Rezension über:

Florian Lipp: Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR. Akteure - Konfliktfelder - musikalische Praxis (= Musik und Diktatur; 4), Münster: Waxmann 2021, 582 S., ISBN 978-3-8309-4274-0 , EUR 54,90
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Henryk Gericke (Hg.): too much future. Punkrock GDR 1980-1989, Jena: Iron Curtain Radio 2020, 3 LP + 80 S., EUR 64,99

Rezension von:
Ilko-Sascha Kowalczuk
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Ilko-Sascha Kowalczuk: Punk in der DDR (Rezension), in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 2 [15.02.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/02/35518.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Popgeschichte in Ost und West" in Ausgabe 22 (2022), Nr. 2

Punk in der DDR

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Mitte der 1970er Jahre tauchten in England junge Leute auf, die sich von allen sonstigen Erscheinungen in jeder Hinsicht unterschieden: Punks. Die Mauer war nie hoch genug, um die Ätherwellen brechen zu können. Kaum etwas wirkte für die ideologischen Betonzeremonienmeister im Kommunismus zersetzender als unkontrollierbare jugendliche Subkulturen: Free Jazzer, Blueser, Peacer, Hippies und später Punks, Skins, New Waver, Popper und ganz zum Schluss auch Technos. Allen war gemein, dass sie programmatisch gegen den Staatssozialismus mit seinem Gestaltungswillen bis ins letzte Strumpfloch standen. Man kann darüber streiten, wer besonders dagegen war: Die Popper mit ihrem Hedonismus? Die Free Jazzer mit ihrer kontrollierten Disharmonie? Die Hippies mit ihrer Sehnsucht nach antiautoritären Strukturen? Die Skins mit ihrer neofaschistischen Baseballschlägerausgrenzungswut? Oder doch die Punks, die auf ihre schwarzen Lederjacken mit weißer Lackfarbe "no future" gepinselt hatten?

Sie machten aus dem westlichen "no future" das östlich passende Pendant "too much future". Treffender ließe sich der Allmachtgestaltungswahn der Kommunisten kaum auf den Punkt bringen. Eine Schlagerband, die sich bescheiden zur "besten Band der Welt" kürte, sang einmal artig, "ist das noch Punkrock?". Artig ist die kürzeste Anti-Formel, auf die sich Punk reduzieren ließe: Punks wollen nicht artig sein - die Punk-Fun-Band Feeling B vom Prenzlauer Berg grölte Ende der 1980er Jahre "Wir wollen immer artig sein" und meinte damit augenzwinkernd das Gegenteil (305).

Florian Lipp, ein historisch arbeitender Musikwissenschaftler mit einer Spezialausbildung für Osteuropa, hat eine Dissertation über Punk und New Wave in der DDR vorgelegt. Über kaum eine gesellschaftliche Randerscheinung der DDR sind in den letzten 20 Jahren so viele populärwissenschaftliche und Erinnerungsschriften vorgelegt worden wie über Punk. Zuweilen hat es den Anschein wie beim Widerstand in der DDR - je länger das kleine Zonenland zur unverdauten Geschichte gehört, desto größer wird die Menge derjenigen, die dort im Untergrund Widerstand leisteten. Und seit einigen Jahren hat man auch den Eindruck, die Jugendkultur müsse völlig von Punks majorisiert gewesen sein.

Wie Lipp mitteilt, ging das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) von etwa 1.000 aktiven Punks und etwa 10.000 Sympathisanten aus, was auch immer das bedeutete. Henryk Gericke, selbst Sänger einer Punkband und der eifrigste Publizist und Kurator in Sachen Punk in der DDR, legte kürzlich einen Sampler bestehend aus drei LPs zum Punkrock in der DDR vor. "Too much future" besticht durch ein eindrucksvolles Booklet - eine eigene Geschichte von Punk hinter der Mauer - und die Titel von 38 Bands. Die Stücke sind größtenteils von Kassetten digitalisiert und aufbereitet worden. Sie spiegeln genau, was auch das Problem fast jeden Punkkonzerts auf Hinterhöfen, in besetzten Wohnungen oder Kirchenräumen war: Da trafen sich zwar Gleichgesinnte; was die Dudes auf der nicht vorhandenen Bühne allerdings genau in Worte gekleidet herausschrien, war damals wie heute auch mit Hörgeräten kaum zu verstehen.

