Jan Martin Lies (Hg.): Wahrheit - Geschwindigkeit - Pluralität. Chancen und Herausforderungen durch den Buchdruck im Zeitalter der Reformation (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Abendländische Religionsgeschichte; Beiheft 132), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 368 S., 23 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-56037-2, EUR 110,00
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Die drei Signalworte des Titels zeigen, welchen angenommenen Wechselwirkungen zwischen Buchdruck und Reformation die Aufsätze dieses Bandes nachgehen: Die Wahrheit wurde fraglich, bisher nicht Bezweifeltes in Frage gestellt; die Geschwindigkeit der Informationenverbreitung überraschte, die Inhalte mobilisierten breite Bevölkerungsschichten und differenzierten das Meinungsspektrum. Das ist kein unbedingt neuer Ansatz, und man kann auch fragen, ob er nicht die vorreformatorische Welt statischer und einheitlicher erscheinen lässt, als sie war, und viele Beschränkungen der Meinungspluralität außer Acht lässt. Insgesamt ist der Wandel jedoch unbestreitbar, und (fast) jeder der Aufsätze eröffnet in dieser Hinsicht neue, oft bisher noch wenig beachtete Ausblicke.
Der Sammelband ist in drei große Abschnitte geteilt, wahrscheinlich analog zum Ablauf der Tagung, die er dokumentiert. Im ersten geht es im Wesentlichen um die Medien der öffentlichen Kommunikation. Dabei steht die Druckerpresse im Mittelpunkt, und die meisten Beiträge nennen neue Möglichkeiten, die sie als Medium eröffnete. Zum Beispiel konnte sich die akademische Lehre verändern, wenn die Studenten "durchschossene" Druckexemplare mit Leerzeilen für ihre Mitschriften nutzten, statt sich das betreffende Lehrwerk diktieren zu lassen (Stephan Füssel, 35). Lange vergessene Autoren wie Lukrez konnten sich wieder in die europäische Geistesgeschichte einschreiben (32). Gesangbücher trugen zur konfessionellen Profilierung bei (Andrea Hoffmann); Bildmedien konnten polemische Aussagen etwa zum Interim transportieren (Johann Anselm Steiger). Immer noch zu wenig bekannt ist, dass die Flugblätter, die man "Neue Zeitung" nannte, nicht nur der Propaganda dienen konnten, sondern auch und vor allem der sachlichen und verhältnismäßig schnellen, also aktuellen Information (Jürgen Wilke). Auch die enge Verbindung (und wechselseitige Wirkungsverstärkung) von Predigt und Druck (Henning P. Jürgens) oder von Buchdruck und grammatischer Beschreibung europäischer Volkssprachen (Claudine Moulin) verdient Aufmerksamkeit.
Erhellend, weil ambivalent, beleuchtet der Aufsatz von Bridget Heal die "Macht der Bilder" (so der Titel des Beitrags, 123) als Illustrationen von Bibeln und Katechismen auf protestantischer Seite. Denn diese Bilder konnten Langzeitwirkung ausüben, vielleicht sogar über Generationen hinweg, solange die Bibel oder der Katechismus im Besitz der Familie blieb. Die Illustrationen transportierten oft eigene theologische Botschaften, für die zum Teil Philipp Melanchthon die Anregung gegeben hatte. Diese Eigenständigkeit hatte aber zur Folge, dass die Bedeutung der Bilder den Laien vermutlich erklärt werden musste - was die Wirkung je nach Situation eingeschränkt oder verstärkt haben kann. Für die konfessionelle Gegenseite führt Klaus Unterburger aus, dass Übersetzungen der Bibel in die Volkssprachen auch die Frage aufwarfen, wer über die Korrektheit solcher Übersetzungen und damit über die Auslegung der Bibel zu entscheiden habe. Wie Unterburger betont, war es zu Luthers Zeiten noch eine neue und umstrittene Behauptung, dass eine geistliche Autorität, ob Papst oder Konzil, absolut bindend in Fragen der Bibelinterpretation entscheiden könne. "Es gehört zur Tragik der Geschichte, dass Luther in seinem römischen Prozess ausgerechnet" (179) mit Vertretern dieser Auffassung zusammentraf.
