Florent Coste: Gouverner par les livres. Les Légendes dorées et la formation de la société chrétienne (XIIIe-XVe siècles) (= Bibliothèque d'Histoire Culturelle Du Moyen Âge; 20), Turnhout: Brepols 2021, 335 S., 8 Tbl., ISBN 978-2-503-59294-7, EUR 69,00
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In seiner an der Universität Dijon (Université de Bourgogne) verteidigten und für den Druck überarbeiteten Dissertation beschäftigt sich Florent Coste mit einem Text, der zu den absoluten "Bestsellern" des Mittelalters gehört: der Legenda aurea. Diese noch heute in rund 1.100 lateinischen und 350 volkssprachlichen Handschriften des Mittelalters überlieferte Sammlung von Heiligenleben wurde vom Dominikaner Jacopo da Varazze, dem 1298 verstorbenen Erzbischof von Genua, zusammengestellt und im Lauf der Zeit ebenso leidenschaftlich gepriesen wie verurteilt: "Comme peu d'autres œuvres médiévales, il a été pris entre le marteau de la réduction positiviste et l'enclume de l'exaltation apologétique" (18). Die Legenda aurea überschritt mit erstaunlicher Regelmäßigkeit Grenzen, Epochen und soziale Schichten, wobei der Homogenität ihrer Verbreitung die Heterogenität der Erscheinungsformen gegenüberstand, in deren Gewand sie sich präsentieren konnte. In vorliegender Untersuchung interessiert sie weniger vor dem Hintergrund ihres Aufbaus und der Sprachverwendung, sondern als Sammlung "bricolée, supplémentée, assemblée à d'autres textes dont le voisinage peut éclairer la signification et le fonctionnement" (30).
Der Titel der Arbeit weist den Weg. Die "Goldene Legende" erscheint darin nicht im Singular, sondern im Plural. Coste begreift den Text völlig zu Recht als "structure modulable, modulaire, combinable, extensible" (139). Er ist somit weniger ein persönliches Werk einer Einzelperson, sondern steht für die kollektive Identität des Dominikanerordens und seines theologischen Zugangs zur Heiligenverehrung, ist ein wichtiger Baustein eines Systems, das von David d'Avray so überzeugend als "mass communication without print" beschrieben wurde. [1] Allein die Fülle der überlieferten Textversionen (es wurden mindestens 14 lateinische identifiziert) deutet in diese Richtung. [2] Coste versucht also die Veränderungen zu beschreiben und zu deuten, die die Legenda aurea in ihrer Textgestalt im Laufe von zwei Jahrhunderten durchlief, eingebettet in Handschriften, in denen der Text des Genueser Dominikaners beständig aufgebrochen, neu zusammengesetzt wurde und andere Texte infiltrierte.
In Abwandlung eines Bonmot des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Clinton ist man geneigt auszurufen: It's the context, stupid! Die ungeheure Geschmeidigkeit und Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Kontexte wird als entscheidender Faktor für die großen Verbreitung identifiziert. Anders ausgedrückt: Die Legenda aurea wahrt ihre Identität dort, wo ihre Integrität starken Wandlungen unterworfen ist.
Die Arbeit ist in drei große Teile gegliedert. Im ersten Teil wird die Legenda aurea vor dem Hintergrund ihrer kompilatorischen Gestalt beschrieben (I. La Légende dorée comme compilation), während im zweiten Teil der Frage nach ihrer Funktion als organisatorisches Zentrum von Büchern, die andere Texte enthalten, nachgegangen wird (II. La Légende dorée comme recueil). Im dritten Teil schließlich steht der Aspekt der Pastoral im Blickpunkt des Interesses (III. La Légende dorée et la formation pastorale des fidèles).
Kompilationen stehen heute in schlechtem Ruf - das war in der Antike nicht anders. Im Mittelalter hingegen schätzte man sie. Der berühmten, von Bonaventura in seinem Sentenzenkommentar niedergelegten Definition zufolge war ein Kompilator derjenige, der die Worte anderer abschrieb bzw. zusammenstellte und dabei Dinge hinzufügte - Dinge, die freilich ebenfalls von anderen stammten: "Le compilateur est de ces professionnels de l'intertexte qui pratiquent le copier-coller et dont l'intelligence et la liberté tiennent précisément à la brisure pertinente" (53). Jacopo da Varazze selbst liefert keinen Metadiskurs (etwa in Form einer Introductio) über Sinn und Zweck von Kompilationen. Sein Zugriff auf die der Kompilation von Heiligenleben zugrunde liegenden Stoffmassen ist von Pragmatismus geprägt. Coste sieht die Legenda aurea denn auch durch drei Eigenschaften epistemischer, ethischer und theologischer Natur charakterisiert. Sie bestärkt und untermauert nicht nur die Glaubenswahrheiten, die sie selbst transportiert, sondern ruft explizit zu gottgefälligem Handeln auf und stellt zu diesem Zweck Exempla zur Verfügung. Eine Ethik der Bewunderung mischt sich hier mit einer Ethik der Nachahmung. Darüber hinaus wird die Gemeinschaft der Rezipienten an das große Ganze der kirchlichen Gemeinschaft rückgebunden.
