Stefan Bauer / Simon Ditchfield (eds.): A Renaissance Reclaimed. Jacob Burckhardt's Civilisation of the Renaissance in Italy Reconsidered (= Proceedings of the British Academy; 245), Oxford: Oxford University Press 2022, XII + 288 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-726732-5, GBP 70,00
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Die in diesem Band vereinten Beiträge sind aus einer Tagung hervorgegangen, die am 31. Mai und 1. Juni 2018 in London anlässlich des zweihundertsten Geburtstags von Jacob Burckhardt gleichsam im zweiten Anlauf und mit einer ebenso reduzierten wie präzisierten Perspektive das versuchte, was schon im Mai 1997 beim wissenschaftlichen Festakt zum hundertsten Todestag desselben Protagonisten in Basel ganz im Zentrum der kollektiven Bemühungen stand: herauszuarbeiten, was das Proprium, das Eigentümliche und Unverwechselbare der "Kulturgeschichte" des Basler Historikers und Kunsthistorikers ausmacht - und was im Abstand von mehr als anderthalb Jahrhunderten davon heute in der einen oder anderen Weise Bestand hat, von Interesse oder zumindest diskussionswürdig ist.
Stand 1997 das - neu herauszugebende und zu kommentierende - Gesamtwerk mit seiner Methodik und weltanschaulichen Dimension zur Debatte, so fokussierte sich die jetzt mit ihrem Ertrag nachzulesende Londoner Veranstaltung auf das bekannteste und insgesamt folgenreichste Stück dieses Oeuvres, die "Cultur der Renaissance in Italien" von 1860. Angestrebt werden damit eine historische Einordnung, vergleichende Lektüre, textimmanente Analyse und weltanschauliche Situierung eines Textes, der das Bild, das sich Europa von der Genese der Moderne, also von den Anfängen und Ursprüngen seiner Gegenwart, machte und macht, bis heute zutiefst prägt. Diese bis ins 21. Jahrhundert ungebrochen anhaltenden Fernwirkungen sind nicht zuletzt im außerwissenschaftlichen Bereich, in Computerspielen, Geschichtsromanen und Fernsehserien zu konstatieren, in denen das Italien der Renaissance als Tummelplatz sich hemmungslos auslebender "Individualisten" beiderlei Geschlechts und seine höfische Gesellschaft als Schauplatz von sex and crime auf höchstem Laster-Niveau erscheinen. Diese von Burckhardts Italienbuch ausgehende (Trivial-)Mythenbildung ist - um einen Kritikpunkt vorwegzunehmen - ebenso wenig ein Thema der insgesamt zwölf Einzelbeiträge wie die Impulse, die davon auf die Literatur des Fin de Siècle mit ihrem "Renaissancismus" in Deutschland und Frankreich ausgingen.
Stattdessen folgen die detaillierte Studien Gliederung und Leitmotiven von Burckhardts Text: Mikkel Mangold und Martin A. Ruehl untersuchen seine Vorgehensweise, Quellenlektüre und Quellenkritik im Allgemeinen, Robert A. Black widmet sich dem Staat als Kunstwerk, Virginia Cox und Wietse de Boer rücken die berühmte Theorie von der Entfaltung des Individuums, Barbara von Steinitz und William Stenhouse die kaum weniger prominenten Thesen von der Wiederbelebung der Antike durch den italienischen Volksgeist in den Mittelpunkt, Joan-Paul Rubies und Giuseppe Marocci stellen die Kapitel über die Entdeckung der Welt und des Menschen auf den Prüfstand, Helen Watanabe-O'Kelly analysiert die Abschnitte über Fest und Festkultur, Nicolas Tepstra und Stefan Bauer heben auf die Ausführungen zu Religion und Moral ab - und Peter Burke liefert ein Nachwort, in dem er mit subtiler Ironie davor warnt, die Kriterien der aktuellen Renaissanceforschung zu harsch gegen Burckhardts vermeintlich veraltete Sicht der Dinge auszuspielen: Wer weiß schon, wie die nächste Bilanz, die zum hundertjährigen Erscheinen der "Cultur