Florian Eßer: Schisma als Deutungskonflikt. Das Konzil von Pisa und die Lösung des Großen Abendländischen Schismas (1378-1409) (= Papsttum im mittelalterlichen Europa; Bd. 8), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019, 874 S., ISBN 978-3-412-51332-0, EUR 120,00
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Es gibt historische Ereignisse, die von späteren nicht einfach nur überstrahlt, sondern regelmäßig lediglich als deren Vorgeschichte gelesen werden. So verhält es sich mit dem Konzil, das 1409 in Pisa stattfand, um das seit 1378 bestehende Schisma zu beenden. Gemeinhin wird es lediglich als Vorspiel vom Konzil von Konstanz gelesen. Zudem gilt es als misslungen, da es, statt das Problem der zwei konkurrierenden Päpste zu lösen, die Lage verschlimmerte, indem es mit Alexander V. einen eigenen Papst erhob. Doch weder diesem noch seinem Nachfolger Johannes XXIII. sollte es gelingen, die jeweiligen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen und sich die Unterstützung der gesamten lateinischen Christenheit zu sichern. Erst in Konstanz wurden die nunmehr drei Päpste abgesetzt und mit Martin V. ein nahezu einhellig anerkannter neuer gewählt. Wenn das Pisanum in den letzten Jahrzehnten monographisch gar nicht und in Handbüchern allenfalls beiläufig behandelt wurde, darf man tatsächlich von einem Desiderat sprechen, denn für die Geschichte der Schismazeit wie für diejenige der Konzilien des Spätmittelalters stellt Pisa eine wichtige Wegmarke dar. Das demonstriert die aus einer Aachener Dissertationsschrift hervorgegangene Arbeit von Florian Eßer eindrucksvoll.
Der Bedeutung des Themas entsprechend ist ein gewichtiges Buch entstanden, das sein reiches Material überzeugend organisiert. Im Zentrum stehen zwei Hauptteile, deren erster sich mit der Vorgeschichte des Pisaner Konzils befasst: Gezeigt wird, wie die via concilii bis 1408 zunächst als eine mögliche Lösung für das Schisma diskutiert wurde, bevor sie schließlich immer stärker in den Vordergrund trat. Anschließend wird das Pisaner Konzil selbst ausführlich dargestellt. Kulturgeschichtlich ausgerichtete Untersuchungen zur Liturgie und der Abbildung von Rang in Prozessionen und Sitzordnungen verbinden sich mit einer detaillierten Rekonstruktion der Verhandlungen auf dem Konzil. Gerahmt werden die beiden Hauptteile von einer Einleitung, die das Konzept der Studie in Auseinandersetzung mit der Forschung skizziert, und einem Schlusskapitel, das die Ergebnisse anhand der Frage resümiert, inwiefern von Konziliarismus zu sprechen sei und welche Alternativen sich anböten. Es folgt ein Anhang mit bislang ungedruckten Quellen, darunter Briefen der Pariser und Wiener Universitätsgesandten, Aufzeichnungen zum Konzil aus einer Würzburger Handschrift und zwei Notizen Pierre d'Aillys als einem der führenden Theologen auf dem Konzil.
Das Buch kann nicht nur mit einem durchdachten Aufbau und einem gut lesbaren Stil, sondern auch mit einer klaren Thesenbildung aufwarten, die argumentativ überzeugend durchgeführt ist. Demnach versuchten beide Seiten zu Beginn des Schismas, ihre Deutung der Lage durchzusetzen. Ziel sei es gewesen, möglichst viele Anhänger zu gewinnen und den Gegner zu überwinden. Zwar sei bereits früh darüber nachgedacht worden, inwiefern ein Konzil eine Lösung bringen könne, in den ersten Jahrzehnten des Schismas habe jedoch keine Einigkeit über dessen Form bestanden: Sollte es sich lediglich um die Synode einer Obödienz handeln? Sollte einer der Päpste dieses einberufen? Hatte das Konzil den Papst zu beraten, oder sollte es eine Entscheidung über die Legitimität einer Partei bringen? Als es nach dem Tod Clemens VII. zu einer Neuwahl in der avignonesischen Obödienz gekommen sei, sei allenthalben die Einsicht gereift, dass man den Deutungskampf kaum werde gewinnen können. Nun suchte man nach einer Lösung des Schismas, wollte aber zugleich sicherstellen, dass man selbst nicht zu den Verlierern gehörte. Hätten die avignonesischen Kardinäle und Frankreich nach der Wahl Benedikts XIII. zunächst die via cessionis favorisiert, also den Amtsverzicht der Päpste, habe sich auch diese als kein gangbarer Ausweg erwiesen. Denn alle vor einem Konklave von den Kardinälen abgelegten Versprechen, im Falle einer Wahl zum Papst das Amt aufgeben zu wollen, wenn der Konkurrent ebenfalls dazu bereit wäre, hätten sich in der Praxis als leer erwiesen. Eine Einigung sei daran gescheitert, dass weiterhin gemäß der Logik der Obödienzen agiert worden sei. Erst 1408 habe das Konzil als Lösungsweg unter den Kardinälen beider Obödienzen sowie unter Gelehrten und weltlichen Machthabern immer mehr Anhänger gewonnen, denn es habe ein neues, gerade aus kardinalizischer Sicht attraktives Deutungsschema ermöglicht: Man habe die Schuld an der verfahrenen Situation den konkurrierenden Päpsten zuweisen können. Wenn man diese als Häretiker verurteilte, wäre es möglich, sie aus dem Amt zu entfernen und einen neuen Papst zu wählen, der allgemein anerkannt wäre. So hätten die Interessen der Kardinäle und anderer wichtiger Kirchenmänner gewahrt bleiben können, da sie selbst nicht auf ihre Ämter, Pfründenbesitze und sonstige Ansprüche hätten verzichten müssen. In intensiven Verhandlungen und Diskussionen habe man eine geeignete Form für ein Konzil geschaffen, die 1409 in Pisa realisiert worden sei. Für das Selbstverständnis und die beabsichtigte Wirkung des Konzils sei es entscheidend gewesen, dass es als Repräsentation der Einheit der Kirche durchgeführt werde, als deren Träger sich die Kardinäle inszenierten. Mit der Verurteilung Benedikts XIII. und Gregors XII. sei der Weg frei gewesen, einen neuen Papst zu wählen und sich zugleich der Reform der Kirche zu widmen.
