Mark Schiefer / Martin Stief (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1989. Die geheimen Berichte an die SED-Führung (= Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 320 S., 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-31066-3, EUR 30,00
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Mark Schiefer / Martin Stief (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1983. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021
Die von Mark Schiefer und Martin Stief bearbeiteten Berichte der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) an die SED-Führung aus dem Jahre 1989 ermöglichen aufschlussreiche Einblicke in jene gesellschaftspolitischen Spannungsfelder der 1980er Jahre, die zum Ende der SED-Herrschaft führten. Die Verweigerung von Glasnost und Perestroika, die Abwehrhaltung gegenüber den Reformbestrebungen in anderen Ostblockländern, das starrsinnige Festhalten an der verhängnisvollen Gesellschaftspolitik, die gefälschten Kommunalwahlen im Mai 1989, die Öffnung der ungarischen Grenze sowie die Fluchtwelle im Sommer 1989 ließen eine breite Protest- und Massenbewegung entstehen, die im Herbst 1989 in eine friedliche Revolution mündete. Vor allem aber führten die volkswirtschaftlichen Missstände und das Scheitern der zentralen Planwirtschaft zu einem rapiden zunehmenden wirtschaftlichen Verfall und zu drohender Zahlungsunfähigkeit gegenüber westlichen Gläubigern, so dass die DDR schließlich in ihre finale Existenzkrise stürzte.
Die Berichte der ZAIG über ausgewählte aktuelle Probleme in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft geben Einblicke in das Stimmungs- und Lagebild der SED-Herrschaft. Der Umstand, dass in der für die Wirtschaft zuständigen Hauptabteilung (HA) XVIII des MfS im Laufe der 1980er Jahre die Furcht vor dem drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR rapide gewachsen war, spiegelt sich in den Berichten allerdings nur in Ansätzen wider. Eine zusammenfassende Analyse der grundlegenden Ursachen für die umfassende Systemkrise, zu der das MfS aufgrund der vielen Detailinformationen von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) und Kontaktpersonen (KP) durchaus in der Lage gewesen wäre, legte es dem Politbüro nicht vor. Die wirklich brisanten Lageeinschätzungen und Analysen blieben unter Verschluss und der internen Auswertung des MfS auf der oberen Leitungsebene vorbehalten. Zudem behielt sich MfS-Minister Mielke vor, einige Berichte über die Stimmung unter der Bevölkerung dem Generalsekretär sowie ausgewählten Mitgliedern der politischen Führung zu übermitteln. In der Regel erhielten Politbüromitglieder, aber auch Regierungsvertreter nur jene Informationen, die ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich zugeordnet werden konnten. Über den Verteilerkreis entschied der Minister persönlich.
Die Bearbeiter benennen in ihrer Einleitung Schwerpunkte der ZAIG-Berichte im Jahr 1989, zu denen zunächst Informationen über die evangelischen Kirchenleitungen sowie Vorgänge in den evangelischen Gemeinden gehörten. Das MfS widmete diesem Komplex in seinem Berichtswesen in den 1980er Jahren stets besondere Aufmerksamkeit, weil es dort - sicherlich nicht zu Unrecht - Keimzellen der politischen Opposition vermutete. Erweitert wurde dieser Komplex durch Informationen über regimekritische Umwelt- und Friedensgruppen, die nicht selten im Umfeld der Kirchen agierten. Als ab September 1989 oppositionelle Bürgerinitiativen den Machtanspruch der SED öffentlich in Frage stellten, spiegelt sich in den ZAIG-Berichten eine auffällige Hilflosigkeit des MfS über den Umgang mit der organisierten Oppositionsbewegung wider. Seit Mitte Oktober 1989 nahmen Berichte über die zunehmenden Massenproteste nicht nur in Leipzig und Dresden, sondern auch in vielen Kreisstädten breiten Raum ein. Einen denkbaren Ausweg aus der Krise konnte das MfS allerdings nicht präsentieren. Auch die Berichte über die Fluchtwelle im Sommer 1989 sowie die Besetzung der Botschaften der Bundesrepublik in Budapest und Prag zeigen nach Ansicht von Schiefer und Stief die zunehmende Rat- und Machtlosigkeit des MfS.
