Mathias Miedreich: Die Benediktinerabtei St. Jakob bei Mainz. Ein Kloster der Bursfelder Kongregation zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg (1648-1746) (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte; Bd. 143), Münster: Aschendorff 2020, 606 S., eine Kt., 20 Farbabb., ISBN 978-3-402-15950-7, EUR 79,00
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Die Monographie von Mathias Miedreich über die Benediktinerabtei St. Jakob bei Mainz leistet nichts Geringeres als eine Art von wissenschaftlicher Notrettung. Aus einer Mainzer kirchenhistorischen Dissertation hervorgegangen, behandelt das Werk erstmals in moderner Weise die frühneuzeitliche Geschichte des im 11. Jahrhundert von dem Mainzer Erzbischof Bardo gegründeten Klosters. Die Abtei gehörte einst zu den bedeutendsten Institutionen der Moguntia Sacra; nach dem Einmarsch der französischen Revolutionstruppen 1792 im Kurfürstentum Mainz geriet sie freilich in eine schwere Existenzkrise, um mit der Napoleonischen Säkularisation in dem von Frankreich annektierten Rheinland 1802 für immer aus der Geschichte zu verschwinden. Die letzten Überreste - vor allem ein barockes Konventsgebäude - wurden 1912 zugunsten einer Kaserne niedergelegt. In situ erinnert heute nichts mehr an die stattliche Anlage mit ihrer spätgotischen Klosterkirche; sie lag hoch über Mainz in monte specioso auf dem Berg der Zitadelle (auch Jakobsberg), einem ebenso prominenten wie strategischen Punkt der Stadtgeschichte, der nicht zuletzt als zentraler Erinnerungsort der antiken Vergangenheit des Rheinlands Beachtung beanspruchen kann: Das Kloster befand sich in unmittelbarer Nähe zum sagenumwobenen Drususstein, einem der bedeutendsten Monumente der Römerzeit in Mainz.
Dem Totalverlust an physischer Greifbarkeit steht indes eine reiche Überlieferung an schriftlichen Quellen gegenüber. Ein Hauptverdienst der hier anzuzeigenden Arbeit besteht daher darin, diesen Fundus von weit verstreuter kirchlicher, staatlicher und kommunaler Provenienz - neben Abtskatalogen, Nekrologien und Memorialbüchern auch klösterliche Hauschronistik - systematisch zusammengetragen und analytisch durchdrungen haben. Damit ist die solide Grundlage für eine konkludente Gesamtdarstellung gewonnen. Der Autor zeichnet die Kontur einer geistlichen Gemeinschaft nach, die in kirchlicher, politischer und kultureller Hinsicht den Mainzer Kur- und Stiftsstaat über Jahrhunderte hinweg maßgeblich mitzuprägen vermochte: als "Hauskloster" der Mainzer Erzbischöfe am Sitz ihrer Kathedral- und Residenzstadt, als Zentrum benediktinischer Gelehrsamkeit, die in enge Verbindung zur erzbischöflichen Universität treten sollte. Daneben zeigen sich Wirkungen von überregionaler Ausstrahlung: Der Abt von St. Jakob fungierte als Primas des Mainzer Sekundarklerus; er rangierte im innerkirchlichen Gefüge hinter dem Metropolitankapitel und brachte als abbas abbatum die Interessen der im Bistum ansässigen Prälatenorden vor dem Kurfürst-Erzbischof zu Gehör. Die Mainzer Abtei war Mitglied in der traditionsreichen Bursfelder Kongregation; sie beteiligte sich deshalb immer wieder an deren Reforminitiativen, die auf eine besonders strenge Auslegung der Benedikt-Regel abzielten, etwa in Form des in der Bursfelder Kongregation gebräuchlichen Nacht-Offiziums. Vor allem werden jedoch politische Dimensionen erkennbar: Zwar war St. Jakob kein Reichsstift, sondern ein landsässiges Kloster. Dennoch verfügte es über grundherrschaftliche und patronatsrechtliche Prärogative. Im kleinteiligen, zudem konfessionell zersplitterten Raum am Mittelrhein sollte sich deren Durchsetzung zu einem Politikum ersten Ranges entwickeln, vor allem in den zur zeitweise protestantischen Pfalz (Planig, heute zu Bad Kreuznach) oder zur reformierten Grafschaft Hanau (Dörnigheim, heute zu Maintal) gehörigen Klosterherrschaften. St. Jakob trat hier im Ringen um Einfluss gewissermaßen als verlängerter Arm des Mainzer Kurstaats auf. Im Zusammenhang mit der Konfessionalisierung verschärften sich die Zuständigkeitskonflikte zwischen dem protestantischen Landes- bzw. Vogteiherrn und den lokalen Klosterrepräsentanten, häufig selbst Konventualen, die von ihrer Abtei regelmäßig als expositi ausgesandt wurden, um vor Ort neben der Pfarrseelsorge auch die Betreuung der Klostergüter zu übernehmen.
