Sven Gringmuth: Was war die Proletarische Wende? Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der bundesrepublikanischen Linken, Münster: Westfälisches Dampfboot 2021, 442 S., ISBN 978-3-89691-049-3, EUR 44,00
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Förderverein für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung e. V. (Hg.): Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968 bis 1988. Arbeit - Bewegung - Geschichte. Zeitschrift für historische Studien 2016/I, Berlin: Metropol 2016
Charles Reeve: Der wilde Sozialismus. Selbstorganisation und direkte Demokratie in den Kämpfen von 1789 bis heute. Aus dem Französischen übersetzt von Felix Kurz, Hamburg: Edition Nautilus 2019
Max Brym: Mao in der bayerischen Provinz, Waiblingen: SWB Media Entertainment 2019
Die sogenannte Proletarische Wende dürfte heutzutage selbst innerhalb der deutschen Linken vielen kein Begriff mehr sein. Dabei hatte sie in den Jahren 1969/70 einen beträchtlichen Einfluss auf große Teile der aus dem antiautoritären Flügel der 68er-Bewegung hervorgegangenen linken Strömungen. Die Proletarische Wende beschreibt einen Ablösungsprozess im Theoriebezug, der auch gravierende Auswirkungen auf die Praxis der aus der Studentenbewegung hervorgegangenen Gruppen hatte. Die sich 1966/67 im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) durchsetzende antiautoritäre Strömung nahm inhaltlich starken Bezug auf dissidente Stimmen innerhalb der Arbeiterbewegung, wie etwa den westlichen Marxismus. In Deutschland war vor allem der Einfluss der Kritischen Theorie, der sogenannten Frankfurter Schule, wirkmächtig. Mit dem von der Presse zum "Idol der Studenten" [1] ausgerufenen Herbert Marcuse gingen die Antiautoritären davon aus, dass die Arbeiterklasse in den Industriegesellschaften des globalen Nordens in die "eindimensionale Gesellschaft" [2] integriert sei und dass zu deren Revolutionierung katalysatorisch wirkende Milieus, wie Intellektuelle und aus der Gesellschaft herausfallende Randgruppen, notwendig seien. Aus dieser Analyse ergaben sich dann auch neue Betätigungsorte der Antiautoritären, zum einen die Universität, die sich auch deshalb anbot, da es sich um eine studentische Bewegung handelte, und zum anderen die Arbeit mit Randgruppen, etwa Jugendlichen in Erziehungsheimen. Daneben versuchten die Antiautoritären unter Berufung auf die Kritische Theorie, autoritäre Charakterstrukturen bei sich selbst abzubauen. Dies sollte in den Aktionen mittels "Aufklärung durch die Aktion", durch veränderte Wohn- und Lebensverhältnisse, etwa in Kommunen und Wohngemeinschaften, sowie in der Erziehung durch Kinderläden erreicht werden.
Diese Theorie und Praxis kamen durch die Proletarische Wende zu einem abrupten Ende. Bestärkt durch zwei bedeutende Ereignisse wandelten sich die inhaltlichen Grundlagen großer Teile der ehemals antiautoritären Linken: zum einen durch die als "Septemberstreiks" bekannt gewordene wilde Arbeitskampfwelle in der westdeutschen Industrie im Herbst 1969 und zum anderen durch die bereits zuvor im selben Jahr erfolgte Regierungsübernahme der sozialliberalen Koalition.
Nun stützten sie sich nicht mehr auf dissidente Strömungen am Rande der sozialistischen Bewegung, sondern auf die "sozialistischen Klassiker" Marx, Engels, Lenin und Stalin, ergänzt durch den chinesischen Revolutionsführer Mao Zedong. Infolgedessen verorteten sie das revolutionäre Subjekt einzig in der industriellen Arbeiterklasse. Um diese zu organisieren und anzuleiten, gründeten sie kommunistische Kleinstparteien und Bünde, die sogenannten K-Gruppen.
