Rezension über:

Henning Wellmann: Punkkultur. Ordnungen radikalen Andersseins (= Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen), Heidelberg: Springer-Verlag 2019, VIII + 254 S., ISBN 978-3-658-26156-6, EUR 39,99
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Rezension von:
Karl Siebengartner
Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Karl Siebengartner: Rezension von: Henning Wellmann: Punkkultur. Ordnungen radikalen Andersseins, Heidelberg: Springer-Verlag 2019, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 2 [15.02.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/02/35520.html


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Diese Rezension ist Teil des Forums "Popgeschichte in Ost und West" in Ausgabe 22 (2022), Nr. 2

Henning Wellmann: Punkkultur

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Im Juli 1983 titelte die Bild-Zeitung zur Präsenz von Punks in Hannover: "Angst! 5000 Punker sind da". Das beschriebene Ereignis war damals schon als "Chaos-Tage" überregional bekannt. Die Beamten in der niedersächsischen Landeshauptstadt standen deswegen in regem Kontakt mit Dienststellen in der ganzen Republik. Sie erwarteten Auseinandersetzungen, die dann auch stattfanden. Anfang der 1980er Jahre waren demonstrativ herumlungernde Punks fester Bestandteil von Innenstädten und dadurch immer wieder ein Ärgernis für einkaufende Bürgerinnen und Bürger und die Polizei. Den Punks eilte der Ruf voraus, Unordnung zu stiften, und so bleiben sie auch im Gedächtnis. Vor diesem Hintergrund muss die kulturwissenschaftliche Studie von Henning Wellmann interessieren, da er sich dem genauen Gegenteil dieser Lesart widmet: Ordnungen, die dem Punk inhärent waren.

In seiner unter anderem am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung im Bereich "Geschichte der Gefühle" entstandenen Dissertation nähert er sich dem Phänomen Punk in der Bundesrepublik Deutschland und stichprobenartig auch in Großbritannien. Der Zeitraum der Untersuchung reicht, ohne vom Autor genau abgesteckt zu werden, von Mitte/Ende der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre. Wellmann sucht nach den Ordnungen im Punk und will damit mehr dem Phänomen als "kulturelle[m] Potenzial" statt als "historischer Formation" nachgehen (6). Dieser Fokus zeigt auch, dass Wellmann seine Studie nicht als genuin historische Arbeit versteht, sondern als kulturtheoretische. Dieser Zugriff ist originell, da er damit die ansonsten als chaotische Jugend-, Protest- oder Musikkultur der 1970er und 1980er Jahre verstandene Gruppierung von innen heraus als eine Kultur mit eigenen Ordnungsprinzipien verstehen will. Dementsprechend leitet das theoretische Werkzeug die Analyse des empirischen Materials, das vorrangig aus Fanzines im Archiv der Jugendkulturen in Berlin und in der British Library in London besteht.

Das Buch besteht aus zwei großen Teilen. Der eigentlichen Analyse von Punk geht ein Kapitel mit dem Titel "Punk-Panorama" voraus. Hier wird der Forschungsstand anhand bisher leitender Analysekategorien für Punk skizziert und auch der zeithistorische Kontext geschildert. An der semiotisch inspirierten Pionierstudie von Dick Hebdige [1], die im Anschluss an die theoretischen Arbeiten des Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies entstand, kritisiert Wellmann zurecht, dass sich die "Erfahrungswelten" (30) der Punks darin nur schlecht finden lassen. Auffällig in diesem Teil ist, dass zentrale kulturwissenschaftliche und historische Arbeiten nicht berücksichtigt wurden. Dave Laings Studie hätte gut zu seinem praxeologischen Ansatz gepasst [2]. Die Lektüre von Jeff Haytons Dissertation zu Punk im deutsch-deutschen Vergleich und Matthew Worleys britischer Gesamtdarstellung hätten nochmals Differenzierungen von Punk als Jugendkultur und gesellschaftlich sichtbare Gruppe jenseits von Krise und Kulturindustrie aufgezeigt [3]. Gut kontextualisiert der Autor hingegen die deutschen Studien von Thomas Lau und dessen Doktorvater Hans-Georg Soeffner sowie von Michael May, indem er auf die Forschungszusammenhänge und Produktionsbedingungen der jeweiligen Arbeiten eingeht.