Von großem Interesse sind die Antworten, die Coste auf Fragen danach, wie die Legenda aurea von mittelalterlichen Lesern wahrgenommen und identifiziert wurde, gibt: "Si l'on peut dire sans risque que la Légende dorée allait de soi au Moyen Âge, cela ne veut pas dire qu'elle reposait sur une définition stabilisée faisant consensus pour l'homme médiéval, loin de là" (117). Coste schlägt hier Schneisen in das Dickicht von unterschiedlichen Titeln, mit denen die Legenda aurea bezeichnet werden konnte und verweist auf eine Fülle von Werken, die sich als Legenda aurea präsentierten, tatsächlich jedoch völlig andere Inhalte transportierten. Bis heute hütet man sich zu Recht davor, sie einer einzigen literarischen Gattung zuzuweisen. Mit Hilfe einer Farballegorie wird das Dilemma verdeutlicht: Das "Blau an sich" mag als Konzept existieren, tatsächlich fassbar sind aber stets nur einzelne Abstufungen der Farbe Blau. Diese Vielfalt macht eine Verständigung darüber, was Blau bedeutet, aber nicht unmöglich. So auch im Falle der Legenda aurea, deren Wert durch die Präsenz eines Verfassernamens ("Jacobus de Voragine") noch deutlich gesteigert wird, fungiert dieser Name doch als Form eines mittelalterlichen branding, als trademark, mit dessen Hilfe auf die dominikanische Expertise im Bereich der Hagiographie verwiesen werden konnte. Jacques de Voragine sei, so Coste in kühner Analogiebildung, für die Hagiographie das, was Freud für die Psychoanalyse sei.
Coste unterscheidet sieben funktionale Verbindungen, die dazu dienen, die Legenda aurea mit den sie innerhalb einer Miscellanhandschrift umgebenden Texten zu verbinden und verdeutlicht so ausgesprochen eindrücklich, wie sehr sie sich öffnet "à une pluralité d'usages qu'on ne doit pas chercher à réduire à l'excès, tant les situations offertes par les typologies manuscrites paraissent riches et particulières" (183).
Eine der wichtigsten funktionalen Zuweisungen erfolgt im Bereich der Pastoral. Die Pluralität der Legenda aurea spiegelt sich in der Vielgestaltigkeit der Gemeinschaften wider, die sich ihrer bemächtigen, sie benutzen, sich durch sie und in ihr artikulieren. Die in ihr behandelten Heiligen stehen in metonymischer Engführung für die Kirche selbst. So erstaunt es nicht weiter, dass sich auch andere mendikantische und monastische Gemeinschaften dieser dominikanischen Sammlung bemächtigen und für ihr je eigenes pastorales Engagement nutzen konnten, was am Beispiel der Franziskaner, Serviten, Cölestiner und Kartäuser demonstriert wird.
Einige Indices (Index manuscriptorum; Index sanctorum et festorum; Index personarum; ein Index rerum fehlt leider) erschließen eine sorgfältig lektorierte Untersuchung, die einiges an Neuem zur Problematik der Legenda aurea-Rezeption bietet. Sie widmet sich der historischen Soziologie des Buches im Mittelalter ebenso wie der Geschichte des Kirchenregiments auf der Grundlage philologischer und textanalytischer Mittel. Deutlich wird, wie anpassungsfähig, wie wandelbar dieser Text war, dessen konstante Verbreitung über die Jahrhunderte durch die Möglichkeit garantiert wurde, aktuelle Entwicklungen zu integrieren und implementieren.
Anmerkungen:
[1] David d'Avray: Medieval Marriage Sermons. Mass Communication in a Culture without Print, Oxford 2001.
[2] Barbara Fleith: Studien zur Überlieferungsgeschichte der lateinischen Legenda aurea, Brüssel 1991.
Ralf Lützelschwab