchste öffentliche Aufmerksamkeit, generieren Handlungsdruck und setzen bekannte Handlungsabläufe zuweilen außer Kraft. Oft folgt ein suchender Blick in die Vergangenheit, um vermeintlich erfolgreiche Konzepte zur Krisenbewältigung zu finden. Die Anwendung des wenig präzisen Krisenbegriffs auf die klassische Antike, bzw. die Narrative von Krisen, ihr Nachleben in der Überlieferung zu erfassen, ist Ziel des von Jacqueline Klooster und Inger N.I. Kuin publizierten Bandes, der aus einer von der Initiative "Anchoring Innovation" an der niederländischen Nationalen Forschungsschule für Klassische Studien (OIKOS) finanzierten Tagung hervorgegangen ist.
Der Titel des Buches verrät, dass es um Krise in der Retrospektive, um Reaktionen, Überwindungen und Formen des Erinnerns geht. Das Buch ist in fünf Abschnitte eingeteilt, wobei 'Part One' als Ausgangsbasis für die folgenden Studien dient. Ausgehend von Reinhart Kosellecks Arbeiten zum 18. und 19. Jahrhundert und seinem kritischen Résumé, dass es sich um ein kaum an Präzision und Klarheit gewinnendes Konzept handele, fassen Klooster und Kuin 'crisis' als ein Konzept mit eigener Geschichte auf, das über ein großes Erkenntnispotential für (zuvor akzeptierte) Ordnungen antiker politischer Systeme verfügt.
Die Bedeutung von Begriffen unterliegt Wandlungsprozessen. So griffen antike Autoren auf alternative Termini zur Bezeichnung außergewöhnlicher, epochaler Ereignisse zurück, zum Beispiel auf 'stasis' / Bürgerkrieg, bzw. auf 'res novae', 'discordia', 'bellum civile'. (5)
Tim Whitmarsh fragt, inwiefern sich moderne Konzepte von "Krise" und "Revolution" auf antike Begebenheiten anwenden lassen. Überzeugend widerlegt er die im westlichen Denken hartnäckig vertretene Vorstellung eines zyklischen Zeitverständnisses in der Antike und eines erst in der Moderne folgenden linearen, fortschrittlichen Denkens. Gegen den angeblichen Konservatismus der antiken Griechen lassen sich "revolutionäre" Entwicklungen in den Bereichen Literatur, Kunst und Technik feststellen, die von den Zeitgenossen mit einem "superior socio-political set-up" erklärt wurden (19). Neuerungen, radikale Trendwenden, Umstürze, heute oft als "Revolution" charakterisiert, waren ihnen nicht fremd. Es handelte sich um fortschrittliche Stadien innerhalb einer linearen Entwicklung menschlicher Zivilisation. Mit einem neu auf den politischen Bereich übertragenen Terminus für Ruhe und Frieden nach Umwälzungen, nach den Bürgerkriegen der ausgehenden römischen Republik befasst sich Michèle Lowrie. "Securitas", ursprünglich auf den Zustand der Ruhe der Seele durch Philosophie bezogen, gehörte zum politischen Programm des Augustus. Seine Regentschaft sollte die Sicherheit der Bürger im Reich gewährleisten.
In 'Part Two' dokumentiert Lisa Irene Hau am Beispiel von Fragmenten aus den Werken von Duris und Phylarchus, zweier 'tragischer Historiker', wie aus der Perspektive der Unterlegenen Athens Hegemonialpolitik als brutale Unterdrückung und somit als Krise erinnert wurde. Beide verfolgten mit ihren respektiven, von Emotionen geprägten Darstellungen didaktische Ziele, indem sie Solidarität mit den Opfern zu lehren beabsichtigten und vor vergleichbaren Fehler warnten. Ähnliches erkennt Andrew Erskin in Polybios' kontrafaktischen Fragestellung, ob etwas Anderes hätte geschehen können und die Eroberung durch Rom vermeidbar gewesen wäre, hätte man einen anderen Kurs eingeschlagen.
