Rezension über:

Jan Gerber / Graf Phillip / Pollmann Anna (Hgg.): Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein . Europa nach dem Holocaust , Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022, 535 S., ISBN 978-3-525-31736-5, EUR 55,00
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Rezension von:
Martin Jander
Berlin
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Martin Jander: Rezension von: Jan Gerber / Graf Phillip / Pollmann Anna (Hgg.): Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein . Europa nach dem Holocaust , Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 7/8 [15.07.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/07/36935.html


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Jan Gerber / Graf Phillip / Pollmann Anna (Hgg.): Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein

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Das jüngst veröffentlichte Buch der Historiker Jan Gerber, Philipp Graf und der Historikerin Anna Pollmann bildet mit seinen 20, miteinander verbundenen Einzelstudien zum Thema "Europa nach dem Holocaust" in der Forschungslandschaft eine große Ausnahme. Gewöhnlich werden zum Thema große Überblicke oder Einzelstudien publiziert. Das neue Buch verbindet beides und steht deshalb wie ein Solitär in der gegenwärtigen Forschungslandschaft.

Die Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden, so heißt es in dem im Vorwort vorgestellten Interpretationsrahmen des Buches, wurde nach 1945 in Europa zunächst in den Hintergrund gedrängt. Die "gegenläufigen Dynamiken von gesellschaftlichem Fortschritt und einer durch die atomare Gefahr in ihrer Gänze bedrohten Zukunft" (13) hätten sich vor die Wahrnehmung des Holocaust geschoben. Erst mit dem Ende des goldenen Zeitalters des Kapitalismus, mit der Ölkrise 1973, habe die gesellschaftliche Integrationswirkung des wirtschaftlichen Fortschritts und des damit verbundenen "Geschichtsoptimismus" nachgelassen. Jetzt wurde erneut der Blick in die Vergangenheit gerichtet und dem mit dem Holocaust verbundenen "Katastrophenbewusstsein" wieder Raum gegeben. Die Autoren verweisen zum Beispiel auf die "Schockwirkung" (16), die 1978/1979 die in Europa ausgestrahlte amerikanische Miniserie "Holocaust" auslöste.

Auffällig an diesem Narrativ zu Europa nach dem Holocaust ist, dass die Geschichte der Juden in den verschiedenen Gesellschaften in und außerhalb Europas, vor und nach dem Holocaust und die Formen der Leugnung des Holocaust, seine Trivialisierung, Rationalisierung und Universalisierung nach 1945 nicht angesprochen werden. Diese fehlenden Fragestellungen des Interpretationsrahmens haben Konsequenzen bis in die einzelnen Beiträge hinein. Drei sollen hier kurz vorgestellt werden.

Jan Gerber stellt den jüdisch-kommunistischen Schriftsteller Louis Fürnberg aus der Tschechoslowakei vor, der während des Nationalsozialismus ins britische Mandatsgebiet Palästina floh und nach seiner Rückkehr, im Gefolge der antisemitischen Säuberungen der 1950er Jahre, seine Heimat verließ und in die DDR umsiedelte. Dort avancierte er zum stellvertretenden Leiter der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten. Fürnberg gilt Gerber als Beispiel dafür, wie vergangene Nationalitätenkonflikte, in diesem Fall in der Tschechoslowakei, die Erfahrungen im Holocaust überlagern können. Im KZ-Buchenwald bei Weimar war Fürnbergs Bruder ermordet worden. In Weimar setzte Louis Fürnberg sich für die Rezeption des aus seiner Sicht kosmopolitischen Erbes Goethes ein. In der Tschechoslowakei hatte er das Lied "Die Partei hat immer recht" aus Protest dagegen geschrieben, dass man ihn 1949 nicht zum KP-Parteitag eingeladen hatte. In der DDR wurde es dennoch zu einer Lobeshymne auf den Leninismus.