Über die wirkliche Stimmung nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in den unteren Parteigliederungen der SED geben lediglich die innerhalb des MfS verteilten sogenannten O-Berichte Auskunft. Demnach führte die offensichtliche Handlungsunfähigkeit der SED-Führung in den Grundorganisationen der Partei zu Enttäuschung, Resignation, Verzweiflung sowie zunehmenden Forderungen nach innerparteilichen Reformen und Ablösung der starrsinnigen Parteiführung. Eine tiefergehende Stimmungsanalyse von Mitte Oktober 1989, die auch die Wut der Parteimitglieder auf die untätige Parteiführung beschrieb, übergab der MfS-Chef Egon Krenz persönlich. Krenz, der als ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen konspirativ die Ablösung Honeckers betrieb und nach dessen Sturz am 18. Oktober 1989 selbst zum Generalsekretär ernannt wurde, konnte mit inhaltsleeren Phrasen den offenen Ausbruch der Systemkrise jedoch nicht mehr verhindern. Er war trotz seiner Kenntnisse über das bedrohliche Ausmaß der Krise zu sehr in den ideologischen Denkmustern der SED verhaftet.
Die Berichte der ZAIG des Jahres 1989 bilden eine anschauliche Chronologie des Untergangs der DDR und stellen eine kaum zu überschätzende Quelle für die zeitgeschichtliche Forschung dar. Sie stehen damit in deutlichem Kontrast zu dem über Jahrzehnte hinweg ritualisierten innerparteilichen Berichtswesen der SED, das bis weit in den Herbst 1989 die gesellschaftspolitische Lage der DDR nicht ansatzweise zu beschreiben vermochte. Doch sind auch für die MfS-Berichte Einschränkungen zu beachten. Insbesondere die Berichte über die Bevölkerungsstimmung verdeutlichen zugleich auch die tendenziöse Informationspolitik des MfS. Da die Informationen aus den Bezirksdienststellen des MfS und den Hauptabteilungen der Zentrale mehrere Filter durchliefen, in denen allzu brisantes Material abgeschwächt oder gänzlich herausgenommen wurde, spiegelten die zusammenfassenden ZAIG-Berichte für die Führungsmitglieder nur Teile der ursprünglichen internen Lageeinschätzungen des MfS wider. "Unter keinen Umständen", so betonen Schiefer und Stief, "sollten die widergespiegelten Meinungen von der SED-Führung als kritische Ansichten des MfS oder als Ausdruck einer gescheiterten Politik missverstanden werden." (53)
Festzuhalten bleibt, dass sich in den von Schiefer und Stief sachkundig kommentierten Dokumenten trotz einer deutlichen Selbstzensur und einer ideologisch bedingten Wahrnehmungsverzerrung wesentliche Krisensymptome in Gesellschaft, Politik und Ökonomie offenbarten. So hätten insbesondere die ZAIG-Berichte des Jahres 1989 für die politische Führung durchaus eine Quelle sein können, um sich ein wirklichkeitsnahes Bild von der innenpolitischen Lage in der DDR zu machen. Aber selbst die an Honecker und ausgewählte Politbüromitglieder übermittelten kritischen Lageeinschätzungen beförderten innerhalb der SED-Führung kein Umdenken. Sie bewirkten somit politisch kaum etwas, weil die Führungselite der SED unbequeme Wahrheiten lediglich zur Kenntnis nahm und nicht einmal als Herrschaftswissen zu nutzen verstand. Zwar hat sich das MfS in den 1980er Jahren der politischen Führung nur als Mahner vor dem wirtschaftlichen Chaos und nicht als politischer Stratege präsentiert. Letztlich dokumentieren die Informationsberichte aber auch die Unfähigkeit des MfS', der politischen Führung einen Ausweg aus der Gesellschafts- und Herrschaftskrise vorzuschlagen.
Andreas Malycha