Peter Assmann / Ralf Bormann (Hgg.): Passepartoutnotizen. Unbekannte italienische Zeichnungen aus eigenem Bestand. Ausstellungskatalog, Grafische Sammlung der Tiroler Landesmuseen, 29.10.2021 - 23.01.2022, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2021, 352 S., ISBN 978-3-422-98802-6, EUR 42,00
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Welch glückliche Fügung möchte man annehmen, dass nun endlich die fachliterarische Lücke geschlossen wird, die ein genuines Anliegen der Zeichnungswissenschaft darstellt: die "Passepartout-Notizen". Das sind handschriftliche Notate zur Zuschreibung, die der kundige Betrachter einer Zeichnung auf dem rahmenden Passepartout hinterlässt. Doch zu früh gefreut!
Blättert man in den Katalog hinein und begnügt sich nicht mit der Methode des Journalisten Barbet in Balzacs Roman Verlorene Illusionen, das Rezensionsexemplar ungelesen weiterzuverkaufen, dann stößt man nach dem Vor- auf das Geleitwort, in dem der Leiter der Innsbrucker Grafischen Sammlung Ralph Bormann verkündet, im "Zeitraffer" dem komplexen Vorgang beizukommen (11). Sein Verfahren, die digitalisierten Zeichnungen den ausgewählten Experten mitsamt den traditionellen Zuschreibungen zur Begutachtung zukommen zu lassen, um deren Urteil zu befragen, erscheint weit davon entfernt, was die Passepartout-Notiz in situ ausmacht. [1] Diese durch unmittelbare Anschauung geprüften Werke können keineswegs durch "PDF-Scrollen" und "Ferndiagnostik" (Sonja Brink) ersetzt werden. Und das Ganze als "Vorgeschmack" auf eine zukünftige "direkte Begegnung mit den Objekten" (45) zu verkaufen, klingt allzu euphemistisch. So verlockend und fortschrittlich diese Methode erscheint, mit der digitalen Prüfung des Originals verschiebt sich der Gehalt des Begriffs "Passepartout-Notiz" und der Authentizitätsanspruch der Werke wird obsolet.
"Zerstreuung und Kennerschaft" betitelt Ralf Bormann seinen Beitrag (15-42), streift kurz die Sammlungsgeschichte der Zeichnungen, die Entwicklung der Grafischen Abteilung, die bisherigen Ausstellungsaktivitäten und ergeht sich in drei Kapiteln über das, was eine Zeichnung sei und die Bedingungen der Erkenntnis dessen, was ihr als Kunstwerk zu eigen wäre. Dabei scheut er sich nicht, in erkenntnistheoretische Gefilde einzutauchen und sich des Zitatenschatzes einer Vielzahl von Geisteswissenschaftlern, Philosophen, Schriftstellern, Lyrikern und Kunsthistorikern zu bedienen. Gar Heraklit (30) und Platon (36) werden zur Wahrheitsfindung bemüht, im "Walten des Seienden" und der "Wiedererlangung ureigenen Wissens" der Zeichnung näherzukommen. Nietzsche springt ihm bei mit seiner "frei dichtenden (...) Mittelkraft", um im "Gefüge der Passepartoutnotizen" das "geheimen Band zwischen dem Kunstwerk und seinen Betrachtern" zu entdecken (36).
Dem Rezensenten fällt es schwer, sich durchs Dickicht der Zitationen zu quälen und im Wortgetöse des um sich selbst kreisenden Genius Standfestigkeit zu behalten. Mit episch ausufernden Metaphern und unsäglichen 'Heideggereien' wird hier Ars magna sciendi verhandelt. Kurzum ein ungenießbarer Text, der jeden Lesefluss hindert, geschweige denn, Leselust entfacht.
Bei Heiko Damm allerdings geht es mit "Erinnern und Erfinden: Versuch über das Zuschreiben von Zeichnungen" in medias res (45-66). Damm arbeitet überzeugend heraus, wenn auch seine Ausführungen etwas langatmig erscheinen, was es mit dem kennerschaftlichen Zugang zu unbekannten Zeichnungen auf sich hat und welche Verfahren üblich sind, um Zuschriften zu erlangen. Dabei weist er sachverständig auf das Instrumentarium zur Beurteilung und Identifikation einer Zeichnung hin, bzw. zeigt Wege auf, der Urheberschaft des zu untersuchenden Objektes nahe zu kommen. Über die "erste sachliche Klassifikation des Materials", in der die "technischen Besonderheiten", wie Zeichenmaterial, Vorzeichnungen, Pentimenti, Überklebungen, Beschriftung, Sammlerstempel usw. eruiert werden, muss ein Abgleich mit dem "Expertenwissen" und der "Seherfahrung" des Begutachtenden stattfinden, um eine Namensfindung zu erlangen. Entscheidend sei, so der Autor, das "abrufbereite Wissen" und die Erfahrung mit den piktoralen Werken, sowie fundierte Kenntnisse der Malerei (46-47).
