Jan Erik Schulte: UN-Blauhelme. Kanada und die Politik des Peacekeepings im 20. Jahrhundert (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 104), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, 521 S., 8 Farb-, 18 s/w-Abb., 4 Tbl., ISBN 978-3-506-78780-4, EUR 64,00
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Am 29. September 1988 zeichnete das Osloer Nobelpreiskomitee nicht wie sonst häufig eine Einzelperson oder Organisation im engeren Sinne aus. Den Friedensnobelpreis erhielten damals die "United Nations Peacekeeping Forces", besser bekannt als UN-Blauhelme oder "Friedenstruppen" der Vereinten Nationen, in Anerkennung ihrer zahlreichen Einsätze und des Engagements zur Sicherung des Weltfriedens. Knapp vier Jahre danach, im Oktober 1992, wurde in Ottawa das Peacekeeping-Monument enthüllt, das den Einsatz Kanadas bei den internationalen UN-Missionen und die Dienste kanadischer Blauhelmsoldaten würdigen sollte. Ein Jahrzehnt später, nach den Anschlägen von 09/11, war von diesem Spirit nur noch wenig zu spüren. Und dennoch: Vor allem in Kanada hatte sich über Jahrzehnte hinweg eine besondere Beziehung zum Peacekeeping-Gedanken und den UN-Blauhelmen entwickelt, eine Art politischer Mythos, der weit in Politik wie Gesellschaft reichte und eine anhaltende Wirkmacht entfaltete.
Jan Erik Schulte, Leiter der Gedenkstätte Hadamar in Hessen und Privatdozent an der Ruhr-Universität Bochum, untersucht in seinem auf seine Habilitationsschrift zurückgehenden Werk die Entwicklung Kanadas zur "Peacekeeping-Nation" im 20. Jahrhundert. Die Studie verbindet dabei Ansätze der Neuen Politikgeschichte wie der historisch-politischen Mythenforschung mit außenpolitischen und globalgeschichtlichen Entwicklungen sowie der Binnenperspektive Kanadas. Herausgekommen ist ein beeindruckender Forschungsbeitrag, der gerade in Verschränkung der unterschiedlichen Blickwinkel und seiner quellenbasierten Tiefe eine äußerst anregende und spannende Lektüre darstellt.
Schultes Buch geht dem besonderen Verhältnis Kanadas zur Politik des Peacekeepings im 20. Jahrhunderts nach. Im Fokus dieser Entwicklung, insbesondere ab den späten 1940er Jahren - nach Gründung der Vereinten Nationen und dem Anlaufen zahlreicher Blauhelm-Missionen - stehen nicht nur die Wechselwirkungen zwischen Außen- und Innenpolitik sowie gesellschaftliche Perspektiven. Es geht dem Autor vor allem auch um die Herausbildung und den Wirkungsgrad eines sogenannten Peacekeeping-Mythos, der in der Untersuchung gleichermaßen als heuristisches Leitmotiv dient und dessen "Existenz, Entwicklung und Relevanz als politischer Mythos" (7) im Zentrum der Analyse steht. Schulte zufolge hat sich in Kanada über die Jahrzehnte hinweg ein nationales Selbstverständnis entfaltet, das "die kanadischen Blauhelm-Einsätze idealisierte" (7). Darüber hinaus jedoch fungiert es als wirkmächtiges Narrativ nicht nur bei der exponierten weltpolitischen Rolle Kanadas nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Es spielte ebenso eine zentrale Rolle im Kontext der "postkolonialen nationalen Identitätsbildung" (8), etwa in Verhältnis und Abgrenzung zu Großbritannien und dem südlichen Nachbarn, sowie bei der Herausbildung einer nationalen, multikulturell geprägten Identität beispielsweise im anglo-frankophonen Zusammenhang - eine Entwicklung, die auch auf gesellschaftlicher Ebene eine weithin sichtbare Rezeption nach sich zog. Die Geschichte des kanadischen Way-of-Peacekeeping, das Wirken zahlreicher politischer wie gesellschaftlicher Akteure und Gruppen, der Prozess nationaler Selbstverständigung und Identitätsbildung im Zeichen eines auch innerkanadischen nation buildings - all dies wird in der Studie präzise rekonstruiert und zugleich spannend erzählt, als besonderes Markenzeichen unter dem Banner des Blauhelm- und Peacekeeping-Gedankens nicht nur der kanadischen Außenpolitik.
