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Robert Davidsohn: Menschen, die ich kannte. Erinnerungen eines Achtzigjährigen, Berlin: Duncker & Humblot 2020, 903 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-428-15716-7, EUR 119,90
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Rezension von:
Wolfgang Hardtwig
München
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Wolfgang Hardtwig: Rezension von: Robert Davidsohn: Menschen, die ich kannte. Erinnerungen eines Achtzigjährigen, Berlin: Duncker & Humblot 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 10 [15.10.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/10/35509.html


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Robert Davidsohn: Menschen, die ich kannte

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Die vorliegende Edition gilt einem Mann, dessen Name kaum bekannt ist, der aber in mehrfacher Hinsicht Aufmerksamkeit verdient: Robert Davidsohn. Dieser entstammte einer deutsch-jüdischen Familie, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen rapiden Aufstieg erlebte. Als zeitweiliger Mitarbeiter, Herausgeber und Besitzer des von seinem Bruder George 1868 gegründeten "Berliner Börsen-Couriers" hatte Robert Davidsohn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts teil an einer der wesentlichen Innovationen des Berliner Pressewesens, wählte aber mit 35 Jahren die Lebensform eines Privatgelehrten in Florenz und schrieb neben vielem anderen eine bedeutende vierbändige "Geschichte der Stadt Florenz im Mittelalter" (erschienen 1896 bis 1927). Kontaktbedürftig und umgänglich betrieb Davidsohn eine weitreichende Korrespondenz und bewegte sich polyglott in den führenden Salons und geselligen Kreisen in Florenz, Rom und - während des Ersten Weltkriegs - München. Vielleicht am besten unter allen deutschen Gelehrten in Italien gelang ihm die Integration in die lokale Gesellschaft und zeitweilig sogar in die Kulturpolitik. Nach einer schweren Krankheit schrieb Davidsohn als 79-Jähriger ab Mitte 1932 in kurzer Zeit seine Autobiografie nieder. Lange war diese verschollen, konnte aber von der Mitherausgeberin und Bearbeiterin Wiebke Fastenrath Vinattieri im Zusammenwirken mit einem Nachfahren Davidsohns aufgespürt werden; jetzt liegt sie in der gemeinsam mit Martin Baumeister und Wolfram Knäbich verantworteten Edition vor.

Die Einleitung umreißt den Lebensweg und Lebensstil Davidsohns, seine Teilnahme am gelehrten und öffentlichen Leben, seine persönlichen und politischen Positionen und Stellungnahmen, seine wissenschaftliche Leistung und seine in mancher Hinsicht exzentrische Situation als jüdischer Aufsteiger in der deutschen Gesellschaft mit großer Kompetenz. In ausführlichen Fußnoten erläutert die Edition Davidsohns gesellschaftliche Kontakte bis ins Detail, das Orts- und vor allem das Personenregister mit informativen Kurzbiografien erschließt den Text sorgfältig und engmaschig - was umso wichtiger ist, als dessen besondere literarische Form eine durchgängige Lektüre nicht eben erleichtert. Der von Davidsohn selbst gewählte Titel "Menschen, die ich kannte" kennzeichnet das organisierende Prinzip dieses Lebensrückblicks präzise. Sein Verfasser erzählt streng chronologisch, wen er wann und unter welchen Umständen getroffen hat und was dabei gesprochen wurde. Wenn es für jüdische Autobiografien im Jahrhundert der Emanzipation als charakteristisch gelten kann, dass sie primär aus dem Familiengedächtnis heraus berichten, so wandelte Davidsohn diesen Typus zu einem "Bildungsroman" als Aufstiegs- und Erfolgsgeschichte ab, in dem die Partizipanten des ins schier Unendliche erweiterten Kreises seiner Soziabilität die Stelle der Familienmitglieder einnehmen. So präsentiert der Text für den Zeitraum von 1853 bis 1937 eine Galerie von Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik, europäischem Adel und - vorrangig deutschem und italienischem - Gelehrtentum sowie aus Künstlern und Literaten. Diese baut auf einer Topografie der Bildungs- und Erholungsorte der bürgerlich-adligen Oberschicht zwischen Berlin und Rom, Florenz und München, Heidelberg und Zürich, Pontresina und Neapel auf und schildert die Personen in ihren (Sprach-)Handlungen, ergänzt durch Informationen über ihre Bedeutung und Leistung, ihre Familienzusammenhänge und gesellschaftliche Verortung. Davidsohns Stil ist etwas altväterisch-gravitätisch, der Leser muss aufpassen, dass er nicht durch den gleichmäßigen Fluss der Sprache über die zahlreichen detaillierten, anteilnehmenden oder auch scharf konturierenden Charakterzeichnungen hinweggetragen wird. So gibt es subtile Charakterschilderungen zu Richard Wagner und seinem Kreis, zu dem Robert und vor allem sein älterer Bruder George Davidsohn gehörten, zu Magnaten der Kunstpolitik und -förderung wie Wilhelm von Bode, Eduard Arnhold, James Simon und Ferdinand Freiherr von Stumm, zu markanten Persönlichkeiten des Adels wie dem linksliberalen Reichstagsabgeordneten Franz Freiherr von Stauffenberg und dem Prinzen Ernst von Meiningen sowie zu zahlreichen wohletablierten, aber auch außenseiterischen Freunden und Bekannten wie Ferdinand Gregorovius, Theodor Mommsen, Alfred Doren, Hermann Cohen, Ludo Moritz Hartmann und Franz Brentano. Im Wechsel damit findet sich vor allem für die Frühzeit eine Fülle knapper und aufschlussreicher, mitunter beißender Bemerkungen zu Künstlern und Wirtschaftsbürgern wie dem Erfolgsautor Berthold Auerbach, dem Erzähler und Feuilletonisten Friedrich Spielhagen, dem Maler Anton von Werner, dem Lyriker Rainer Maria Rilke oder dem Industriellen Walther Rathenau. Hier macht sich noch die journalistische Ader bemerkbar, die Davidsohn auch nach dem Ausscheiden beim "Börsen-Courier" immer wieder zu kenntnisreichen Zeitungsartikeln animierte.

