Detlef Berghorn: Verwandtschaft als Streitzusammenhang. Eine Fall-Geschichte in Beziehungen im hohen Adel des Alten Reiches, 16. bis 19. Jahrhundert (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 76), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, 429 S., 1 Kt., 5 Tafeln, ISBN 978-3-412-52221-6, EUR 70,00
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Die vorliegende, 2018 als Hannoveraner Dissertation verteidigte Studie beschäftigt sich mit einem Normalfall der adeligen Welt in der Frühen Neuzeit, nämlich mit einer Erbschaftsauseinandersetzung, die sich nach dem Tode des Grafen Dietrich VI. von Manderscheid-Schleiden entspannte. Bei seinem Ableben 1593 hinterließ der Graf keine direkten Erben, hatte keine Nachfolgeregelung getroffen, dafür immerhin seine Gattin materiell versorgt und die in Betracht kommenden ferneren Erben um eine einvernehmliche Regelung der anfallenden Erbschaftsangelegenheiten gebeten. Dennoch gerieten die Begünstigten in den nachfolgenden 250 Jahren miteinander in einen erbitterten Streit. Die Gräfin-Witwe, die Bruder-Witwe nebst Verwandten, die Schwestern nebst Verwandten sowie die übrigen Manderscheider Grafenlinien und deren Nachfolgehäuser nutzten fortan den Weg der Justiz, der Gewalt, der Kommunikation und jener Netzwerke, die ihrerseits das Geschehen konfessionell, politisch und sozialständisch aufluden. Es folgte eine Generationen währende Verfahrenskaskade mit Nebenklagen, Teillösungen und Erbübernahmen. Sie währte bis ins 19. Jahrhundert. Berghorn analysiert damit ein Akteurs-, Interessen- und Faktorencluster, das sich als maximal differenziert erweist. Er verfolgt dies präzise-minutiös und verliert dennoch nicht den 'roten Faden'. Er fokussiert weniger die Konfliktentwicklung, sondern deren Bedeutung für die Positionierung der Akteure in der Manderscheider Verwandtschaft und im sozialständischen Gefüge der Hochadelswelt. So analysiert Berghorn keinen Fall, sondern - wie er es etwas sperrig im Titel nennt - eine "Fall-Geschichte in Beziehungen im hohen Adel". Aus der mit allen verfügbaren Mitteln betriebenen Auseinandersetzung erwuchs demnach eine Vielzahl von Positionierungskämpfen insbesondere unter jenen Personen, die erst in späteren Phasen hinzukamen, nachdem sie eingeheiratet oder weil sie (reale oder vermeintliche) Erbansprüche entdeckt oder übernommen hatten. Es handelte sich zudem nicht selten um Zwänge und Notwendigkeiten der Positionierung der Akteure, eben weil die vorgelagerte sozialständische Dimension dies über hunderte Jahre hinweg bedingte.
Vor dem Hintergrund von vier unterschiedlichen Figurationen von Verwandtschaft analysiert Berghorn entsprechend die Dimension der Schwäger, der Agnaten und Cognaten, der Etablierten und Außenseiter sowie der Erbtöchter und Regredienterben. Er bettet dabei seine Studie in vier Forschungsfelder bzw. -konzepte - die Historische Verwandtschaftsforschung, den Konnex zwischen Adels- und Rechtsgeschichte, das Konzept von Erbe als wandelbares Übertragungskonzept sowie die Geschlechtergeschichte - ein, die für sich in der Einleitung nochmals ausdifferenziert werden. Dies alles erfolgt nachvollziehbar, gut systematisiert und sinnvoll aufeinander bezogen. Für diese Einbettung kommt er in der Summe seiner Analyse zu folgenden Ergebnissen (vgl. 336-341):