Das Buch setzt sich aus 13 Kapiteln zusammen. Neben einem Namens- und Ortsregister sowie Abkürzungs-, Abbildungs- und Tabellenverzeichnis enthält es eine Auflistung aller UN-Peacekeeping-Operationen von 1948 bis 2019. Als inhaltlichen Einstieg wirft Schulte einen Blick auf die 1920er und 1930er Jahre, wo sich bereits Vorläufer für die späteren Blauhelmmissionen wie zu Kanadas Agieren auf internationaler Bühne "als unparteiischer Makler" (36) finden lassen. In den folgenden Kapiteln, die die ersten Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges behandeln, wird zunächst die Genese des Peacekeeping-Gedankens und -Konzepts im Rahmen der neu gegründeten Vereinten Nationen aufgezeigt. Daraus bildete sich mit den Jahren eine herausgehobene Stellung Kanadas in puncto internationaler Friedenssicherung und Blauhelmmissionen, die exemplarisch an ausgewählten Missionen nachgezeichnet wird. Sukzessive avancierte Kanada zur "ersten Adresse für internationale Militärmissionen" (74). Dieser Prozess wird vom Autor immer wieder gekonnt mit dem Blick auf die innere Konstitution Kanadas verflochten, genauer: mit der Entwicklung von Identität und nation building, die eng mit dem Peacekeeping-Gedanken verknüpft war.
Die Politik des Peacekeeping blieb über die Jahrzehnte hinweg weder im politischen und gesellschaftlichen Kontext Kanadas noch auf internationaler Ebene widerspruchs- und krisenfrei. Schulte zeigt immer wieder auch gegenläufige Entwicklungen, Ambivalenzen und länger anhaltende Krisenphasen auf. Spätestens im Verlauf der 1990er Jahre bekamen das Blauhelm-Konzept und der Peackeeping-Mythos zusehends Kratzer und gerieten, nicht nur in Kanada selbst, vermehrt in die Kritik (Kapitel 7).
Besonders hervorzuheben sind die von Schulte herausgearbeiteten Linien des kanadischen Peacekeeping-Mythos. An dem sich auch als gesamtgesellschaftliches Phänomen entwickelnden Peacekeeping-Narrativ des Landes wirkten eine Vielzahl an Akteuren und Gruppen sowie öffentliche Institutionen mit, deren Interesse an der Gestaltung dieses politischen Mythos vielschichtig war. Neben der Untersuchung von Geschichtsschulbüchern sowie der Auswertung der öffentlich-medialen Rezeption anhand von Presseartikeln und Umfragen bezieht Schulte so anschaulich verschiedene ikonographische Ausprägungen des kanadischen Peacekeeping-Gedankens mit in die Analyse ein.
Die Genese der kanadischen Peacekeeping-Politik im 20. Jahrhundert und des damit einhergehenden Mythos ist das Ergebnis eines Jahrzehnte andauernden Prozesses, der keinesfalls immer geradlinig verlief. Es ist die besondere Stärke der Studie, diese komplexe, facettenreiche Entwicklung nicht nur in ihrem Längs-, sondern vor allem auch bis in die Gegenwart hineinwirkend nachzuzeichnen.
In beeindruckender Weise arbeitet Schulte dabei den vielschichtigen Verlauf der kanadischen Peacekeeping-Politik in ihrer engen Verflechtung mit internationalen, außen- und innenpolitischen Konstellationen, gesellschaftlicher Rezeption und einer exponierten Stellung im innerkanadischen nation building-Prozess heraus. Diese Komposition macht die Studie zu einem spannenden, aufschlussreichen und äußert lesenswerten Buch über einen Mythos, der bezüglich seiner Wirkungsgeschichte mittlerweile zwar an einiges Bedeutung verloren hat, dessen Strahlkraft aber nach wie vor weit über blaue Helme und Monumente - inner- wie auch außerhalb Kanadas - im engeren Sinne hinausreicht.
Marc Chaouali