Nikolaus Henkel: Sebastian Brant . Studien und Materialien zu einer Archäologie des Wissens um 1500 , Basel: Schwabe 2021, 796 S., ISBN 978-3-7574-0071-2, EUR 110,00
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Noch rechtzeitig vor Ablauf des 500-jährigen Gedenkjahres zum Todestag von Sebastian Brant am 10. Mai 1521 legte der Freiburger Germanist und Kulturwissenschaftler Nikolaus Henkel sein Buch über den Humanisten Sebastian Brant vor. Es ist das Ergebnis einer langjährigen Beschäftigung mit dem Verfasser des zur Weltliteratur zählenden Narrenschiffs. Wie der Untertitel andeutet, geht es Henkel aber um weit mehr als um eine Analyse dieses bekannten Werkes. Ihn interessiert auch weniger die Person des Autors, als die Zeitumstände, die es dem an der Universität Basel ausgebildeten Juristen und späteren Professor und Syndikus der Reichstadt Strassburg ermöglicht hatten, gleichzeitig auf so vielen Gebieten im Bereich der Dichtung und Literatur tätig zu werden.
Seine Absichten erläutert Henkel im einleitenden ersten Kapitel. Unter dem Leitbegriff einer "Archäologie des Wissens" - ein Begriff, der zwar anspielt auf das 1969 erschienene Buch "L'archéologie du savoir" des französischen Philosophen Michel Foucault, hier aber in wörtlichem Sinne die Methoden der Archäologie meint - sucht Henkel nach den Spuren dieses Gelehrtenlebens in seiner Zeit. Das bedeutet in erster Linie, den Blick über das "Narrenschiff" hinaus auszuweiten auf das gesellschaftliche Umfeld von Brant, auf seine Beziehungen zum Buchdruck und seine Korrespondenzen mit anderen europäischen Humanisten. Für viele dieser Themenbereiche kann sich Henkel bereits auf eigene Untersuchungen stützen. Dennoch ist es zu begrüssen, dass mit dieser Neuerscheinung doch so etwas wie eine abschliessende Synthese vorliegt, die der künftigen Forschung zu Brant als Maßstab die Richtung weisen wird.
Im Einzelnen sind folgende Ergebnisse hervorzuheben: Von zentraler Bedeutung ist der gleich zu Beginn der Untersuchung eingeführte Begriff der "intellektuellen" Eliten. Damit beschreibt Henkel einen Kreis von Humanisten, der im Unterschied zu den "Funktionseliten", zu denen Brant auch gehörte, nicht allein beruflich eine herausragende Stellung einnahm, sondern sich zusätzlich durch hervorragende lateinische Bildung und literarische Tätigkeit auszeichnete. Um Brants Stellung in diesem Kreis sichtbar zu machen, untersucht Henkel zuerst das Werk des bekannten Abtes von Sponheim, Johannes Trithemius (gestorben 1516). Dessen 1494 in Basel erschienener "Liber de scriptoribus ecclesiasticis" enthält nämlich eine möglicherweise von Brant selber zur Verfügung gestellte Liste seiner Werke, die sonst vielfach nicht nachgewiesen sind.
Henkel nimmt sich sodann der Frage der Portraits von Brant an. Gelten lässt er nur das bekannte Bild von Hans Burgkmair d.Ä., aus der Zeit um 1508, das auch die Titelseite schmückt, das gleichzeitige Portrait von Hans Holbein d.Ä., wie das etwas jüngere Portrait von Albrecht Dürer (um 1520). Interessant ist die Beobachtung, dass Brant sich im Medium der Holzschnitte gerne selbst als Beter stilisierte oder in sogenannten Kryptoportraits die Züge der Kirchenväter annahm. Gleichfalls als Zeichen der Selbstinszenierung deutet Henkel die Äusserungen von Brant über seine ständige Zeitnot, mit der Brant die Unfertigkeit und die häufigen Änderungen seiner Texte rechtfertigte.
Henkel zufolge hatte Brant entschiedener als andere zeitgenössische Autoren auf das neue Medium des Buchdruckes gesetzt. Brant versprach sich vom Buchdruck eine grössere Verbreitung als bei handschriftlich überlieferten Texten und begünstigte den Kulturtransfer zwischen Handschrift und Druckfassung, der dann mit der Zunahme der Drucke nicht selten auch in umgekehrter Richtung laufen konnte, etwa bei seinen Texten und Übersetzungen für den Unterricht an Lateinschulen. Nicht alle von diesen Texten waren bislang als Werke von Brant identifiziert worden, wie Henkel am Beispiel einer kleinen Sammlung von geistlichen Dichtungen zur Passion zeigen kann. Zu den Neufunden gehört auch die lateinische Totenklage auf den mit ihm befreundeten Colmarer Kanoniker Sebastian Murrho, die hier von Henkel erstmals ediert und ins Deutsche übertragen wird. Aufgrund seiner Frömmigkeitshaltung sei Brand nach Henkel in die "Frömmigkeitskultur der intellektuellen Eliten um 1500" einzuordnen. Der Begriff "Frömmigkeitskultur" wurde von Bernd Hamm verschiedentlich zur Diskussion gestellt. Er meint die persönliche Aneignung religiöser Texte für die private Andacht, was bei Brant besonders in seinen Bearbeitungen lateinischer Messgesänge, seinen Rosenkranzdichtungen und seinen Gebeten zu den Heiligen zum Ausdruck kommt. Wie stark er dabei auch in den Text traditioneller liturgischer Gesänge eingreifen konnte, zeigt Henkel eindrücklich am Beispiel der bekannten Antiphon "Salve regina". Wie andere Humanisten seiner Zeit, war Brant unerschütterlich in seinem Glauben an die Unbefleckte Empfängnis Mariens.