An vielen Stellen erweitert sich die Abfolge von persönlichen Begegnungen zu aufschlussreichen Beschreibungen historisch bedeutsamer oder symptomatischer Ereignisse und Zustände: etwa bei den Ausführungen über die Festivitäten zur Vollendung des Kölner Doms 1880 und über die Begräbnisfeierlichkeiten für Wilhelm I. 1888; in den Passagen zu den Stimmungsumschwüngen der öffentlichen Meinung in Italien, der Schweiz und Deutschland bei Ausbruch und Ende des Ersten Weltkriegs; zu der ihn persönlich betreffenden Verfeindung zwischen den italienischen und deutschen Gelehrten infolge des Kriegs, oder zur plötzlich bei adligen Damen auftretenden Mode eines hemmungslosen Antimonarchismus im Herbst 1918 in München. Breit schildert Davidsohn die auch in politiknahen Kreisen vielfach herrschende völlige Ahnungslosigkeit über den wirklichen Stand des Kriegs, den Januarstreik und die ersten Tage der Revolution 1918 in München. Nach dem Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland weicht der milde Ton des Rückblicks einer tagebuchartig gedrängten und emotionalisierten Schilderung der Schicksale der Emigranten, die auch in Davidsohns Florentiner Haus zeitweilige Unterkunft und tröstende Gespräche suchten. In dieser Perspektive liest sich sein Lebensrückblick plötzlich wie ein Beitrag zu einer umfassenden Geschichte der Entfremdung und Entfernung des politisch bewussten Teils der deutsch-jüdischen Bildungsschicht von beziehungsweise aus ihrem Vater- und Mutterland. Dem Alter und der verzweifelten Sehnsucht nach einem Gegenbild zu Adolf Hitler und dem offen antisemitischen Deutschland muss man wohl zuschreiben, dass Davidsohn zuletzt den "Duce" und seinen Abessinienkrieg 1935 in einer das Absurde streifenden Weise zu Trägern einer Art Kulturmission von europäischer administrativer, ökonomischer und politischer Rationalität in Afrika verklärte.

Der Antisemitismus spielt in Davidsohns Erzählung lange Zeit nur eine geringe Rolle, ehe er dann in den Ausführungen über die unmittelbare Zeitgeschichte dominant wird. In diesen Kontext gehört auch seine zwar erkennbar um Gerechtigkeit bemühte, gleichwohl weit übers Ziel hinausschießende Abrechnung mit dem Antisemitismus Jacob Burckhardts in dessen späten Briefen. Im Anhang III der Edition findet sich jedoch ein Notizbuch von 1888, in dem sich Davidsohn - wenn auch nicht öffentlich - an der mit dem Antisemitismusstreit 1879-1881 einsetzenden Debatte über das "Wesen des Judentums" beteiligt. Darin kritisiert er den Antisemitismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und sieht eine der Ursachen dafür im Verhalten und in der Kulturlosigkeit zahlreicher neureicher Juden. Ganz stimmig erscheint diese Philippika nicht, hatte doch Davidsohn mit seinem "Börsen-Courier" selbst zur Ausbreitung einer Kultur der Börsenspekulation beigetragen und war durch Anlagen und Börsenmanöver so wohlhabend geworden, dass er sich lange die Lebensform eines Privatgelehrten leisten konnte. Möglicherweise steht Davidsohns Auseinandersetzung mit wohlhabenden Juden in Zusammenhang mit seiner Konversion vom businessnahen Journalisten zum spätberufenen sowohl positivistisch-genauen wie um künstlerische Intuition und Darstellung bemühten Historiker, der sich der Mühe eines nachgeholten Geschichtsstudiums in Heidelberg unterzogen hatte. Davidsohns Bemerkungen werfen jedenfalls ein helles Schlaglicht auf ein Strukturmerkmal des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums in seiner Blütezeit: den mehr oder weniger scharfen Bruch mit dem ökonomischen Erfolg und dem neureichen Habitus, der sich in Davidsohns Fall nicht zwischen ihm und der Väter- und Großvätergeneration, sondern - gut vernarbt - in ihm selbst vollzieht.

Als politisch-kulturell aufmerksamer und literarisch aktiver Zeitgenosse gibt Davidsohn mit seiner Autobiografie für den gesamten Zeitraum seines langen Lebens wesentliche Aufschlüsse zu Mentalität und Verhaltensweisen der adlig-bürgerlichen Oberschicht in Deutschland und Italien, zur Geschichte des Judentums, zu den politischen Umbrüchen und Stimmungslagen, vor allem aber zu den Bedingungen, Formen und Problemen des Privatgelehrtentums, das in seiner Epoche zur Blüte der deutschen Kulturwissenschaften so wesentlich beigetragen hat. Gespannt kann man daher auf die unmittelbar vor der Veröffentlichung stehende digitale Edition des aufschlussreichen Tagebuchs von Davidsohn im Ersten Weltkrieg durch Wolfram Knäbich sein, die - wie auch die hier besprochene Edition seiner Autobiografie - im Rahmen der Reihe "Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts" der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erscheinen wird.

Wolfgang Hardtwig