Im folgenden großen Abschnitt, der mit der Überschrift "Der Umgang mit Meinungsvielfalt" überschrieben ist, geht es um mögliche Zusammenhänge zwischen Medium bzw. Vermittlungsweg und den vermittelten Inhalten. Eike Wolgast stellt vor, wie die Edition von Lutherschriften - von unterschiedlichen Gesamtausgaben über Neu- und Nachdrucke bis zu sogenannten Lutherflorilegien - als Argument in den innerlutherischen Auseinandersetzungen diente. Unter dem Titel "Antichrist und Jüngster Tag" (Volker Leppin dürfte sich freuen) zeigt Martin Hille, dass es Endzeitbewusstsein und Zukunftsangst auch auf katholischer Seite gab. Im Mittelpunkt der Interpretation steht die niederdeutsche Chronik des Johannes Oldecop. Laut dem Beitrag Christian Volkmar Witts waren Luthers Lehre und Publikationstätigkeit neuartig in zweierlei Hinsicht: Er wandte sich bewusst an den "gemeinen Mann" (230) und damit zur Volkssprache; und er verstand das Verhältnis von Gott und Mensch in neuer Weise individualistisch, indem er auf die "individuelle[...] innerliche[...] Aneignung religiöser Gehalte" (231) Wert legte. Die Frage bleibt allerdings offen, ob das nicht jede christliche Mission tut und letztlich doch der Druck für Luthers große Wirkung ausschlaggebend war. Dass das zumindest sein könnte, verdeutlicht der anschließende Beitrag von Hans-Otto Schneider. Er erläutert anhand der Beispiele Flacius' und Melanchthons mögliche Strategien des Widerstands gegen das Interim. Flacius nutzte die Druckerpresse mit beträchtlichem Erfolg, um das Interim zu diskreditieren. Melanchthon strebte eine Kompromisslösung an und setzte dabei auf seine Verbindungen in politische und gelehrte Kreise, um "unter dem Radar der wirklich öffentlichen [d.h. gedruckt geäußerten] Meinung zu bleiben." (250) Allerdings kompromittierte ihn seine Position, sobald sie gedruckt wurde.
Der dritte Großabschnitt steht unter der Überschrift "Entstehung einer neuen Streitkultur". Dabei wird nicht immer deutlich, was das "Neue" war, und es geht auch nicht nur um Methoden und Ziele des Streitens, sondern auch um die Vermeidung von Streit durch normierende und zensierende Eingriffe. Irene Dingel sieht das Neue reformatorischer Religionsgespräche sozusagen in einer Verschiebung des Schwergewichts der Argumentation: Den Reformatoren kam es nicht auf die Befolgung einer bestimmten Methode an (die aristotelisch-syllogistische der Scholastik lehnten sie ab), sondern auf die maßgebende Autorität der Bibel. Diese Verschiebung bedeutete aber keinen grundsätzlichen Wechsel der Maßstäbe, und so konnten die sich etablierenden Konfessionen in der Mitte des Jahrhunderts durchaus ernsthaft um Konsens ringen. Erst "im Dienste der Gegenreformation" (266) soll das syllogistische Argumentieren wieder zu Ehren gekommen sein. Der Beitrag von Armin Kohnle verdeutlicht, dass die wichtigsten Etappen der politischen Auseinandersetzung um Luther, vor allem die Reichstagsabschiede und einige Dokumente der Reichstage, von Anfang an über den Druck die Leserschaft erreichten. Zwar betrieb das Reich selbst keine gezielte Informationspolitik, doch lag einzelnen Akteuren durchaus an der Veröffentlichung im Druck.
Der Herausgeber Jan Martin Lies lenkt in seinem Beitrag den Blick auf eine grundsätzliche Ambivalenz des Buchdrucks: Als Verbreitungsstruktur sorgte der Buchdruck einerseits für die Popularisierung dessen, was die Reformatoren als Wahrheit erkannt zu haben glaubten, und konnte sogar selbst als Mittel der Wahrheitsverbürgung angesehen werden. Andererseits erlaubte er auch die Verbreitung als falsch angesehener Aussagen und beförderte damit eine Pluralisierung, die niemand eigentlich gewünscht oder gewollt hatte.
Gleichsam im Anschluss an diese Überlegungen befassen sich die drei letzten Beiträge mit Versuchen, Pluralisierung zu verhindern und Einheitlichkeit im Denken oder Handeln herzustellen. Allerdings verwickelten sich viele der dabei Handelnden in Widersprüche, wie die Beiträge instruktiv zeigen. Hans-Peter Hasse macht einen solchen Widerspruch am Beispiel des Jenaer Theologen Matthäus Judex deutlich. Er wurde entlassen und der Stadt verwiesen, weil er in einer Schrift die gewaltsame Unterdrückung und Auslöschung der römisch-katholischen Kirche gefordert hatte. Dennoch oder gerade deshalb sah er die Zensur von Schriften grundsätzlich als legitim an und verteidigte das Recht der (protestantischen) Theologen auf Bücherzensur zur Beförderung der Ehre Gottes. Stefan Michel stellt Verhaltensweisen vor, mit denen Laien in den ersten Jahren der Reformation ihre Unzufriedenheit mit den kirchlichen Zuständen und vor allem den Predigten artikulieren konnten, aber auch die Versuche der sich etablierenden protestantischen Kirchen, solche Verhaltensweisen zu unterbinden, wenn sie geeignet waren, reformatorische Gottesdienste zu stören. Markus Müller schließlich zeigt, wie die Schriften des Mainzer Franziskaners Johann Wild redigiert wurden, weil die katholische Kirche nicht auf sie verzichten wollte, obwohl sie die (reformatorischen) Quellen ablehnte, aus denen Wild zum Teil geschöpft hatte.
Die Sammlung ist lesenswert und in vielen Einzelheiten erhellend; man muss allerdings über einige Druck- und Satzfehler hinwegsehen können.
Esther-Beate Körber