Überhaupt ist für St. Jakob eine starke Außenwirkung in pastoralen und liturgischen Belangen zu konstatieren, was dem Charisma der Bursfelder Kongregation mit ihrem starken Akzent auf der Pflege des gemeinsamen Chorgebets und der hinter Klostermauern nachdrücklich einzuhaltenden vita contemplativa mit ihrer Vielzahl an aszetischen Übungen deutlich zuwiderlief. Die Jakobsberger Mönche beteiligten sich nicht nur eigenhändig an der Verwaltung ihrer Güter; sie erfüllten nicht nur Aufgaben der regulären Pfarrseelsorge auf den Klosterherrschaften, sondern sie nahmen in umfassender vita activa auch Funktionen der allgemeinen und kategorialen Seelsorge für die Diözese wahr: als Zelebranten in den vielen Pfarreien der Stadt Mainz ebenso wie in der Pastoral für die in den Kriegsläufen vor allem des 17. Jahrhunderts häufig wechselnden Besatzungen der Mainzer Zitadelle - für das erzbischöflich-kurfürstliche Militärpersonal nicht weniger als für die dort stationierten Besatzungssoldaten König Ludwigs XIV. während der Devolutionskriege. Zur Außenpräsenz gehörten zudem liturgische Auftritte auf dem illustren Szenarium um Kaiser und Reich. Regelmäßig wurden die Äbte - als infulierte Prälaten mit dem Recht ausgestattet, unter Mitra und Stab zu pontifizieren - zu den Krönungszeremonien des römisch-deutschen Kaisers im Bartholomäus-Dom im benachbarten Frankfurt am Main beigezogen. Sie unterstrichen damit den traditionellen Anspruch des Mainzer Kurfürst-Erzbischofs, als Koronator des Reichsoberhaupts zu fungieren. Die liturgische Prä-Eminenz des "Heiligen Stuhls" von Mainz in der Symbolverfassung des Reichszeremoniells konnte sich somit auch auf den substanziellen Beitrag der Äbte von St. Jakob stützen.
Mathias Miedreich präsentiert seine Darstellung in prägnant-nüchterner Weise; methodologisch folgt er dem bewährten Weg kirchlicher Institutionengeschichte. Er spannt den Faden in chronologischer Manier auf. Die Geschichte der Abtei - im Epochenabschnitt zwischen dem Westfälischen Frieden (1640) und dem Beginn des Siebenjährigen Kriegs (1756) platziert - entfaltet sich nach den Pontifikaten der einzelnen Äbte. Die Binnengliederung der Großkapitel setzt hingegen auf strukturgeschichtliche Akzente, zum einen in der Rechtsgeschichte. So kann Miedreich die quellenmäßig gut fassbaren Vorgänge jeder Abtswahl im betreffenden Zeitraum rekonstruieren. Zum anderen nimmt der Autor auf verwaltungsgeschichtliche Problemlagen besondere Rücksicht, wie beispielsweise die Rolle der Mainzer Benediktinermönche auf den verschiedenen Kapiteln der Bursfelder Kongregation oder die umfassend dokumentierte Verwaltungspraxis des Klosters in seinen Grundherrschaften und Domänen.
