Roland Bernhard: Geschichte für das Leben lernen. Der Bildungswert des Faches in den Überzeugungen österreichischer Lehrkräfte (= Geschichtsunterricht erforschen; Bd. 13), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2021, 208 S., ISBN 978-3-7344-1231-8, EUR 29,90
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Mit "Geschichte für das Leben lernen" legt Roland Bernhard eine zweite Publikation aus den Arbeiten zu seiner Habilitation vor: Sie thematisiert die Überzeugungen von österreichischen Lehrpersonen Neuer Mittelschulen und Gymnasien zur "Philosophie des Faches" Geschichte. [1] Die Arbeit entstand im Zusammenhang mit dem vom "FWF Der Wissenschaftsfonds" geförderten Forschungsprojekt "Competence and Academic Orientation in History Textbooks (CAOHT)". [2] Mit der Konzentration auf den "Bildungswert" des Faches in den Überzeugungen der Lehrpersonen gelingt es Bernhard, in einer gut lesbaren und angenehm schmalen Publikation seine diesbezüglichen Resultate vorzustellen.
Nach der Einleitung präsentiert der Autor die theoretische Rahmung (Kapitel zwei), ordnet darin seine Forschungsfragen ein (Kapitel drei), entwirft das Untersuchungsdesign (Kapitel vier), um sich dann der Präsentation der Ergebnisse (Kapitel fünf), deren Diskussion und einem Fazit (Kapitel sechs) zuzuwenden. Nach der Darlegung bisheriger Forschungen zu Überzeugungen - eine zeitgleiche Diskussion und empirische Erforschung blieb unberücksichtigt [3] - fügt Bernhard den epistemologischen und Lehr-Lern-Beliefs eine dritte Kategorie "Philosophie des Faches" hinzu, die er in die Nähe des Sinns von Geschichtsunterricht oder der Zielorientierung rückt. Demzufolge formuliert er Fragen nach darauf bezogenen Überzeugungen, dem Bildungswert von Geschichte und dementsprechend danach, was im Fach Geschichte gelernt werden soll. Damit sollen die Zusammenhänge zwischen Überzeugungen zur "Philosophie des Faches" und solchen zu den Verständnissen fachspezifischer Kompetenzorientierung [4] hergeleitet werden.
Mittels Leitfadeninterviews werden 50 Lehrpersonen der Sekundarstufe I aus der Umgebung von Wien befragt. Dieses Konvenienzsample beinhaltet laut Autor eine starke Vertretung an sehr motivierten und für kompetent eingeschätzten Lehrpersonen. Die Aufschlüsselung nach Geschlecht, Altersgruppe und Schultyp hätte mit verfügbaren statistischen Daten zu Lehrkräften in Österreich allerdings abgeglichen werden können, um die befragte Gruppe besser einordnen zu können.
Der Leitfaden des Interviews enthielt sieben Fragen. Die Antworten zu den ersten zwei, die im Hinblick auf die "Philosophie des Faches" ausgewertet wurden, fielen laut Bernhard ausführlich aus. Die sprachliche Formulierung der Fragen spiegelt das (sprachliche) Bemühen ("erzählen sie mal"), den Interviewten Sicherheit zu geben (55). Dies, die vorausgehende "Aufwärmphase" und punktuell tendenziöse Fragen ("es gibt manchmal den Vorwurf, ..."; "Das Zauberwort in der Geschichtsdidaktik ist derzeit Kompetenzorientierung. ...") könnten aber auch dazu geführt haben, dass zwischen der Ebene des Gesprächs und der anvisierten Ebene einer "Philosophie des Faches" eine die Ergebnisse beeinflussende Differenz entstanden sein könnte.
Die Auswertung der Daten erfolgte mithilfe von MaxQDA. Für die beiden Codes "Wichtig im Geschichtsunterricht" und "Für das Leben lernen" wurde anschliessend induktiv eine grundlegende Struktur gesucht. Die damit erzielten Subkategorien wurden mithilfe geschichtsdidaktischer Literatur deduktiv weiter differenziert.