der Renaissance" im Jahre 2060, ausfallen wird? Forschung ist im stetigen Fluss und ein endgültiges Wort kaum je gesprochen - das passt gut zu einer kritischen Auswertung der hier versammelten Essays. Einen gemeinsamen Nenner bildet die produktive Widersprüchlichkeit auf vielen Ebenen, die dem Werk zugeschrieben wird: Burckhardt ist sich bewusst, dass viele der Innovationen, die er der Renaissance zuschreibt, schon vorher, im plakativ davon abgegrenzten "Mittelalter", aufkeimen, so wie die "Modernität" der Renaissance bei näherer Betrachtung sehr viele rückwärtsgewandte Züge annimmt; kontrastiv, ja paradox, da aus Bewunderung und Grauen eigentümlich gemischt, ist auch seine Blickrichtung als ganze. Als weitere Erklärungsmotive für das "Klima" des Buches und des darin gezeichneten Epochenabrisses kommen in den Einzelbeiträgen zum Tragen: Burckhardts als geradezu pathologisch eingestufte Abneigung gegen das revolutionäre Zeitalter, das er mit der Renaissance aufkeimen und in seiner Gegenwart kumulieren sieht, sein Desinteresse an einer eigenständigen Kultur des Volkes, seine Fixierung auf das Bild und damit das "Anschauliche" insgesamt, was über weite Strecken auf eine Übersetzung von Bild-Propaganda in vermeintliche Lebenswirklichkeiten hinausläuft, seine kritiklose Auswertung zeitgenössischer Festberichte, seine Fokussierung auf das Biographische, speziell in anekdotischer Verknappung, der Einfluss der Hegelschen Geschichtsphilosophie, seine Überschätzung der staatlichen Machtmittel und des Staates als Regulativ, seine schablonenhafte Abstempelung des Humanismus und die Überbewertung von dessen "paganen" Zügen. Das alles ist im Einzelnen nicht neu, ergibt aber in der hier vorgenommenen Verdichtung doch neue Akzentsetzungen. Einen Gegenakzent dazu bildet die ungewöhnlich positive Beurteilung der "Individualisierungsthesen" in ihrer reduzierten Umwertung als eine neue Auffassung von persönlicher Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit, wie sie sich zum Beispiel in den Porträts der Zeit niederschlägt.
Schwerer nachvollziehbar ist die Kritik an Burckhardts Ausblendung der "Globalisierung" ab 1492, da diese Raum- und Perspektivenerweiterung in den italienischen Dokumenten der Zeit kaum Niederschlag gefunden hat. Diskussionswürdig erscheint auch die These, dass Burckhardts negative Bewertung der Reformation und seine positive Einschätzung des Katholizismus sein Bild von der Religion als Instrument der Macht im Italien der Renaissance nachhaltig eingefärbt habe. Zum einen ist die Ablehnung Luthers und Calvins, wie die positiven Urteile in den "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" zeigen, keineswegs so einseitig; zum anderen tun sich für Burckhardt durch den Glaubwürdigkeitsverlust des Katholizismus in den Eliten moralische Abgründe auf, die letztlich in Machtstaatlichkeit und Revolutionen münden. Gerade deshalb hätte man sich einen Essay gewünscht, der die fast schon reflexartige, nicht selten obsessive Dämonisierung der zeitgenössischen Quellen, die überzogene Hervorhebung der Gewalt und das damit verbundene Italienbild tiefer analysiert. Insgesamt fokussieren die einzelnen Kapitel stärker auf die Entstehung des Werkes als auf die Frage, in welchem Verhältnis es zum heutigen Stand der Forschung steht; diese Gewichtung hätte man sich umgekehrt gewünscht.
Trotzdem bleibt unter dem Strich ein positives Fazit zu ziehen: ein Band, der wichtige Aufschlüsse zur Erfindung der "Renaissance" aus dem Geist des 19. Jahrhunderts bietet und auf diese Weise zu einer eigenständigen Lektüre der Quelle anregt.
Volker Reinhardt