Michael Wengraf: Die Schule der Kapitulation. Kritische Theorie und Studentenbewegung 1968, Kassel: Mangroven Verlag 2021, 203 S., ISBN 978-3-946946-27-4, EUR 21,00
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Förderverein für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung e. V. (Hg.): Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968 bis 1988. Arbeit - Bewegung - Geschichte. Zeitschrift für historische Studien 2016/I, Berlin: Metropol 2016
Charles Reeve: Der wilde Sozialismus. Selbstorganisation und direkte Demokratie in den Kämpfen von 1789 bis heute. Aus dem Französischen übersetzt von Felix Kurz, Hamburg: Edition Nautilus 2019
Die Ereignisse von 1968 bewegen noch immer die Gemüter. Trotz jahrzehntelanger Debatten erscheinen jedes Jahr neue Bücher, die die Revolte neu zu interpretieren suchen. Wurde die Studenten- und Lehrlingsbewegung anfangs vor allem als extremistische Gefahr für die bundesrepublikanische Demokratie gedeutet, wandelte sich die Rezeption in der Folgezeit zusehends. Aus '68 wurde eine Bewegung der "Fundamentalliberalisierung" (Jürgen Habermas), die die verknöcherten und miefigen Adenauer-Jahre endgültig hinwegfegte und in der Bundesrepublik westlich-demokratische Werte durchsetzte. Doch anschließend wurde diese Bewertung zunehmend angezweifelt und die 68er mutierten zu Nachzüglern einer bereits zuvor vonstattengehenden Reformphase, auf die sie nur, wie auf einen fahrenden Zug, aufgesprungen wären.
Der österreichische Journalist und Historiker Michael Wengraf sieht nun in seinem hier besprochenen Buch in den Ereignissen Ende der 1960er Jahre "den Startschuss für die 'rechte Revolution' und den in ihrem Rahmen erfolgenden Triumph des Neoliberalismus" (9). Er konzentriert sich dabei auf den Einfluss, den die Kritische Theorie auf die rebellierenden Studierenden hatte. In den drei Hauptkapiteln widmet er sich jeweils dem Verhältnis eines Kritischen Theoretikers zur Bewegung, und zwar Herbert Marcuse, Max Horkheimer und Jürgen Habermas. Trotz den Unterschieden zwischen diesen Denkern ist für ihn die Kritische Theorie als Ganzes bestimmt als "kleinbürgerlich", "reformistisch" "resignativ-pessimistisch" und "passiv", sie zeichne sich aus durch "tatenlose Beliebigkeit" und bestehe aus einer "tiefen Hoffnungslosigkeit". Diese Eigenschaften machten sie zu einer "der 'theoretischen Vorbedingungen' des Scheiterns" (9) der Bewegung. Dennoch sieht Wengraf die Kritische Theorie und die Studentenbewegung als erfolgreich an. Sie hätten "dem Kapitalismus zu einem bitter benötigten Modernisierungsschub" (67) verholfen und heute zu einer "scheinbare[n] Herrschaft eines linken Zeitgeists" (23) geführt, der sich als kulturelle Hegemonie progressiver Intellektueller über die von ihnen verachteten Unterschichten materialisiert. Diese Herrschaft gebe sich progressiv, antirassistisch und minderheitenfreundlich. Sie repräsentiere einen "zur Staatsideologie mutierte[n] Antifaschismus" (137) und habe doch nur in eine "Gesundheitsdiktatur" geführt, "wie sie 2020/21 anlässlich der 'Corona-Pandemie'" errichtet worden sei (40). Michael Wengrafs Einschätzung der heutigen politischen Linken erinnert dabei nicht nur an dieser Stelle frappierend an Positionen, wie sie etwa von der Linkspartei-Politikerin Sahra Wagenknecht vertreten werden. Sein originärer Beitrag zu dieser Argumentation ist die Lokalisierung des ursprünglichen Ausgangspunktes dieser "modernen Kulturlinken" in der Kritischen Theorie. Er geht damit auch über die von ihm zustimmend zitierte traditionskommunistische Kritik an der Frankfurter Schule, etwa eines Wolfgang Harich, Hans Heinz Holz oder Robert Steigerwald hinaus, die diese meist nur als reformistisch, bürgerlich oder anarchistisch charakterisierten.