Die Ergebnispräsentation folgt den beiden zentralen Codes und darin den vier induktiven Kategorien "Gegenwartsbezug", "grundlegendes Basiswissen aufbauen", "politische Handlungsfähigkeit aufbauen", "kritisches Denken/ Hinterfragen lernen". Die Subkategorien werden mit Interviewauszügen ausführlich dargeboten. Ohne hier auf Inhalte einzugehen, müssen summarische Bemerkungen gemacht werden: Bei der Codeentwicklung, die aufgrund geschichtsdidaktischer Konzepte vorgenommen wird, fällt auf, dass die Wahl von zitierten Autoren nicht begründet wird und Bernhard den Eindruck erweckt, die (internationale) Geschichtsdidaktik habe eine einheitliche Konzeption des Historischen Denkens. Einbezogen werden dann auch Festlegungen in den österreichischen Lehrplänen oder angelsächsische fachunspezifische Diskussionen. Diese Kombination verdeckt Entscheidungen, die Bernhard für seine Analyse trifft, beziehungsweise erweckt den Eindruck eines eklektischen Vorgehens. Zudem berücksichtigt er prozedurales Wissen nicht, da dieses nahe den in seiner Publikation von 2020 analysierten Kompetenzen sei. Dies hat aber Auswirkungen auf das sich ergebende Bild der Überzeugungen der "Philosophie des Faches", indem relevante Orientierungen vernachlässigt werden. Als problematisch erweist sich die Zuordnung von Äusserungen der Lehrpersonen zu geschichtsdidaktischen, theoretisch hergeleiteten Konzepten, was sich etwa beim "kritischen Denken" zur De-Konstruktionskompetenz nach dem FUER-Modell (etwa 138-141) zeigt, indem die Zitate eben gerade kein fachliches Verständnis dieses "kritischen Denkens" verraten. Überhaupt fällt auf, dass die Lehrpersonen kaum fachsprachliche Begriffe oder Konzepte verwenden. Vielmehr sind es alltagssprachlich oder allgemeindidaktisch vorgebrachte Zielvorstellungen, die geschichtsdidaktisch interpretiert und den Codes zugeordnet werden, wobei dieser Sachverhalt nicht problematisiert wird.
Die abschliessende Interpretation zeigt deutlich, dass Lehrpersonen die Befassung mit Geschichte für die Orientierung und Handlungsfähigkeit in aktuellen (gesellschafts-)politischen Fragen als zentral erachten. Zudem betonen die Lehrpersonen, "Chronologie" sei wichtig und man halte deshalb auch dezidiert fest an einer - stark reduzierten - Kenntnis von "Fakten" (und Jahrzahlen). Dies nimmt Bernhard zum Anlass, die Diskussion um den Stellenwert von Wissen, von ihm als Dichotomie zwischen Kompetenz und Wissen dargestellt, anzuschneiden. Nicht nur mit dem expliziten Ziel einer politischen Handlungsfähigkeit und der Aussage, "Schlüsselthemen" (Antisemitismus / Fremdenfeindlichkeit, Migration) behandeln zu wollen, visieren Lehrpersonen eine gesellschaftlich-politische Relevanz von Geschichte an. Dabei fällt auf, dass sie kaum fachlich argumentieren; sie scheinen fachliche Argumentationen zum Zusammenhang zwischen Vergangenheit/Geschichte, Gegenwart und Zukunft kaum zu kennen und begründen die Relevanz von Geschichte nicht mit der Theoretisierung von "Historischem Denken", sondern mit einem vagen aufklärerischen Bildungsdiskurs, wie dies denn auch in der Zielvorstellung des "kritischen Denkens" exemplarisch deutlich wird. Dieser mangelnden Fachlichkeit gibt Roland Bernhard in der Diskussion der Ergebnisse meines Erachtens viel zu wenig Gewicht, möglicherweise auch deshalb, weil sein Vorgehen gerade darauf abzielt, alltagssprachliche Aussagen der Lehrpersonen geschichtsdidaktisch zu verstehen und zu kategorisieren. Dies steht im Gegensatz zu seiner durchaus kritischen Sicht ganz am Schluss seiner Untersuchung, wobei er fehlende Fachlichkeit auf mangelnde Vertrautheit mit der theoretischen Grundlage der Kompetenzorientierung reduziert. Es ist ihm allerdings zuzustimmen, wenn er sagt, für die Geschichtsdidaktik gelte, "Lehrpersonen intrinsisch für das historische Denken zu motivieren" (191). Insgesamt bietet die lesenswerte Untersuchung ein aufschlussreiches Bild der Überzeugungen der Lehrpersonen zur Funktion von Geschichtsunterricht und damit auch zur Begründung ihres eigenen Wirkens.
Anmerkungen:
[1] Roland Bernhard: Berufsbezogene Überzeugungen österreichischer Geschichtslehrpersonen und historisches Denken. Habilitationsschrift Universität Salzburg, Februar 2019. Ms.
[2] Das Projekt (27859-G22) wurde geleitet von Christoph Kühberger, zuerst an der Pädagogischen Hochschule Salzburg (09/2015 - 09/2017) und dann an der Universität Salzburg (10/2017-09/2019) https://www.plus.ac.at/wp-content/uploads/2021/02/CAOHT_Final_Report_05-2020_hp.pdf, (zuletzt aufgerufen am 30.03.2022).
[3] Martin Nitsche: Beliefs von Geschichtslehrpersonen - eine Triangulationsstudie (Geschichtsdidaktik heute 10), Bern 2019.
[4] Roland Bernhard: Von PISA nach Wien. Historische und politische Kompetenzen in der Unterrichtspraxis. Empirische Befunde aus qualitativen Interviews mit Lehrkräften, Frankfurt am Main 2020.
Béatrice Ziegler