Hohes sozialgeschichtliches Verständnis beweisen die Beobachtungen zur Prosopographie. Im kontrastreichen Wechsel zwischen quantifizierender Analyse und exemplarischer Fallstudie entsteht ein sensibel gezeichnetes Porträt des Konvents: Mit durchschnittlich 30 Mitgliedern und einem jährlichen Zuwachs von zwei bis fünf Novizen gab die Abtei zu ihren Glanzzeiten im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert ein durchaus stattliches Bild ab - nicht nur für die Zeitgenossen, sondern auch für heute, wo man sich unter dem Eindruck anhaltender Kirchenkrise nach dem Zweiten Vatikanum längst mit dem Niedergang des katholischen Ordenswesens abgefunden zu haben scheint. Es handelte sich bei den Mainzer Benediktinern zumeist um Bürgersöhne; im 18. Jahrhundert stammten sie fast durchgängig aus der Residenzstadt selbst. Bemerkenswert sind die monastischen Einzelschicksale, denen der Autor mit Akribie nachgeht: Gelehrten mit imposanter Universitätslaufbahn, juristischen Agenten am Wiener Kaiserhof, begnadeten Kirchenmusikern, daneben aber auch bedrohten und gescheiterten Existenzen wie zum Kriegsdienst zwangsrekrutierten Mönchen, entsprungenen Konventualen oder wegen Labilität abgelehnten Novizen - sie alle verleihen der Monographie lebendiges Kolorit.
Mathias Miedreich ist eine längst überfällige Neubewertung gelungen. Zwar konnte es die rheinische Klosterlandschaft der Frühen Neuzeit nicht ganz mit dem barocken splendor ihres fränkischen, schwäbischen, altbayerischen, gar österreichischen oder böhmischen Gegenübers aufnehmen. Gleichwohl partizipierte sie am allgemeinen Aufschwung der mitteleuropäischen Klosterkultur unter tridentinischem Vorzeichen. [1] Der immer noch weit verbreiteten Vorstellung vom unaufhaltsamen Niedergang der rheinischen Klosterwelt nach der Reformation - häufig als dunkles Kontrastbild zur umso heller aufstrahlenden Monastik mittelalterlicher Prägung bemüht - tritt die Studie einmal mehr entschieden entgegen. Was für die großen Kölner Konvente, Klöster und Stifte [2] schon vor längerer Zeit nachgewiesen werden konnte, bestätigt sich erneut am Beispiel der Mainzer Benediktinerabtei: Es gab einen rheinischen Klosterbarock. Dieser ging nicht an innerer, selbstverschuldeter Dekadenz zugrunde; vielmehr sollte ihm erst aggressive Gewalteinwirkung von außen - die große Säkularisation von 1802/03 - den Todesstoß versetzen. [3]
Anmerkungen:
[1] Derek Beales: Europäische Klöster im Zeitalter der Revolution 1650-1815, Wien u.a. 2008.
[2] Vgl. etwa die instruktiven Befund- und Bestandsbeschreibungen für die Architektur- und Kunstgeschichte der Kölner Kirchen: Colonia Romanica XVI/XVII (2001/02) - XX (2005) (= Die Ausstattung der Kölner Kirchen in Renaissance und Barock 1550-1800, 3 Bde.).
[3] Demnächst: Rainald Becker: Chapter 13: The Changing Place of Religious Orders and its Role in Theological Development, in: The Oxford History of Modern German Theology, hg. v. David Lincicum / Judith Wolfe / Johannes Zachhuber, Bd. I, Oxford u.a. (im Druck).
Rainald Becker