Nina J. Koefoed / Bo Kristian Holm (eds.): Reformation and Everyday Life (= Refo500 Academic Studies; Vol. 100), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, 342 S., 15 Farb-Abb., ISBN 978-3-525-57355-6, EUR 120,00
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Mit dem Ende des Reformationsjubiläums ist glücklicherweise nicht das Ende der Forschungs- und Publikationsbemühungen verbunden. Viele der im Kontext des Jubiläums veranstalteten Tagungen, Überblickswerke und Spezialdarstellungen gerinnen gerade zu Manuskripten. So auch jener Band, der sich als Ergebnis eines 2021 beendeten Forschungsprojektes zu "Lutheranism and Societal Development in Denmark" zu erkennen gibt. Über das Stichwort des Everyday Life operieren die Herausgeber und die anderen Autor*innen mit einer dem Protestantismus der ersten Stunde entnommenen und von Historiker*innen wie Lyndal Roper (The Holy Household, Oxford 1989) problematisierten Begrifflichkeit: dem Haushalt. Als theologische und gesellschaftswirksame Neuverklammerung von Gott und Individuum, Herrschaft und Gesellschaft verstanden, stellen die Beiträge ganz auf jene Begriffe ab und beschreiben scheinbar neue, jedenfalls zeitgenössisch-frühneuzeitlich neu spezifizierte Rollenaufgaben des Individuums und des Haushaltsvorstands. Jenseits institutionellen Wandels spüren die Beiträge daher den Veränderungen in der Alltagskultur der Menschen durch die Reformation - verstanden als Lehre und Prozess - nach. Mithin verfolgen sie eine analytische Langzeitperspektive, die Religion als Alltagsmoment begreift sowie zugleich nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zur modernen Wohlfahrtsgesellschaft fragt. Dieser letzte Aspekt bleibt allerdings bedauerlicherweise unterbelichtet, insofern kein einziger Beitrag zu Fragen der gesellschaftlichen Ordnung und Wohlfahrtsorganisation berücksichtigt wurde, wie überhaupt Aspekte der frühneuzeitlichen Gesellschaftsformierung nach der Reformation weitgehend ausgespart bleiben.
Auf drei Untersuchungsfeldern stellen die Beiträger*innen ihre Ergebnisse vor:
Auf einem ersten Feld - der religiös-theologischen (Neu)Formierung des Alltags - zeigt bspw. Lee Palmer Wandel die Neusemantisierung der Glocke und des Läutens für die Struktur des Alltags und des Gottesdienstverständnisses gemäß der lutherischen Lehre auf. Die Neuprägung des Alltags durch die reformatorische Lehre findet sich auch in der Analyse von Luthers Kleinem Katechismus in der Ausgabe des Erik Pontopiddan 1737 durch Jette Bedixen Rønkilde. Dem Lebensalltag nordischer, aber auch anderer europäischer Anabaptisten widmet sich Päivi Räisänen-Schröder unter Bezugnahme auf das Konzept der Lived Religion und betont dabei die gruppenstabilisierenden Momente einfacher Instrumente bzw. Praktiken des Glaubensvollzugs wie das gemeinsame Lesen der Bibel, wobei sie ihren praxeologischen Ansatz in einen europäischen Forschungszusammenhang einbettet. Diesen Ansatz verfolgen auch die nachfolgenden Beiträge von Jakub Koryl und Bonnie Noble.
Auf einem zweiten Untersuchungsfeld, das der Präfiguration von 'Haus' und 'Haushalt' durch die reformatorische Lehre gewidmet ist, arbeitet Kirsi Stjerna die wichtige, teilweise zweifellos herausragende Rolle von Frauen in der Reformation heraus und nimmt dabei vor allem die Pluriformität dieser Rollen in den Blick, während sich Per Seesko-Tønnesen den Reiseinstruktionen für dänische Adelige im 16./17. Jahrhundert widmet. Die Idee vom Haus bzw. des Haushalts und ihre Profilierung als Republik im Kleinen durch Henning Arnisaeus verfolgen Paolo Astorri und Lars Cyril Nørgaard, während Mette A. Ahlefeld-Laurig die wiedereingeforderten kirchlichen Einsegnungspraktiken von jungen Kindsmüttern in Dänemark in die dänischen Gemeinden beschreibt.
Dieser instruktive Beitrag leitet zugleich zu einer dritten Sektion über, die sich mit den alltäglichen Aushandlungsprozessen über Religion und deren Bedeutung für verschiedene gesellschaftliche Gruppen beschäftigt. So untersucht Mattias Sommer Bostrup die religiös-konfessionelle Mischgesellschaft auf dem westfriesischen Nordstrand in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in der sich die ursprünglich lutherische Monopolgesellschaft in einer gefühlten Minderheitenposition wiederfand. Während Martin Berntson widerständiges Verhalten vor dem Hintergrund von Verlusterfahrungen in schwedischen Kontexten des 16. Jahrhunderts beschreibt, untersucht Aleksandra Matczyńska die weibliche Kunstpatronage im schlesischen Protestantismus des 16. Jahrhunderts. Gleiches gilt für den Beitrag von Sini Mikkola, die das Spannungsfeld zwischen der Verdammung des klösterlichen Lebens durch Luther und den weiblichen Wahrnehmungen solcher Institute als Orte der Freiheit und Selbstständigkeit thematisiert. Mikkola plädiert für eine wesentlich stärkere Erforschung dieses Aspektes, gerade für Nonnenklöster in protestantischen Umfeldern.