Letztlich sind es zwei Operationen, die im Zentrum von Eßers Auseinandersetzung mit dem Konzil stehen: Zum einen wird es als Lösung für ein Problem, nämlich das Schisma, verstanden, zum anderen wird das Schisma wesentlich als Konflikt von Deutungsschemata rekonstruiert, die sich zunächst als unvereinbar erwiesen hätten. Die via concilii war somit eine Lösungsstrategie für ein Problem, das auf andere Weise nicht bewältigt werden konnte. Wirksam war sie, weil sie erlaubte, die festgefahrenen Deutungen zu durchbrechen, indem Verantwortung neu verteilt und damit den Interessen der großen Mehrheit der Beteiligten Rechnung getragen wurde. Das Nachdenken über ein Konzil seit dem Ausbruch des Schismas ist für Eßer folglich praxisbezogen, insofern es Teil der Suche nach einer Lösung für ein gewaltiges Problem war. Praktisch war es auch insofern, als kein festgefügtes Bild, wie ein Konzil auszusehen habe, am Beginn stand, sondern vielmehr von verschiedenen Gruppierungen nach einer Form gesucht wurde, die verhieß, das Problem wirksam zu lösen. Während die klassische ideengeschichtliche Forschung zum Konziliarismus eine Priorität der Theorie annahm, die dann in die Praxis übertragen worden sei, zeigt Eßer, dass Überlegungen, ob und wie ein Konzil durchgeführt werden sollte, aus praktischen Notwendigkeiten erwuchsen. Einige Autoren begnügten sich jedoch nicht mit derartigen praxisnahen Lösungsvorschlägen, sondern begannen, in grundsätzlicher Weise über ihr Thema und damit auch über die Machtverhältnisse und die Struktur der Kirche nachzudenken.
Insgesamt liegt hier eine sehr überzeugende Darstellung des Pisaner Konzils vor, die nicht nur eine Forschungslücke schließt, sondern eine neue Perspektive auf das Schisma insgesamt eröffnet. Anhand des Konstanzer Konzils, aber auch auf das Basiliense wäre prüfen, wieweit Eßers Ansatz trägt. Erforderlich wäre dafür allerdings eine stärkere theoretische Fundierung der leitenden Hinsichten der Untersuchung. So überzeugend das Konzept des Deutungsschemas umgesetzt wird und so plausibel es ist, die via concilii als Suchen und Finden der Lösung für ein Problem zu verstehen, so fehlt doch eine theoriegeleitete Ausarbeitung dieser Konzepte. Sprach- und Kommunikationstheorie oder Narratologie böten sich dafür an. Dabei wäre kritisch zu überlegen, ob das Leitkonzept des Deutungsschemas nicht noch zu intellektualistisch angelegt ist. Denn wie Eßer in seiner Darstellung zeigt, ging es im Schisma nicht nur darum, Deutungen, sondern auch darum, fundamentale Ansprüche hinsichtlich von Macht, Legitimität und Geltung durchzusetzen, die gleichermaßen Überzeugungen und situierte Interessen einschlossen. Dass beide Seiten keinen Kompromiss finden konnten, lag insofern nicht nur an differierenden Deutungen, sondern vor allem daran, dass sich jede Partei mit ihren Entscheidungen auf einen bestimmten Pfad begeben und damit ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten beschränkt hatte. Das Konzil bot eine neue Handlungsoption, die zulasten der konkurrierenden Päpste realisiert wurde. Das Schisma war insofern mehr als ein Deutungskonflikt - wie man Eßers gelungener Arbeit selbst entnehmen kann.
Jan-Hendryk de Boer