Seine Gelehrsamkeit zeigt sich an der von Johannes Amerbach besorgten Basler Ausgabe der Kirchenväter, die 1492 mit dem Druck der Werke des hl. Ambrosius begann und wenig später die Bibelübersetzung des Hieronymus wie die Herausgabe von Hauptwerken Augustins umfasste. 1493 folgte bei Amerbach die Ausgabe des Decretum Gratians, die vom Juristen Brant später interessanterweise mit Verweisen auf die grosse Bibelausgabe (1498) verknüpft wurde. Seine Mitarbeit umfasste immer auch die Tätigkeit als Concepteur (Entwerfer) der darin aufgenommen Holzschnitte, die in seiner Basler Zeit zum großen Teil vom jungen Dürer stammen. Brants Beitrag zur Buchillustration wird später anhand der Vergil Ausgabe von 1502 des Strassburger Druckers Grüninger und des Petrarca Druckes von 1519/1520 nochmals ausführlich gewürdigt.
Zuvor widmet sich Henkel aber noch ausführlich den Corpus-Ausgaben von Brants lateinischen Dichtungen. Untersucht wird insbesondere das Corpus der "Carmina in laudem Beatae Mariae Virginis multorumque sanctorum" mit Holzschnitten, die ebenfalls dem jungen Dürer zugeschrieben werden. Wie viele der Werke aus der Basler Zeit, wurde diese lateinische Dichtung offenbar vom Kartäuser Johannes Heynlin (gestorben 1496) angeregt, der mit Brant befreundet war, aber hier versehentlich als Prior tituliert wird. Mit seinen "corpora"-Sammlungen zielte Brant auf die Andacht der Gebildeten. Henkel widmet sich ausführlich diesen umfangreichen Sammlungen, denn sie vermitteln ein völlig neues Bild von Brant, das der üblichen Wahrnehmung des Autors als Verfasser des Narrenschiffs nicht mehr entspricht.
Gleichwohl äussert sich Henkel auch zu diesem berühmten Werk. Zugunsten eigener Schwerpunkte verzichtet er aber auf eine ausführliche Textanalyse. Ihn interessieren zunächst einmal die Publikationen, die Brant im Umfeld des Narrenschiffs in den Jahren 1492-1498 auf den Weg brachte. Dann beschäftigt er sich mit den Narrenschiff-Predigten des Straßburger Münsterpredigers Geiler von Kaisersberg, die für ihn ein interessantes Beispiel für den Kulturtransfer von lateinischer Sprache zur Volkssprache sind. Ausführlich geht er ferner der Frage nach dem Vorbild für das Titelblatt der Erstausgabe nach und beschäftigt sich mit dem lateinischen Namen "Stultifera navis". Brant hatte ursprünglich selbst eine lateinische Fassung geplant, musste sie dann aber dem jüngeren Jakob Locher (gestorben 1528) aus Ulm überlassen. Brant war unzufrieden mit dieser Übersetzung und drängte auf eine zweite, aber nicht realisierte Ausgabe. Um seine Distanz zur Arbeit von Locher zu betonen, fügte Brant zudem zahlreiche Marginalien hinzu. Aufgrund dieser Marginalien gelangt Henkel nun zur Auffassung, dass Brant möglicherweise eine neue Prosafassung des "Stultifera navis" geplant hatte.
Neues Terrain betritt Henkel mit der Analyse der zahlreichen Einblatt- und Libellendrucke von Brant. Mehrfach untersucht er ferner seine Rolle als Herausgeber von Büchern und seinen Einfluss auf die damit verbundenen Buchillustrationen. Brants Bildverständnis wurzelt einerseits in der christlichen Tradition, andererseits aber auch im Wunsch, didaktisches Material zum besseren Verständnis der komplexen Inhalte seiner Texte bereitzustellen. Dass einige Holzschnitte von Brant dabei auch missverstanden wurden, erläutert Henkel an einigen Beispielen.
Zum Abschluss folgt dann ein vollständiges chronologisches Verzeichnis aller von Brant verfassten oder herausgegebenen Texte (Kap. 14). Es umfasst auch die von ihm beigegebenen Holzschnitte und Marginalien, bietet also der künftigen Forschung umfangreiches Material zur Weiterarbeit an den hier angesprochenen Themen. Mit Blick auf die geplante Neuausgabe von Brants "kleinen Texten" bringt Henkel ferner eine Liste von Vorschlägen und Korrekturen. Der anschliessende Exkurs zu "Brant im Stasiland" (Kap.15) mit einer Hommage an den Germanisten Manfred Lemmer (gestorben 2009) leitet über zu einer Rezeptionsgeschichte des Narrenschiffs in der Neuzeit, auf deren Fortsetzung man gespannt sein kann.
Ein ausführliches Literaturverzeichnis und ein Register (Kap.16) vervollständigen das Werk.
Es bietet eine bewundernswerte Fülle von neuen Einsichten in das vielfältige Schaffen des Strassburger Humanisten Brant. Henkel steht seinem Protagonisten aber nicht kritiklos gegenüber. Eigenartig mutet etwa der Kontrast zwischen tief empfundener Frömmigkeit und dem Wunsch nach Selbstinszenierung an. Insgesamt bemerkenswert sind sowohl die Pflege wie auch der freie Umgang mit der Tradition bei Vertretern dieser neuen intellektuellen Bildungselite am Vorabend der Reformation. Geradezu modern und zukunftsweisend wird man mit Henkel dessen Bemühungen um die bessere Zugänglichkeit der religiösen Literatur des Mittelalters für breite Schichten der Bevölkerung einschätzen. Und dazu gehört natürlich auch die von Brant geschaffene Dichtung des Narrenschiffs in deutscher Sprache.
Martina Wehrli-Johns