Malte Rolf: Imperial Russian Rule in the Kingdom of Poland 1864-1915 (= Russian and East European Studies), Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press 2021, XIV + 441 S., 31 s/w-Abb., ISBN 978-0-8229-4701-1, USD 60,00
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Das Königreich Polen war infolge der Teilungen im 18. Jahrhundert eine Provinz des russischen Imperiums geworden. Aufgrund seines kulturellen und ökonomischen Entwicklungsstandes war es die bedeutendste Provinz innerhalb des Russischen Reiches. Malte Rolf hat in seiner 2015 zunächst auf Deutsch erschienenen und hier nun in englischer Übersetzung vorliegenden Habilitationsschrift [1] imperiale Herrschaftsstrukturen und -praktiken untersucht, vermöge derer die Petersburger Zentrale versuchte, ihre Herrschaft am westlichsten Rand des Imperiums aufrecht zu erhalten. Als Untersuchungszeitraum hat er die Zeit nach der Niederschlagung des Januaraufstandes von 1863 bis 1915, dem Abzug der Repräsentanten Petersburger Herrschaft vor den deutschen Truppen im Ersten Weltkrieg, gewählt. Er hat damit die Periode in den Blick genommen, in der das Königreich als "Weichselland" in das russische Imperium integriert werden sollte und dabei in einer Zeit dynamischer sozioökonomischer Modernisierung und eines allseitigen forcierten nation building auf gegenläufige Bestrebungen innerhalb der polnischen Gesellschaft stieß, die sich ihrer eigenstaatlichen Traditionen sehr bewusst war. In das Zentrum seiner Untersuchung hat der Verfasser die Repräsentanten der Petersburger Herrschaft gestellt, die auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen, d.h. vom Statthalter/Generalgouverneur, über Verwaltungsbeamte, Zensoren bis zum Lehrpersonal in Schule und Hochschule auf unterschiedliche Gruppen der örtlichen, heterogenen Gesellschaft trafen. Gleichermaßen gerät dabei die russische Diaspora in Polen, vor allem das "russische Warschau", in den Blick von Malte Rolf, der sich auch aus kulturwissenschaftlicher Perspektive für die Wechselbeziehungen zwischen diesen Gruppen interessiert.
In einem ersten Teil stellt er die Rahmenbedingungen imperialer Herrschaft im Königreich Polen vor, beschreibt ihre Formen nach dem Wiener Kongress und vor allem die Veränderungen nach dem Januaraufstand. Neben der Charakterisierung der Strukturen und der Felder imperialer Herrschaft, porträtiert er die Statthalter und Generalgouverneure, die vor Ort für die Petersburger Herrschaft standen. Dabei arbeitet er die Unterschiede zwischen den einzelnen Persönlichkeiten unterschiedlicher ethnischer Herkunft ebenso plastisch heraus, wie die Gemeinsamkeiten, die sie in Karriereverläufen und Einstellungen aufwiesen. Auch den Selbstverortungen dieser Personengruppe gibt der Verfasser Raum.
Die erste Phase des Untersuchungszeitraumes war russischerseits von Reformbestrebungen gekennzeichnet, in denen auch eine unterschiedliche Haltung gegenüber verschiedenen Teilen der Gesellschaft zu erkennen waren wie eine eher positive gegenüber den Bauern, die man durch Reformpolitik gewinnen und gegen die szlachta und den polnischen katholischen Klerus in Stellung bringen wollte, galten die beiden letztgenannten Gruppen doch als besonders hartnäckige Gegner russischer Herrschaft in Polen.
Besonderes Augenmerk richtet der Verfasser auf die Entwicklung und den Ausbau der Stadt Warschau als ein Laboratorium der Moderne: Hier gelingt es ihm zu zeigen, dass die Vertreter der Zarenmacht in dem Bestreben, Warschau zu einem modernen Aushängeschild zu machen, durchaus nicht als Verhinderer von Modernisierungsprozessen zu verstehen waren, wurde die Stadtentwicklung doch in engem, synergetischem Zusammenwirken mit Fachleuten, Ingenieuren und Vertretern der örtlichen Gesellschaft unternommen.
