Rezension über:

Dominique Mulliez: Les actes d'affranchissement. Volume 1: Prêtrises I à IX (nos 1-722) (= Corpus des Inscriptions de Delphes; Tome V), Athen: École française d'Athènes 2020, 657 S., 12 s/w-Abb., 2 Beilagen, ISBN 978-2-86958-317-7, EUR 150,00
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Rezension von:
Andrew Lepke
Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Andrew Lepke: Rezension von: Dominique Mulliez: Les actes d'affranchissement. Volume 1: Prêtrises I à IX (nos 1-722), Athen: École française d'Athènes 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 9 [15.09.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/09/35019.html


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Dominique Mulliez: Les actes d'affranchissement

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Seitdem George Daux 1980 bekannt gab, die über 1300 Freilassungsinschriften des Apollon-Heiligtums von Delphi in einem Corpusband zusammenstellen zu wollen, wartet die Fachwelt auf diese Publikation. Es ist in vielerlei Hinsicht ein einzigartiger Befund: Durch das Schlüsselloch eines eigentümlichen Rituals an dessen Ende die (zumindest partielle) Freilassung einer Sklavin/eines Sklaven durch ihre Besitzer stand, erhalten wir Einblick in viele soziale und rechtliche Details in Delphi, in das Verhältnis des Heiligtums zum Umland, in viele Facetten antiker Sklaverei und nicht zuletzt in die inschriftliche Nutzung eines sakralen Raums. Die Inschriften sind konzeptionell (die Sklaven werden größtenteils mittels des sogenannten 'sakralen Verkaufs' freigelassen) und vor allem in ihren formellen und rechtlichen Eigenheiten und Details anspruchsvoll und wurden wohl auch deswegen, ungeachtet ihrer Aussagekraft für rechts-, sozial- und religionsgeschichtliche Fragestellungen, in der Forschung bemerkenswert stiefmütterlich behandelt. [1] Dominique Mulliez der den Großteil seiner wissenschaftlichen Karriere der Herkules-Aufgabe gewidmet hat, diese Zeugnisse zu bearbeiten, legt mit dem zu besprechenden Band den ersten von zwei Teilen dieses Corpus vor. Der Band ist demzufolge unvollständig: Für Indizes und Konkordanzen wird sich der Leser bis CID V. 3 gedulden müssen, eine Synthese wird vermutlich in der ebenfalls angekündigten (7) "Introduction à la lecture des actes d'affranchissement delphiques" angestrebt. [2]

Es ist nicht die Aufgabe eines Rezensenten das Buch zu besprechen, das er gern gelesen hätte. Was Mulliez vorlegt, ist ein Corpus. Und ein Corpus hat die Aufgabe, bereits publizierte Texte einer Revision zu unterziehen, noch unveröffentlichte Texte vorzulegen und Forschungsdiskussionen einer immer unübersichtlicher werdenden Publikationslandschaft nachvollziehbar zu bündeln. Und - um es vorwegzunehmen - Mulliez legt in vielerlei Hinsicht ein Meisterstück dieser Gattung vor.

Versammelt sind 722 Inschriften, die überwiegend an der polygonalen Terrassierungsmauer des Apollon-Tempels angebracht waren, und sich zeitlich auf den überschaubaren Rahmen von etwa 80 Jahren (202/1 - etwa 122. v.Chr.) erstrecken. Von diesen Texten sind 20 - überwiegend stark fragmentarische Inschriften - bislang unpubliziert. [3]

Die Bearbeitung der Inschriften Delphis war von Anfang an eine prestigeträchtige Aufgabe. So überrascht es denn auch nicht, dass Mulliez' Lesungen sich von denen von Wescher und Foucart, Baunack, Daux oder anderen meist nur in Details unterscheiden. Umsichtig korrigiert Mulliez dabei allzu optimistische Rekonstruktionen, löst epigraphisch wie sprachlich schwierige Stellen auf und erläutert seine Entscheidungen nachvollziehbar. Da sich Fehler bei einem Projekt dieser Größenordnung unmöglich vermeiden lassen, haben sich auch wenige Lapsus in die Editionen eingeschlichen. [4] Sie können aber kaum über die Sorgfalt hinwegtäuschen, mit der die Inschriften redigiert wurden. Einen besonderen Mehrwert der Neueditionen stellt dabei die minutiöse Reproduktion typologischer Eigenheiten dar. Lücken, Rasuren, hervorgehobene Zeilen und zwischen die Zeilen gesetzte Nachträge sind genaustens dokumentiert und erlauben somit in vielen Fällen umfassendere Interpretationen als zuvor.