An dieser Stelle mag die Kontextualisierung und Kritik an den hier versammelten Beiträgen ansetzen. Denn der Beitrag von Mikkola ist neben den einleitenden Bemerkungen der Herausgeber oder den Beiträgen von Astorri/Nørgaard und von Räisänen-Schröder einer der wenigen, der sich intensiver und vor allem diskursiver mit den Interpretationsansätzen der internationalen Forschungsliteratur jenseits der englischen auseinandersetzt. So fehlt dem gesamten Band gewissermaßen ein roter Faden, der nicht durch das Konzept des Everyday Life gesponnen wird, mag er auch mit einem mikrohistorischen Ansatz verbunden sein. Denn die Hinweise, die gelebte Glaubenspraxis habe nicht immer den normativen Vorgaben entsprochen oder sich in Renitenz bzw. Opposition bemerkbar gemacht, können nicht überraschen. Solche Differenzergebnisse resultierten bereits aus Diskussionen über das Sozialdisziplinierungskonzept. Die von den Beiträgen angedeutete komparatistische Perspektive wird nicht eingelöst, weil sie unverbunden nebeneinander stehen bleiben.
Dieses Defizit wird durch die mangelnde Relationierung der eigenen Forschungsstrategien und -ergebnisse in einem europäischen Setting - auch im Verhältnis zu den Entwicklungen in den katholischen Gesellschaften Europas - verstärkt. So wird der entscheidende Mehrwert der Reformations- und insbesondere der Konfessionalisierungsforschung der letzten Jahrzehnte gerade in ihrer komparatistischen Perspektive übersehen. Sie beiläufig zu erwähnen (9-11) - allerdings nur im Sinne der Profilierung als einer überkommenen Zugangsweise, gar als Ausweis einer bloßen top-down-Theorie - wird ihrem Mehrwert und insbesondere den mit der Jahrtausendwende sehr wohl und energisch vorgenommenen konzeptionellen Anpassungen nicht gerecht; überdies gerade dann nicht, wenn man - völlig zurecht - die sich an sie anschließenden, wenn auch in eine andere Richtung weisenden und manche Ergebnisse bzw. Zugriffsweisen hinterfragenden Konzepte von Thomas Kaufmann und Birgit Emich fruchtbar zu machen versucht, wie dies Päivi Räisänen-Schröder (71f.) unternimmt. In gleicher Weise und daran anschließend ließe sich die Frage stellen, warum der 'Haus'- wie auch der 'Haushalts'-Begriff nicht auf sein rezeptionelles Potenzial hin untersucht, sondern einfach nur als übernommene Größe in protestantischen Gesellschaften akzeptiert wurde, also letztlich als akzeptierte Norm verstanden wird. Eine entsprechende Reflexion wäre schon deshalb spannend gewesen, weil beide Begriffe eine gewisse Zentralität im dänischen Forschungszugriff zu spielen scheinen und so eine Brücke zu anderen europäischen Gesellschaftsvorstellungen hätte geschlagen werden können.
All diese Aspekte betreffen nicht den Inhalt der versammelten Beiträge, sondern deren Systematisierung und Kontextualisierung im vorliegenden Sammelband. Aus Sicht der deutschsprachigen Forschung mag sich an manchen Stellen die kritische Nachfrage ergeben, worin der konkrete Neuigkeits- und Mehrwert im Sinne übergeordneter, gar leitender Verständnisweisen besteht. Umgekehrt könnte allerdings kritisch eingewendet werden, dass bereits genau diese Frage die gegenwärtigen Forschungskontexte verfehlt. Denn wie Matthias Pohlig schon 2017 in seiner Zusammenschau der damals vorliegenden Forschungsliteratur bemerkte, zeichnet sich die jüngere Forschungslandschaft eben nicht mehr durch Masternarrative mit Prägewirkung für die weiteren Forschungs- und Analysesettings aus, sondern vielmehr durch eine offenkundige Entgrenzung und mehr oder minder unverbundene Diversifizierung verschiedener Teilaspekte, die die Reformation von vorneherein im Plural versteht. [1]
Anmerkung:
[1] Vgl. Matthias Pohlig: Jubiläumsliteratur? Zum Stand der Reformationsforschung im Jahr 2017, in: ZHF 44 (2017), 213-274, hier 213-227.
Alexander Jendorff