Doch die Hauptschwäche in der Argumentation Michael Wengrafs liegt darin, dass er die Kritische Theorie, den antiautoritären Flügel der Studentenbewegung, die meisten Zerfallsprodukte von 1968, die Neuen Sozialen Bewegungen, die Partei der Grünen und weitere Strömungen und Fraktionen als ein einheitliches theoretisches und praktisches Subjekt fasst. Er wirft dies alles in einen Topf und baut sich damit einen Pappkameraden, gegen den sich leicht argumentieren lässt. Dabei treffen viele Vorwürfe, die er gegen die antiautoritären Studenten von 1968 erhebt, gar nicht sie selbst, sondern die erst aus den Niederlagen der Bewegung entstandenen Zerfallsprodukte. So erfolgte etwa der "Abschied vom Proletariat" (Andre Gorz) erst mit den Neuen Sozialen Bewegungen in den 1970er und 1980er Jahren. Denn trotz der Berufung auf Marcuses Randgruppentheorie und Charles Wright Mills Einschätzung der Intellektuellen als historische Agentur der Veränderung gingen die antiautoritären Studierenden, wie Marcuse selbst auch, davon aus, dass eine revolutionäre Umgestaltung in den Industriestaaten ohne die Arbeiterklasse nicht möglich wäre. Um die in den 1960er Jahren offensichtliche Integration großer Teile des Proletariats in die "eindimensionale Gesellschaft" (Herbert Marcuse) zu durchbrechen, hofften die Antiautoritären dagegen auf die katalysatorische Wirkung der Proteste der nichtintegrierten Randgruppen. Und die Rolle der Intellektuellen wurde gerade in Frankfurt intensiv im Kontext der Frage des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters diskutiert. Die gestiegene Bedeutung, die die Kopfarbeiter im gesamtökonomischen Prozess und damit in der Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse im Spätkapitalismus übernehmen, sollte analysiert werden. Es zeigte sich hier also keine intellektuelle Verachtung der proletarisierten Unterschichten, sondern es ging den Revoltierenden von 1968 um die Wiedergewinnung der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse unter den veränderten Bedingungen der Zeit. Dies steht im schroffen Widerspruch zu den Positionen einer der wichtigsten Zerfallsprodukte, die aus der Niederlage der Bewegung hervorgegangen ist. Die neoleninistischen K-Gruppen griffen unreflektiert auf die traditionalistischen Klassenvorstellungen der 1920er Jahre zurück und zementierten mit der Avantgarderolle der Partei der Berufsrevolutionäre die Vormachtstellung der bürgerlichen Intellektuellen über die Arbeiter. Vor allem der von Michael Wengraf im Buch oftmals positiv als Gegenpol zu den Positionen der Kritischen Theorie zitierte Hans-Jürgen Krahl bemühte sich um eine zeitgemäße Klassentheorie [1]. Im Gegensatz zu Wengrafs scharfer Gegenüberstellung lässt sich Krahl, der nicht umsonst Adornos Lieblingsschüler war, als Vertreter einer dritten Generation der Kritischen Theorie verstehen.
Dass es der herrschenden Wirtschaftsweise gelungen ist, Organisations- und Verhaltensformen etwa aus den Alternativbetrieben der 1970er und 1980er Jahre zu übernehmen und daraus einen "neuen Geist der Kapitalismus" (Luc Boltanski und Ève Chiapello) zu formen, zeigt die integrative Stärke der ökonomischen Verhältnisse. Doch können diese Modernisierungstendenzen weder der Kritischen Theorie noch der antiautoritären Bewegung angelastet werden. Die Antiautoritären setzten stattdessen auf einen revolutionären Bruch mit den herrschenden Verhältnissen, und es gab bereits frühzeitig innerhalb der Bewegung Warnungen vor integrativen Tendenzen, man denke etwa an die vielrezipierten Überlegungen der Situationistischen Internationalen über die sogenannte Rekuperation.
Insgesamt lässt sich also sagen, dass Michael Wengraf in seinem Buch mit der Kritischen Theorie und der antiautoritären Bewegung die Falschen für den "neoliberalen Triumph" verantwortlich macht, nämlich genau diejenigen, die für das Verständnis der "Gesellschaft des Spektakels" (Guy Debord) mit am meisten beigetragen haben.
Anmerkung:
[1] Vgl. Meike Gerber / Emanuel Kapfinger / Julian Volz (Hgg.): Für Hans-Jürgen Krahl. Beiträge zu seinem antiautoritären Marxismus, Wien / Berlin 2022.
Jens Benicke