Das Herzstück des Buches befasst sich mit den verschiedenen Ordnungen des Punk. Ausgehend von den Überlegungen des Kultursoziologen Andreas Reckwitz entwickelt Wellmann ein differenziertes Instrumentarium für die Analyse. Dabei greift er dessen Trias von Diskursen, Praktiken und Artefakten auf (72 f.), um den Ordnungen im Punk und deren Wechselwirkungen mit den Subjekten näher zu kommen. Der klare Fokus liegt dabei auf den Praktiken. Wellmann ergänzt fortlaufend sein theoretisches Werkzeug um neue Aspekte, was einerseits gut passt, da er so auf verschiedene Gegenstände der Analyse angemessen reagieren kann. Anderseits wirkt der Fließtext dadurch manchmal etwas mäandernd. Er liefert in den Analysen von Sounds, Emotionen, Atmosphären bei Konzerten und den Praktiken der Akteurinnen und Akteure eine dichte Beschreibung, ohne dabei auf ausreichende Reflexion zu verzichten. Sein großes Verdienst ist, ein Angebot für den konkreten Umgang mit Klang bereitzustellen. Dabei verkoppelt er den Sound mit Emotionsbeschreibungen und damit einhergehenden Ordnungsvorstellungen, um dabei Aussagen über die Subjekte zu treffen (91).

Die Lautstärke spielte dabei eine übergeordnete Rolle, was die Musik auch körperlich spürbar machte. Das war auch ein großer Teil eines Konzerterlebnisses. Hier liest Wellmann drei Berichte zu einem Konzert der Dead Kennedys im Dezember 1982 im berühmten Berliner SO36 parallel, um zu verdeutlichen, dass mit Konzerten generelle Erwartungen verbunden waren. Empfundene Anspannung, die Möglichkeit körperlicher Gewalt, bewusst herbeigeführte Erschöpfung und Alkoholkonsum waren dabei Praktiken, die ein solches Erlebnis strukturierten. Der grenzüberschreitende, manchmal auch destruktive Umgang mit dem eigenen Körper durch übermäßiges Trinken oder die Verletzungsgefahr beim kollisionsintensiven Hüpf-Tanz Pogo prägten Subjekte maßgeblich. Obwohl das auf den ersten Blick wenig regelhaft erscheint, arbeitet Wellmann dazu präzise die strukturierende Ordnung heraus. Solche Beschreibungen und Erwartungen prägten die Punkkultur nachhaltig.

Obwohl Wellmann mehrfach betont, keine historische Studie liefern zu wollen (6, 246), arbeitet er mit historischem Material und wird dadurch letztendlich auch zu historischen Aussagen gezwungen, wie er im Fazit auch implizit eingesteht (235). Insgesamt liefert er aber eine theoretisch fundierte Studie. Sein methodisches Werkzeug ist schlüssig gewählt und dem fluiden Phänomen Punk angemessen. Von seinem hohen Reflexionsgrad können nachfolgende historische Arbeiten sehr profitieren. Wellmanns kulturwissenschaftliche Abhandlung ist ein wichtiger Impuls, um die Forschung in Bezug auf Punk voranzutreiben und die Zugänge dazu auf eine solide theoretisch-methodische Basis zu stellen. Einer kulturhistorisch ausgerichteten Zeitgeschichte bietet er damit eine kulturanalytische Pionierstudie.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Dick Hebdige: Subcultures. The Meaning of Style, London 1979.

[2] Vgl. Dave Laing: One Chord Wonders. Power and Meaning in Punk Rock, Milton Keynes 1985.

[3] Vgl. Matthew Worley: No Future. Punk, Politics and British Youth Culture, 1976-1984, Cambridge u. a. 2017, und Jeff Patrick Hayton, Culture from the Slums: Punk Rock, Authenticity and Alternative Culture in East and West Germany, Diss., Urbana 2013.

Karl Siebengartner