Wie konfliktträchtig dieses Zusammenwirken gleichzeitig sein konnte zeigt ein Blick auf symbolische Praktiken im Rahmen öffentlicher Feiern, wie u. a. die Auseinandersetzung um die bereits in der Einleitung sinnfällig geschilderte Einweihungsfeier einer neuen Brücke über die Weichsel zeigt: Im Streit über die Frage, ob ein orthodoxer oder katholischer geistlicher Würdenträger die Zeremonie maßgeblich gestalten sollte zeigte sich die grundsätzliche Frage, wem Warschau denn nun eigentlich gehört.
Der Verfasser konstatiert eine gewisse Dynamik im Verhältnis der Vertreter der imperialen Macht zu denen der lokalen Gesellschaft und ihrer Gruppierungen: Diese manifestiert sich besonders in der Frage, wer jeweils als größerer Gegner russischer Herrschaft angesehen wird: Hier zeigen sich Veränderungen mit Beginn des 20. Jahrhunderts: Nach der Revolution von 1905 sind es Vertreter sozialrevolutionärer Gruppierungen, die Adel, katholischen Klerus und nationale Intelligenz in ihrer Rolle als Feinde russisch-imperialer Staatlichkeit ablösen.
Malte Rolf hat mit seinem Buch das Bild russischer Herrschaft in Polen deutlich erweitert und differenziert, indem er zeigen konnte, wie vielgestaltig und dynamisch das Verhältnis zwischen den Vertretern Petersburger Herrschaft und der lokalen Bevölkerung war und sich keinesfalls auf einen einfachen Antagonismus reduzieren lässt. Vielmehr handelte es sich um komplexe Prozesse wechselseitiger Beeinflussung, die die Herrschaftspraktiken des Zentrums auch gegenüber anderen Teilen des Imperiums zurückwirkten. Das Kolonisierungsparadigma, das für die Charakterisierung russischer Herrschaft in Polen von der polnischen Historiographie oft in Anschlag gebracht worden ist, hat der Verfasser mit Recht durch seine Forschungsergebnisse in Frage gestellt: Die Vertreter der zarischen Regierung sahen das Weichselland, wie Rolf herausarbeitet, zwar als fremden Landstrich aber gleichwohl als integralen Bestandteil des Reiches, als Provinz - nicht als ein Protektorat. Auch war das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie eines, das nicht mit dem einer Kolonie zu seinem Mutterland beschrieben werden kann, bestand doch ein Gefälle zwischen der kulturell und ökonomisch stärker entwickelten Peripherie und dem weniger entwickelten Zentrum bzw. Rest des Imperiums. Vielmehr sei es als Ausgangspunkt von Modernisierungsprozessen wahrgenommen worden. Auch wirkten das Bewusstsein der lokalen Gesellschaft um eigene staatliche Tradition und Identität gegen russische Ansprüche auf Autorität. Das komplexe Wechselverhältnis, das sich im Zuge russischer Herrschaft in Polen herausgebildet hatte, wurde nicht durch innere Entwicklungen beendet, sondern von außen, im Zuge des Ersten Weltkrieges.
Malte Rolf hat für seine Arbeit ein beeindruckendes Korpus an Materialien aus polnischen und russischen Archiven zusammengetragen und verarbeitet. Zu den Teilen, die aus einschlägigen Archiven und Forschungsbibliotheken in St. Petersburg und Moskau stammen, werden Forscherinnen und Forscher aus dem Westen unter seit Rolfs Forschungsreisen veränderten Rahmenbedingungen auf absehbare Zeit eher keinen Zugang haben. Das erhöht den Wert seiner Arbeit und seiner wichtigen Ergebnisse, die durch die englische Übersetzung einem noch größeren Leserkreis sprachlich zugänglich gemacht wird. Nach der Übertragung ins Polnische [2] und Russische [3] ist sie bereits die dritte Übersetzung in eine Fremdsprache. Die englische Übersetzung verfügt auch über die Listen russischer Statthalter, Generalgouverneure und leitender Würdenträger sowie über das Register des deutschen Originals.
[1] Malte Rolf: Imperiale Herrschaft im Weichselland. Das Königreich Polen im russischen Imperium (1864-1915), Berlin, München, Boston 2015 (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 43).
[2] Malte Rolf: Rządy imperialne w Kraju Nadwiślańskim. Królestwo Polskie i cesarstwo rosyjskie (1864-1915), Warszawa 2016.
[3] Mal'te Rol'f: Pol'skie zemli pod vlast'ju Peterburga ot Venskogo kongressa do Pervoj Mirovoj, Moskva 2020.
Maike Sach