Mark Schiefer / Martin Stief (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1983. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 320 S., ISBN 978-3-525-31734-1, EUR 30,00
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Mark Schiefer / Martin Stief (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1989. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019
Quelleneditionen sind für die Geschichtsforschung unentbehrliche Bausteine. Dazu gehören auch die edierten Berichte der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Seit 1953 erhielten ausgewählte Personen im Partei- und Staatsapparat der DDR regelmäßig die geheimen Informationen. Die Berichte wurden seit 2009 im Auftrag des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) in einer Edition herausgegeben. Nach dem Übergang des Stasi-Unterlagen-Archivs in das Bundesarchiv wird die Reihe künftig vom Bundesarchiv herausgegeben. Wechselnde Bearbeiterinnen und Bearbeiter kommentieren die Berichte, um den historischen Kontext für Nutzerinnen und Nutzer verständlich zu machen. Die Buchversion enthält eine einführende Einleitung zu Kontext und Spezifika und eine Auswahl von Berichten des jeweiligen Jahrgangs. Vollständig zugänglich sind die Berichte online. [1]
Für das Jahr 1983 sind insgesamt 211 Berichte überliefert. Die Einleitung ist wie immer nach dem gleichen Muster verfasst: Einordnung des Jahres in den historischen Kontext, detailliertere Besprechung besonders relevanter Themenfelder der Berichte, Hinweise zur Berichtsstruktur, zur Rezeption und zu den Formalia. All das machen die beiden Bearbeiter, Mark Schiefer und Martin Stief, in bewährter Manier. Die Rezension greift zwei Punkte auf, die auf die unmittelbare Bedeutung der ZAIG-Berichterstattung verweisen und weiterführende Forschungsfragen aufwerfen.
1983 war das "Auftreten der Grünen in der DDR" (32) ein zentrales Thema in den Meldungen an die Parteiführung. Die Partei Die Grünen galt allerdings nicht erst im März 1983 bei ihrem erstmaligen Einzug in den Deutschen Bundestag als potenzieller Partner. Bereits mit ihrer Gründung 1979 schien die Partei in mehrfacher Hinsicht vielversprechend. Das Augenmerk in Ost-Berlin galt zunächst der Frage, inwieweit die Grünen die gewohnten Regierungskoalitionen zunächst auf Landes- und dann auch auf Bundesebene ins Wanken bringen könnten. Gleichzeitig war die Partei aus der Umwelt- und Friedensbewegung in der Bundesrepublik entstanden. Die im NATO-Doppelbeschluss vorgesehene Stationierung von atomaren Mittelstreckenwaffen im Fall eines Scheiterns der Genfer Verhandlungen führte in der Bundesrepublik zu zahlreichen Protestaktionen. Vor diesem Hintergrund sah die SED-Führung in den Grünen ein Vehikel, auf die westdeutsche Protestbewegung Einfluss zu nehmen.
Dafür benötigte die SED zuverlässige Informationen über die westdeutsche Partei und ihr Umfeld. Die Frage, wie die Grünen beobachtet und wie über sie berichtet wurde, beantwortete bereits die Studie von Andrea Bahr und Jens Gieseke zum Einfluss der DDR-Staatssicherheit auf die Grünen. [2] Deren Analyse zeigt, dass Grünen-Mitglieder ins Visier gerieten, die als potenzielle Gesprächspartner galten, aber auch Verbindungen zur Oppositionsbewegung in der DDR hatten. Damit richteten sich etwa auf Petra Kelly oder Lukas Beckmann, beide Galionsfiguren nicht nur der Grünen, sondern der gesamten westdeutschen Friedensbewegung, zwei gegensätzliche Projektionen des SED-Regimes. Sie waren mögliche Verbündete und gleichzeitig gefährliche Gegner. Bahr und Gieseke stützen sich dabei auf die HV A-Berichtsreihe, die sehr tiefgehende Einblicke in das wechselvolle und nicht eindeutige Agieren des SED-Regimes gewährt.