Florian Lipps Buch ist kein Aufwasch all dessen, was bekannt ist. Tatsächlich legt er eine Studie vor, die methodisch originell ebenso wie originär daherkommt. Er schafft nichts Geringeres als das Kunststück, die Nischenerscheinung Punk gesellschaftshistorisch so zu analysieren, dass seine Studie gleichermaßen eine herausragende Analyse und Beschreibung der Kultur(-politik) in der DDR der 1980er Jahre darstellt. Seine empirische Basis ist breit: Stasi-Unterlagen stehen neben SED-Materialien, vielfältige Funde aus Regionalarchiven werden durch solche aus dem Rundfunkarchiv erweitert, die Auswertung von Leserbriefen an den DDR-Rundfunk zeichnet vielschichtige Bilder, Selbstzeugnisse der Punks werden ergänzt durch 15 Interviews mit Expertinnen und Experten.

Das Buch gliedert der Autor in vier große Kapitel. In der Einleitung arbeitet er die üblichen Punkte ab, die Qualifikationsschriften (oft ausufernd) aufweisen: Forschungsstand, Theorien, Begriffe, Methoden, Quellen. Lipp betont, wesentlich beziehe er sich auf das "Eigen-Sinn"-Konzept (37). Kapitel 2 ist der Vorgeschichte gewidmet: In einem Parforceritt kontextualisiert er die Geschichte der Rockmusik in der DDR-Kulturpolitik.

Die beiden Hauptkapitel (1976-1984, 1985-1989) orientieren sich an äußeren Zäsuren: 1976 traten die Sex Pistols in Erscheinung, nicht die erste Punk-Band im Vereinigten Königreich mit einer LP, aber weltweit schnell jene Combo, die für punk music stand und steht. Für die DDR passt das Jahr wegen der Biermann-Ausbürgerung kulturpolitisch als Einschnitt durchaus. Die Zäsur 1985 ist nicht wegen eines kulturpolitischen Bruchs gesetzt worden, sondern wegen Gorbatschows Machtantritt und den damit zusammenhängenden einsetzenden Veränderungen. Das mag man kritisieren, zumal Lipp mit 1983 und 1988 zwei bessere mögliche Zäsuren anbietet: 1983 ordnete Mielke an, mit aller Härte gegen Punks vorzugehen; Anfang 1988 beschloss das SED-Politbüro eine vorsichtige Liberalisierung gegenüber Jugendkulturen und verzichtete auf deren Kriminalisierung. Beide Einschnitte werden im Kontext der SED-Jugendpolitik von Lipp einleuchtend herausgearbeitet; in beiden Fällen aber hätte er auch über den Rand jugendlicher Subkulturen hinausschauen können, um zu erkennen, dass Mielkes Repressionsanordnung nicht nur Punks und jugendlichen Subkulturen betraf, sondern generell in einem Zusammenhang härteren Vorgehens gegen Abweichler aller Art erfolgte. Der SED-Politbürobeschluss wiederum bedeutete, viel stärker als von Lipp herausgestellt, den vergeblichen Versuch, längst verlorengegangenes Gebiet der SED-FDJ-Jugendpolitik zurückzuerobern.

Doch das sind Petitessen im Vergleich zu den überragenden Kenntnis- und Erkenntnisgewinnen, die uns dieses Buch liefert. Lipp zeigt nicht nur, wie heterogen die Punkszene selbst war, wie unterschiedlich die Beweggründe, Punk im Osten zu werden, als Punk zu leben, wie verschieden die Musik letztlich ausfiel. Besonders instruktiv sind die Analysen über die unterschiedlichen Reaktionen im Staatsapparat. Lipp analysiert, wie wenig letztlich die Ideologie eine einheitliche Kulturpolitik in den 1980er Jahren noch zusammenhielt, wie stark die Auslegung der zentralen Vorgaben von der konkreten Umsetzung an der Basis, in den Regionen abhing. Gerade hier kann Lipp viele Hinweise liefern, wie unübersichtlich letztlich der demokratische Zentralismus in den 1980er Jahren geworden war, als immer mehr einzelne Angehörige des Apparats anfingen, Spielräume zu nutzen. Lipp zeigt das unter anderem am Beispiel der überaus beliebten Radiosendung "Parocktikum", einem Format, das eingesandte Tapes nicht "eingestufter" Bands aus der DDR ebenso ausstrahlte wie (illegal verwendete) Aufnahmen westlicher Bands. Und dass nicht nur der Redakteur ein Freak war, zeigt die Auswertung von Leserbriefen: Da gab es Experten, die offenbar auch noch die letzte Garagenband aus Manchester kannten.