Sven Gringmuth zeigt diese Entwicklung in seiner umfangreichen Studie vor allem anhand der Diskussionen im wichtigsten Organ der Westberliner Linken, der "Roten Presse Korrespondenz". Diese Zeitschrift entwickelte sich innerhalb von nur zwei Jahren von einer strömungsübergreifenden Diskussionsplattform der außerparlamentarischen und antirevisionistischen Linken zum Zentralorgan des Kommunistischen Studentenverbandes (KSV), der Hochschulorganisation der Kommunistischen Partei Deutschlands/Aufbauorganisation (KPD/AO).
Gringmuth betont in seinem Buch stark die Kontinuitäten und die bereits in der antiautoritären Phase angelegten Elemente, die auf die spätere Entwicklung hinwiesen und argumentiert damit gegen Autorinnen und Autoren, die stärker den Bruch innerhalb der Bewegung hervorheben. Dies festzuhalten, ist sicherlich wichtig, aber der Autor übersieht dabei den nicht zu unterschätzenden Einfluss, den die Grenze spielte, an die die Bewegung auf ihrem Höhepunkt im Jahr 1968 stieß. Diese Grenze betraf zum einen den Erfolg, den die Antiautoritären hatten. Denn es war ihnen zwar einerseits gelungen, sich durch ihre provokativen Proteste von einem nur wenige hundert Studierende umfassenden linksintellektuellen Milieu in Westberlin zu einer die gesamte Bundesrepublik umfassenden Jugendrevolte auszubreiten. Diese Entwicklung sprengte aber quantitativ die Mitgliederorganisation des SDS und die antiautoritären Clubs und Diskussionszirkel. Andererseits betraf die Grenze den Misserfolg der Proteste. So konnten zentrale Ziele, wie die Verhinderung der Notstandsgesetze oder die Brechung der Markt- und Meinungsmacht des Springerkonzerns nicht erreicht werden. Die Bewegung verblieb im Rahmen eines Jugendprotests. Größere Teile der Arbeiterklasse konnten, anders als in Frankreich oder Italien, nicht mobilisiert werden. Ganz im Gegenteil schlug den antiautoritären Protestierenden in der Bundesrepublik oftmals offene Ablehnung entgegen. Aus diesem Grund lässt sich die Wirkung, die die Septemberstreiks auf die Bewegung hatten, gar nicht hoch genug einschätzen. Drastisch formulierte es die Redaktion des "Roten Morgens", des Zentralorgans der Kommunistischen Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten: "Man kann sagen, dass die streikenden Kumpels Marcuse, Habermas, usw. ideologisch getötet haben" [3].
In Deutschland führte die Proletarische Wende in großen Teilen der Bewegung zu einer Retraditionalisierung und Abwendung von dissidenten Marxismusrezeptionen, im Unterschied wiederum zu Italien und Frankreich. Ausnahmen waren die sich auf den Operaismus beziehenden Spontis und das "Sozialistische Büro", auf die Gringmuth aber nur wenig beziehungsweise gar nicht eingeht. Bedeutender als die Hinwendung zur Arbeiterklasse, die für eine Ausweitung der Proteste unerlässlich war - dies hatte im Übrigen auch schon Marcuse angemerkt - war der Wandel von einer antiautoritären Bewegung zu den zutiefst autoritären stalinistischen Parteien und Bünden. Nicht der Wechsel von den Randgruppen zu den Arbeitern änderte den Charakter der Bewegung grundlegend, sondern der Weg von Marcuse zu Mao.
Insgesamt betrachtet hat Sven Gringmuth mit seinem materialreichen Buch, hier seien vor allem die zahlreichen Abbildungen erwähnt, den Fokus auf ein wichtiges Thema gerichtet, das bisher in der historischen Forschung noch zu wenig Beachtung gefunden hat: die Entwicklung von der antiautoritären Jugendbewegung der 1960erJahre zu den linken Szenen der Siebziger.
Anmerkungen:
[1] DIE ZEIT vom 21.07.1967, zit. nach Wolfgang Kraushaar: Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail. 1946-1995, Bd. 1, Hamburg 1998, 268.
[2] Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (= Schriften; Bd. 7), Frankfurt/M. 1989.
[3] Roter Morgen vom September 1969: "Jetzt spricht die Arbeiterklasse", 2; www.mao-projekt.de/BRD/ORG/GRM/Roter_Morgen/RM_1969_08.shtml [14.07.2021].
Jens Benicke