Schiefer und Stief greifen diese Ergebnisse leider kaum auf, zeichnen aber anhand der ZAIG-Berichterstattung ebenfalls das spannungsreiche Verhältnis zwischen SED/MfS und den Grünen nach, das sich zwischen Protestaktionen auf dem Berliner Alexanderplatz, einer Einladung zum Gespräch mit Erich Honecker, mehreren Treffen mit ostdeutschen Oppositionellen und schließlich dem Einreiseverbot für Abgeordnete, Mitglieder, aber auch Anhänger der Grünen im November 1983 bewegte. Es stellt sich die Frage, ob es neben ZAIG und HV A noch weitere Berichtsreihen innerhalb des MfS oder auch informelle Informationen an die Partei gab. Welche Bedeutung hatte dann die ZAIG, die als Stabsstelle für die interne und externe Kommunikation des MfS gilt? Ein Vergleich dieser verschiedenen Informationskanäle wäre aufschlussreich, um die Signifikanz der MfS-Berichterstattung insgesamt und ihren direkten Einfluss auf das Handeln der Partei- und Staatsführung bestimmen zu können. Dabei wäre auch zu beachten, dass die SED mit den regelmäßigen Berichten aus den Kreis- und Bezirksleitungen selbst über ein Informationssystem verfügte.
Die Einleitungen widmen sich stets den zentralen Themen der ZAIG-Berichterstattung. Mitunter kann aber der Blick auf die Leerstellen fruchtbarer sein, vor allem wenn die Funktionalität/Effizienz und Wirkung der Berichte im Fokus stehen. Ein Schwerpunkt der ZAIG-Meldungen 1983 war die sich zunehmend artikulierende Oppositionsbewegung in Form sehr heterogener und damit nur begrenzt zu kontrollierender Gruppen. In diesem Zusammenhang thematisieren die Bearbeiter die Oppositionsszene in Jena ausgiebig. Allerdings konstatieren sie, dass die vielen Protestaktionen der Jenaer Friedensgruppe nur selten Eingang in die Berichte fanden. Auch die gewaltsame Abschiebung Roland Jahns kommt nicht vor. Dagegen wurde auf Bezirksebene ausgiebig über die jeweiligen Ereignisse berichtet. Folgende Fragen drängen sich auf: Aus welchen Informationen generierte die ZAIG ihre Berichte? Nach welchen Kriterien wurden Themen verarbeitet oder eben nicht? Und nicht zuletzt: Wer verfasste die Berichte am Ende?
Es gibt weitere Leerstellen, die problematisiert werden müssten. Die ZAIG verfasste 1983 gerade einmal zwei Berichte über Ausreiseantragsteller. Zum einen baten mehrere Personen den bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß bei seinem Besuch in der DDR um seine Unterstützung bei ihrem Antrag auf Ausreise. Der Verteiler, der die Empfänger auflistet, zeigt, dass dieser Bericht weder die Parteiführung erreichte noch innerhalb des MfS versandt wurde. Dagegen ging im zweiten Fall der Bericht über die öffentliche Demonstration eines Ehepaares auf dem Alexanderplatz in Berlin an Erich Honecker, an Joachim Herrmann, Mitglied im Politbüro und ZK der SED sowie Chefredakteur des Neuen Deutschland, und an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, Konrad Naumann, der ebenfalls im Politbüro saß. In diesem Zusammenhang wäre auch danach zu fragen, ob tatsächlich nicht mehr Menschen ihrem Wunsch, die DDR zu verlassen, öffentlich Ausdruck verliehen haben. Die Zahl der Ausreiseanträge stieg seit 1976 sprunghaft an, zwischen 1980 und 1985 von gut 21.000 auf über 50.000. Und das MfS unterhielt mit der sogenannten Zentralen Koordinierungsgruppe eine eigene Abteilung zur "Bekämpfung von Flucht und Ausreise", bei der alle Informationen über die Ausreisebewegung zusammenliefen.
Wie gezeigt, bietet die Edition der ZAIG-Berichte viel Potenzial für die Geschichtsforschung. Zur WebApp abschließend noch eine persönliche Anmerkung der Rezensentin: Sie trauert um die ursprüngliche Version. Mag sie auch veraltet gewesen sein, die Recherche und Suche in den einzelnen Dokumenten war einfacher, zielgenauer und ergiebiger als in der aktuellen Version.
Anmerkungen:
[1] Bundesarchiv: Die DDR im Blick der Stasi. https://www.ddr-im-blick.de [22.12.2022].
[2] Vgl. Jens Gieseke/Andrea Bahr: Die Staatssicherheit und die Grünen. Zwischen SED-Westpolitik und Ost-West-Kontakten, Berlin 2016. Zur HV A-Berichterstattung S. 191-218.
Elke Stadelmann-Wenz