Mit Fallbeispielen aus der eigenen Praxis verdeutlicht er den Findungsprozess und bekräftigt die je unterschiedlichen Methoden des Connoisseurship (50-56). Die Verifizierung mündet in einen Vorschlag auf dem Passepartout, der als schlichter Autorenname, dessen Umkreis, einer Schule oder einer detaillierten Notiz mit Vergleichsbeispielen schließt. Am Ende seiner Ausführungen geht Damm nach einer Zusammenfassung der "Grundsätze" zur Zeichnungskennerschaft, wie Überprüfung und Korrektur der vorliegenden Zuschreibung, der Bezug zu vergleichbaren Blättern oder Kunstwerken, usw., in einem Appendix mit eigenen Beurteilungen auf mehrere im Innsbrucker Katalog vorgestellte Zeichnungen ein. Hier fällt auf, dass es mit der Notiz allein nicht getan ist. Eine Nachschau und Überprüfung der Hinweise am Original, sowie erneute, eventuell korrigierte Stellungnahme, sind unabdingbar (58-62).
Im Katalog (69-349) kommt es nur selten zu einer einmütigen Übereinstimmung der Namensgebung, wie es im Fall der Hl. Familie (traditionell Palma il Giovane, nun Cesare Pollini zugeschrieben) durch acht Experten geschehen ist (136, Kat.-Nr. 25); oder auch zu eindeutiger Zuschreibung, am Beispiel der Federzeichnung Samson erschlägt die Philister an Palma il Giovane durch Maria Aresin, die aufgrund der signifikanten Handschrift keinen Widerspruch erfährt (144, Kat.-Nr. 28). Bei manchen Blättern gibt es einen schweren Schlagabtausch der Meinungen, wie bei dem Giulio Carpioni gegebenen Blatt Brandopfer (246, Kat.-Nr. 66), das Catherine Loisel an Guglielmo Cortese vergibt, Damm dagegenspricht, Brink ins Französische wechselt, Rosenberg dieses ablehnt und Simonetta Prosperi Valenti Rodinó zurückführt auf Cortese. Auch gibt es alte Zuschreibungen in der Sammlung ("Italienisch"), bei denen das Auge des Connoisseurs passen muss, wie das Blatt Maria mit Kind (160, Kat.-Nr. 34); seltener kommt es zu einer Bestätigung der alten Zuschreibung (178, Kat.-Nr. 41). Viele Zuweisungen bleiben offen oder behalten ihre traditionelle Bewertung.
Dass Passepartout-Notizen subjektiv präzisiert werden, kommt auch in der digitalen Variante vor, so: "Ja, früher Fetti" und "Schöne Erweiterung der Erkenntnis unseres Zeichners" (Damm, 178, Kat.-Nr. 41), oder "ja erinnert an Gargiulo, ist aber schöner" und "sicher nicht Beinaschi" (Francesco Grisolia, 208, Kat.-Nr. 51; 222, Kat.-Nr. 56) oder ganz knapp "ja, Nebbia!" (Rhoda Eitel-Porter, 114, Kat.-Nr. 16). Auch mit Hinweisen auf eine Weiterführung der Recherche wird nicht gespart, wie "Man müsste sie mit ähnlichen skizzenhaften Zeichnungen des Künstlers vergleichen" (Christine Demele, 280, Kat.-Nr. 81).
Abschließend muss man mit Heiko Damm feststellen, dass eine digitale Betrachtung der Zeichnung nur schwerlich die "direkte Begutachtung von Originalen" ersetzen kann (46). Auch wenn die Handhabung des Digitalisats bestimmte Vorteile, wie die beliebige Vorlage und Vergrößerung des Objekts mit sich bringt, so reicht dies nicht hin, den im Studiensaal stattfindenden direkten Kontakt, sowie das Gespräch mit Kollegen aufzuwiegen.
Der Katalog ist ansprechend und übersichtlich gestaltet. Er informiert über ein Thema, das in der Kunstgeschichte bislang als Internum gehandelt wurde. Um Gewinn aus dem Katalog zu ziehen, muss man sich ans Faktische halten. In erster Linie ist der Katalog für berufsmäßig mit Zeichnungen Befasste gedacht. Den Kunstinteressierten wird es eher amüsieren, wie sich die Experten um die Zuschreibungs-Hoheit streiten.
Anmerkung:
[1] Die ca. 1.000 traditionell italienischen Künstlern zugeschriebenen Zeichnungen sind nicht passepartouriert, tragen somit nur wenig Notizen und Namens-Vorschläge, was die Titelei fragwürdig erscheinen lässt.
Dietmar Spengler