Dan Diner schreibt über die Literatur des Überlebenden verschiedener Konzentrationslager, unter ihnen auch Auschwitz, Jean Améry im Kontext französischer Erinnerungen an den Holocaust. Améry, der nach dem "Anschluss" Österreichs 1938 nach Frankreich floh und in der Résistance arbeitete, fügte seine Erinnerungen an den Holocaust in die Debatte Frankreichs über seine Kolonialverbrechen ein. In seinen Texten drängte er die Erinnerung an das singuläre Verbrechen an den Juden hinter seine Erfahrung der Folter zurück. Die Folter war eines der öffentlich diskutierten Hauptthemen in der Debatte über die Kolonialverbrechen Frankreichs.

Robert Zwarg behandelt die Rezeption der "Kritischen Theorie" in den USA. Ausgehend von der weitgehend kritischen Aufnahme des Klassikers "Dialektische Phantasie" [2] von Martin Jay zu Beginn der 1970er Jahre, beschreibt Zwarg das Unverständnis von Intellektuellen aus den verschiedenen Fraktionen der "Students for a Democratic Society" (SDS) für die Rolle des Antisemitismus im deutschen Zivilisationsbruch. Kritisiert wurde an dem Buch in den USA vor allem, dass die Faschismen der Gegenwart und ihre Unterstützung durch die USA, die mit Hilfe der Theorien der Frankfurter Schule zu analysieren wären, in der Publikation von Jay keine Rolle spielten. Unverstanden blieb bei den Rezipienten, dass die verschiedenen Faschismen und der deutsche Zivilisationsbruch nicht dasselbe sind.

Alle Beiträge des Bandes sind von ausgewiesenen Experten verfasst und bergen auch für einen Leser, der sich z.B. mit Louis Fürnberg, Jean Améry oder dem amerikanischen SDS bereits vertraut gemacht hat, überraschende neue Einsichten. Dennoch sind die Studien in der Mehrzahl nicht als Länderberichte zur Geschichte der einzelnen Gesellschaften und ihren jüdischen Gemeinschaften anzusehen. In ihrem Mittelpunkt steht eine Person, ein Buch, ein Film, oder eine Organisation. An diesen Beispielen werden Verdrängung, Überschreibung oder Umdeutung des Holocaust einsehbar gemacht.

Solche Fokussierung rückt die Prozesse der Trivialisierung oder Rationalisierung des Holocaust in ein grelles Licht. Gleichzeitig verlieren sie mit dieser Hervorhebung am individuellen Beispiel ihren gesellschaftlich wie politisch dramatischen Charakter. Verdrängung und Trivialisierung, Umdeutung und Rationalisierung des Holocaust werden in nur wenigen der Berichte zur Lage von Juden in den beschriebenen Gesellschaften oder der Politik des Landes gegenüber Israel in Beziehung gesetzt. Sie erscheinen vielmehr meist als individuelle Umgangsweisen einzelner Menschen, Autoren oder Gruppen. Dass es sich bei den verschiedenen Formen der Nicht-Wahrnehmung oder Umdeutung des Holocaust um Teile gesellschaftlicher Diskurse und antisemitischer Kampagnen gegen Juden und Israel handeln kann, wird nur selten sichtbar.

Diese fehlenden Fragestellungen und Zusammenhänge unterscheiden den Band von Jan Gerber u.a. fundamental von dem bereits 1996 von David S. Wyman und Charles H. Rosenzweig veröffentlichten Buch "The World Reacts to The Holocaust". [1] Die Herausgeber dieses Mammutwerks von 26 Länderstudien verwiesen bereits im interpretationsleitenden Vorwort auf die verschiedenen Formen der Trivialisierung, Rationalisierung und Verleugnung des Holocaust und ihrer Wirkungen auf die Juden der einzelnen Gesellschaften. Die Publikation von Jan Gerber und seinen Mitstreitern steht mit ihren wichtigen, viele neue Einblicke vermittelnden Portraits - ohne die Kenntnisnahme der Länderberichte aus der Sammlung von David S. Wyman und Charles H. Rosenzweig - nur auf einem Bein.


Anmerkungen:

[1] David S. Wyman (ed.): The World Reacts to the Holocaust, Baltimore / London 1996.

[2] Martin Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt a.M. 1976.

Martin Jander