Die Behandlung des Einflusses des MfS erfolgt in gebotener Sachlichkeit, mit der wissenschaftlichen Seriosität, auch das zu historisieren. So kann Lipp überaus überzeugend zeigen, dass sich einige Behauptungen in der Stasi-Forschung bei Lichte betrachtet - etwa wie Leute, die sich einer Verpflichtung als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) verweigerten, heute damit umgehen - nicht bestätigen lassen. Sehr gelungen ist auch die Analyse der Reaktion der DDR-Publizistik in Bezug auf Punk. So änderte sich auch hier bei einigen maßgeblichen Leuten die Sicht von Ablehnung als "Müll" hin zu Begeisterung für das avantgardistische Potential. Das führte an der Humboldt-Universität zu Berlin zu veränderten Lehrinhalten künftiger Musikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, was wiederum unmittelbar messbar Auswirkungen auf deren spätere Arbeit etwa in Musikredaktionen des Rundfunks hatte. Und schließlich sind die Analysen zum Verhältnis von etablierter Rockmusik und den anderen Bands, wie Ende der 1980er Jahre die Kapellen aus dem Umfeld von Punk offiziell immer häufiger genannt wurden, hochinteressant. Lipp geht ausführlich auf die Einstufungspraxis ein, also, wie nach welchen Kriterien wer als Künstler öffentlich auftreten und welche Gage dafür beziehen durfte. Er zeigt in diesem Kontext, wie die etablierten Rockbands bewusst oder unbewusst beim Verteidigen ihrer Privilegien ein Teil des DDR-Zensursystems wurden. Nicht nur diese These bietet Debattenstoff.

Zwar gibt es leider nur relativ wenige Fotos in dem Band, aber die meisten sind bislang öffentlich kaum gezeigt worden und eines eignet sich zur Ikone, die die ganze Widersprüchlichkeit von Punk in der DDR in Pixel bringt: Wutanfall spielt vor Fans in einem Leipziger Kulturhaus, um eine Einstufung zu erhalten - im Hintergrund sieht ausdruckslos wie immer Erich Honecker (Porträt) dem Treiben zu. Punks, die um staatliche Anerkennung betteln - können das Punks sein? Dieser Frage geht Lipp nicht nach, sehr wohl aber zeigt er exemplarisch auf, wie Punks in den Knast kamen, manche mehrfach, wie sie abgeschoben wurden und wie einige wenige als IM dem MfS dienten.

Die Namen der Bands verrieten oft bereits ihr Programm: Abwärts, Antitrott, die anderen, Die Firma, Die Skeptiker (meine best-band), Gefahrenzone, L'Attentat, Namenlos, Planlos, Wutanfall, Zerfall, Zorn oder Zwecklos. Aber keine Band verursachte beim MfS eine solche Aufregung wie I.M. (297). Die Stasi glaubte, die Schülerband spielte auf die weithin öffentlich unbekannte Abkürzung "IM" des MfS an. Tatsächlich stand I.M. für "Internationale Müllstation", etwas ganz Anderes, auch wenn metaphorisch ein Zusammenhang hergestellt werden könnte.

Florian Lipp hat ein rundherum uneingeschränkt gelungenes Werk vorgelegt. Der Umgang mit der vorliegenden Forschungs- und Erinnerungsliteratur ist ebenso vorbildlich wie die Auswertung einer beeindruckend breiten empirischen Grundlage. Auch dass er seinem Untersuchungsgegenstand nicht fanmäßig erlegen ist, sondern im Prinzip dem unbestechlichen Christoph Tannert von 1988 folgt, der auf den Punkt formulierte, aus dem "unberechenbare[n] Wildschwein" sei eine "brave[] Haussau" geworden (445), zeigt nur, wie differenziert er zu argumentieren in der Lage ist. Dem Autor wäre zu empfehlen, dieses auch sehr gut geschriebene Buch in einer gekürzten Variante einem Publikumsverlag anzubieten - es fände gewiss ein größeres Publikum.

Ilko-Sascha Kowalczuk