Die Kommentierung der einzelnen Texte fällt platzbedingt knapp aus und setzt deutliche Schwerpunkte. Während Mulliez ausführlich Datierungsfragen erörtert und hierbei beeindruckende Fortschritte zu seinen Vorgängern erzielt, könnte man konsequentere Querverweise zwischen den Texten (die zweifelsohne durch den Index bereitgestellt werden), sowie Kommentierungen einzelner Phänomene (vgl. etwa Nr. 33, eine Freilassung während der pythischen Spiele) vermissen. Gleichwohl sind die Kommentare überaus gelungen. Mulliez zeigt sich zu jeder Zeit auf dem aktuellen Stand der Forschung und laviert mit fast salomonischem Geschick zwischen den unterschiedlichen und zum Teil unvereinbaren Positionen, bringt an entscheidenden Stellen vorsichtig seine eigene Expertise oder Einschätzung ins Spiel und lässt an anderen Stellen die Diskussion offen. Er stellt damit ein unschätzbares Werkzeug für kommende Generationen an Epigraphikern und Althistorikern zur Verfügung, das seinen vollen Wert erst im Zusammenspiel mit CID V.2 und 3 entfalten wird.

Wenn man also Kritik an diesem schönen Band anbringen möchte, muss sie sich auf die Präsentation, nicht den Inhalt, stützen. An erster Stelle sind hier die Fotos der Inschriften anzusprechen: Mulliez hat sich in Absprache mit der École Française dagegen entschieden, den 722 Inschriften Abbildungen beizulegen. Stattdessen sind Fotos online unter der URL:

https://www.efa.gr/fr/publications/lire-en-ligne/ressources-en-ligne/corpus-des-inscriptions-de-delphes-v-1-les-actes-d-affranchissement zu finden (nicht unter https://u.efa.gr/cid-v, wie auf Seite 17 angekündigt). Für sich genommen, ist das eine begrüßenswerte Entscheidung, die hoffentlich in Zukunft viele Nachahmer findet. Allerdings hat die Technik dem CID V hier einige Steine in den Weg gelegt. Die Seite ist erst Anfang August 2022 (!) online gegangen, und zum Zeitpunkt dieser Rezension noch in einem unfertigen Zustand: Präsentiert werden aktuell nicht Einzelinschriften sondern hochauflösende Fotos von einzelnen Schriftträgern mit bis zu zehn Inschriften - ohne Indikation, wo auf dem Foto der gesuchte Text zu finden sei. Während etliche Abbildungen von CID V. 2 bereits online sind, fehlen andere ganz (etwa Nr. 2, 139, 350, 613 etc.). Es bleibt abzuwarten, welche Änderungen die École Française d'Athène hier in den nächsten Jahren noch vornimmt.

Zum anderen muss die Frage erlaubt sein, ob ein solches thematisches Corpus wie CID V nicht besser online aufgehoben gewesen wäre. Dass Mulliez diesen Schritt nach fast 40 Jahren Arbeit am Corpus nicht gehen wollte, ist nachvollziehbar, die Vorteile lägen aber auf der Hand. Nicht zuletzt wäre es dann möglich gewesen, alle Texte zu übersetzen. Gerade in ihrer Gesamtheit bieten die delphischen Freilassungsinschriften eine fesselnde und oftmals schockierende Lektüre, die nicht bloß Epigraphiker und Althistoriker, sondern Sklaverei-Forscher aller Epochen und nicht zuletzt Studenten bereichern könnte.


Anmerkungen:

[1] Seit der Publikation von Rachel Zelnick-Abramovitz: Not Wholly Free. The Concept of Manumission and the Status of Manumitted Slaves in the Ancient Greek World, Leiden / Boston 2005 (Mnemosyne 266), ist das Institut der Freilassung wieder stärker in den Blick der Forschung geraten.

[2] Ein paar einführende Worte hätten dem Band gut zu Gesicht gestanden, aber Mulliez verweist verschiedentlich darauf, dass dies hier nicht geleistet werden soll. Vgl. beispielsweise "ce n'est pas le lieu de revenir sur le caratère prétendument 'fictive' de la vente" (502).

[3] Nr. 139, 149, 151, 154, 238, 261, 350, 381, 558, 562, 563, 565, 588 (nach einer Mitteilung der Ephorie ohne Autopsie), 590, 595, 611, 613, 693, 703 und 721, sowie der untere Teil von Nr. 687 (Z. 10-22).

[4] Mir sind aufgefallen: Nr. 2, Z. 8: Der Name des erste Zeugen, laut SGDI 2116 Φιλοκράτηϛ Δαμοφάνεοϛ, wird ohne weitere Erklärung in Τιμοκράτηϛ Δαμοφάνεοϛ geändert. Eine Abbildung dieser Inschrift ist zum Zeitpunkt dieser Besprechung nicht auf der EFA-Homepage zu finden. - Nr. 161, in Z. 1 ist das Patronym des Verkäufers Γλαῦκοϛ Ξένωνοϛ ausgefallen. - Nr. 165, Z. 1 statt ἐν Δελφοῖϛ δέ bestätigt das Foto die ältere Lesung ἐν δὲ Δελφοῖϛ. - Nr. 214, Z. 2 lies ἐξέστω δέ statt ἐξέστωδέ - Nr. 266, Z. 10 fehlt. Lies μάρτυρεϛ· τοὶ ἱερεῖϛ τοῦ Ἀπόλλωινοϛ (!) Ἀμύνταϛ, Ταραντῖνοϛ, ἰδι<ῶ>ται [Ḳ]αλλίεροϛ, Εὔδωροϛ, Ἐπ[ίν]ικοϛ. - Nr. 305, Übersetzung: Lies quatre hémiektès statt trois.

Andrew Lepke