Mit Blick auf die Geschlechtergeschichte sieht Berghorn zunächst die Handlungspotenziale adeliger Frauen als durchaus gegeben an, jedenfalls für Witwen, während Frauen, die unstandesgemäße und / oder eigenständig geschlossene Ehen eingingen, sozial und materiell schlechter gestellt waren. Dagegen habe dies bei Männern keine Folgen gehabt. Sehr wohl jedoch wussten die Ehefrauen ihre Männer in den Auseinandersetzungen zu beeinflussen oder gar zu steuern. Dies galt nicht zuletzt für solche Frauen, die die Situierung des Streitobjekts und ihrer kommunikativen Beziehungen im Grenz- und Übergangsraum zu nutzen wussten. Mit Blick auf die Vernetzung von Adels- und Rechtsgeschichte sieht Berghorn einen erweiternden Beitrag seiner Studie in der Herausarbeitung des Nebeneinanders von Gewalt- und Justiznutzung, der Selbstkonstruktion der Akteure vor Gericht und der Re- bzw. Dekonstruktion des Prozessgegners, schließlich der Kompetenz- und Gültigkeitsbehauptung von Gerichten, Verträgen und Rechtsprechung. So attestiert er einerseits folgerichtig die begrenzte Wirksamkeit von Rechtsentscheiden angesichts der ständisch-sozialen Realitäten im Adel, andererseits die Effekte der Justiznutzung, die in einer strengeren sozialen Normierung und Hierarchisierung bei gleichzeitiger Verrechtlichung der sozialen Konflikte bestanden hätten. Schließlich sieht er mit Blick auf die historische Verwandtschaftsforschung für die einzelnen verwandtschaftlichen Figurationen durchaus unterschiedliche, gar ambivalente Tendenzen. Während die Schwager-Dimension eher ambivalent und die Etablierten-Dimension sogar prekär in ihrer Bedeutung blieb, verstärkte sich die Position der Agnaten und Cognaten. Die Dimension der Erbtöchter und Regredienten konnte je nach Bedarf eine Kultur des (situativen) Vergessens oder des Aufbaus kollektiven Gedächtnisses bedingen. Am Ende standen jedenfalls die Ablösung des Ausgangskonflikts von den verwandtschaftlichen Zusammenhängen und die Übernahme in die Welt der juristischen Fakten und Wertungen sowie des kollektiven Gedächtnisses oder gar Identität. Demnach - so folgert Berghorn - war die dynastische Räson nicht immer für die Handlungslogiken der Akteure bestimmend, weshalb auch die Loyalitäten durchaus schwankend gewesen seien. Verwandtschaft, deren Normen, Praktiken und Logiken sieht Berghorn demnach als situationsbedingte soziale Konstruktion, die kommunikativen Bedingungen unterlag und sinnvoll nur in der Langzeitperspektive erforscht werden kann.
All dem ist unumwunden zuzustimmen, wie überhaupt die Studie mit ihrem methodischen Setting und Zugriff überzeugt. Dass der Leser angesichts der Vielzahl der Akteure und Interessen manchmal den Überblick zu verlieren droht, ist nicht der Darstellung geschuldet, sondern resultiert aus der Komplexität. Umso mehr ist es zu bedauern, dass der Autor im Ergebnisteil seiner Studie nicht noch einmal die direkte Konfrontation seiner Ergebnisse mit der Forschung wagt. Hier hätte - um nur ein Beispiel zu nennen - die bisher immer noch vorherrschende Auffassung von der Unüberwindbarkeit dynastischer Loyalisierungs- und Hierarchisierungsmacht gegenüber den adeligen Individuen massiv in Frage gestellt, wenigstens aber entschieden relativiert werden können. Denn dementsprechend und auf Berghorns Studie aufbauend lässt sich wenigstens für diese Causa aufzeigen, dass über Jahrhunderte hinweg eben gerade nicht dynastisch-kollektiver Eigensinn übergeordnet-prävalent war, sondern mit individuellem Eigensinn korrespondierte und kollidierte und seinerseits sowohl eigensinnig wie auch künstlich erscheinen konnte. Manches Studienergebnis - wie bspw. die geschlechterhistorischen Beobachtungen oder die Resultate zur parallelen Nutzung von Gewalt und Justiz - erscheint zudem nicht wirklich neu, kann jedoch zur Differenzierung bisheriger Auffassungen beitragen. Weiterführend erscheint jedenfalls die Beobachtung, dass sich die Justiznutzung auf die sozialständische Normierung und Hierarchisierung im Adel auswirkte. Künftige Forschungen werden dies berücksichtigen müssen, nicht nur im Sinne der Verifizierung / Falsifizierung, sondern insbesondere mit Blick auf den Nutzungshorizont der jeweiligen Akteure.
So bleibt der Studie zu wünschen, dass sie eine rege und breit angelegte Rezeption findet.
Alexander Jendorff