Die folgenden Kapitel widmen sich ganz dem Bürgerkriegsgeschehen des 1. Jahrhunderts v. Chr. Alexandra Eckert legt ihren Ausführungen zu Sullas Proskriptionen das Konzept von Vierhaus und die Erläuterung eines kulturellen Traumas durch den Soziologen Jeffrey C. Alexander zugrunde. Welchen Druck, welche Nachwirkungen das kulturelle Trauma der 'Sulla-Krise' erzeugte, erläutert sie eindrücklich am Beispiel des Bürgerkriegs Caesars und der Proskriptionen durch die Triumvirn 43 v. Chr. Annemarie Ambühl gibt einen Einblick in die Vielschichtigkeit möglicher Interpretationen der Epik Lucans, die nicht nur 'dramatische Vergegenwärtigung' von Bürgerkriegen, sondern 'alternative futures' biete (105). Ihre absolut schlüssigen Ausführungen enthalten abermals den Verweis auf die Zukunft, auch wenn der Autor Lucan am Ende eine düstere Prognose nicht endender Bürgerkriege aufzeigte.
Während Luca Grillo die argumentativen Stärken in Caesars 'Bellum Civile' herausstellt, ein Beispiel dafür, sich durch den Rückgriff auf Thukydideische Motive vom Verdacht des stasis-, somit Krisen-Verursachers reinzuwaschen, erläutert Carsten Hjort Lange, wie es Caesar gelang, nach den Siegen bei Actium und Alexandria Frieden herzustellen sowie die Bemühungen, diesen zu sichern. Es handelt sich um einen sehr anregenden Beitrag, da er auch von zeitgenössischen politikwissenschaftlichen Ansätzen und modernen Kriegs-Studien ausgeht. Bei Mathieu de Bakker stehen die narrativen Strukturen im Vordergrund, wenn er die fiktive Rede Agrippas bei Cassius Dio in die Tradition der Verfassungsdebatte in den Historien Herodots einreiht. Die letzten beiden Beiträge widmen sich den Auswirkungen des Bürgerkrieges auf Familien als der zentralen Institution der römischen Gesellschaft. Josiah Osgood und Andreas Niederwieser erörtern die Frage der Rehabilitation und gesellschaftlichen Integration bekannter Familien, die in der Zeit des römischen Bürgerkrieges auf Seiten der Verlierer standen. Andrew Gallia geht abschließend auf den durch Bürgerkriege ausgelösten Wandel des Verständnisses von Familie als gesellschaftliche und rechtliche Institution ein. Allerdings stehen in beiden Aufsätzen Familien der Oberschicht im Fokus, die kaum einen Eindruck von der gesamtrömischen Gesellschaft widerspiegeln.
Wie in der Einführung angekündigt werden Ausbildungen von "Krisen"-Narrativen in der literarischen Überlieferung griechischer und römischer Autoren berücksichtigt. Traumata solcher Bürgerkriegserfahrungen, Möglichkeiten gesellschaftlicher Stabilisierung, innovative Potentiale und Perspektiven für die Zukunft stehen in den insgesamt hervorragenden Einzelstudien im Vordergrund. Methodisch verfolgen die Autoren weder einen rein positivistischen noch einen absolut konstruktivistischen Ansatz, was gewinnbringend für weitere Beschäftigungen mit dem Thema "Krise" ist. Der einleitende Hinweis auf die vielfältige Verwendung des Krisen-Begriffes, der wie viele andere Termini einem Bedeutungswandel unterliegt, erklärt die inhaltliche Eingrenzung der behandelten Themen, führt jedoch dazu, dass der Titel des Bandes nicht hält, was er verspricht. Die inhaltliche Unausgewogenheit zeigt sich darin, dass sich die Beiträge auf politische Krisen, in ihrer die Mehrzahl auf Bürgerkriegssituationen in der Römischen Republik des 1. Jahrhunderts v. Chr. konzentrieren. Eine der methodischen Grundlage folgende vergleichende Analyse politischer Krisen der frühgriechischen Zeit, des 3. Jahrhunderts n. Chr. oder der Spätantike könnte weitere wichtige Erkenntnisse für die eingangs gestellten Fragen bieten. Was die Auswahl der Forschungsliteratur betrifft, so hätten neben Koselleck weitere Definitionen eines für die Politikwissenschaften zentralen Terminus oder methodische Zugänge berücksichtigt werden können. Zu denken ist beispielsweise an die Arbeiten des Sonderforschungsbereichs 923 'Bedrohte Ordnungen' der Universität Tübingen. Eine Zusammenfassung hätte etwa als gemeinsame Nenner, das Erkennen fortschriftlicher Entwicklungen, die mit didaktischen Ambitionen verbundenen Perspektiven für eine mögliche Zukunft, ob düstere oder 'alternative futures' aufzeigen können.
Helga Scholten