Christian Booß / Helmut Müller-Enbergs: Die indiskrete Gesellschaft. Studien zum Denunziationskomplex und zu inoffiziellen Mitarbeitern (= Studies in Intelligence Collection and Intelligence Analysis; Vol. 4), Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft 2014, 268 S., ISBN 978-3-86676-384-5, EUR 29,80
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Forschungen zu Mechanismen und Instrumenten der Durchsetzung des totalitären Machtanspruchs der SED und der damit verbundenen staatlichen Willkür konzentrierten sich bislang hauptsächlich auf das Ministerium für Staatssicherheit und dessen inoffizielle Mitarbeiter. Der vorliegende Band bietet eine Sammlung verschiedener Aufsätze, die sich nicht auf die inoffiziellen Mitarbeiter des MfS beschränken, sondern den Blick auf ein breiteres Spektrum politischer Denunziation als Form der Informationsgewinnung und damit staatlicher Machtabsicherung richten. Christian Booß und Helmut Müller-Enbergs sehen in ihrer methodischen Einordnung des Themas einen deutlichen Unterschied zur klassischen Definition der Denunziation. In den von ihnen beschriebenen Vorgängen ging die Initiative nicht von den Denunzianten, sondern von Repräsentanten des Staates aus, die gezielte Befragungen im sozialen Milieu der zu überprüfenden Personen durchführten. Der Begriff des Denunziationskomplexes wird benutzt, um das weit verzweigte Netz der Informationsbeziehungen des MfS in nahezu alle Bereiche der Gesellschaft erfassen zu können.
In den Kreis der Informanten der Geheimpolizei rücken nunmehr auch sogenannte Auskunftspersonen (AKP), die nur zu einem geringen Teil zugleich als inoffizielle Mitarbeiter erfasst waren und bereitwillig Auskünfte aus dem privaten Umfeld (Arbeitsplatz, Wohnumgebung, Freizeitbereich) gaben. Booß hält den gesamten Komplex der Auskunftspersonen für ein bislang unterschätztes Phänomen der Massenüberprüfung. Anhand von überlieferten Karteien ("Auskunftspersonenkarteien"), die er für den Bezirk Rostock ausgewertet hat, stuft er diese Überwachungsform als eines der umfassendsten Informationssysteme des MfS ein. Daher hält er die bislang vorherrschende Fokussierung auf die inoffiziellen Mitarbeiter als hauptsächliche Informationsquelle des MfS für unangemessen. Vielmehr müssten seiner Ansicht nach die vielfältigen Methoden der Sicherheitsüberprüfungen im Berufs- und Alltagsleben mit einbezogen werden.
Auch Müller-Enbergs plädiert auf der Grundlage von entsprechenden Karteien der MfS-Kreisdienststelle Saalfeld (Thüringen) dafür, den Auskunftspersonen des MfS größeres Gewicht im System der Überwachung der Bevölkerung beizumessen. Fraglich ist indes, ob sich die für den Bezirk Rostock sowie den Kreis Saalfeld erfassten Daten für die DDR hochrechnen lassen. So schätzt Müller-Enbergs anhand von überlieferten Überprüfungsdossiers die Zahl der Auskunftspersonen in der DDR auf zuletzt eine Million Einwohner. In der historischen Bewertung dieses Massenphänomens sollte künftig danach gefragt werden, welchen qualitativen Stellenwert die Informationen von Auskunftspersonen in der internen Rangfolge des MfS hatten und inwieweit die Auskünfte tatsächlich für repressives Handeln genutzt wurden.
Susan Pethe und Christian Booß analysieren die Zusammenarbeit mit Spitzenfunktionären in Staat und Partei, den sogenannten Nomenklaturkadern, als einen weiteren Aspekt des Informationssystems des MfS. Ihrer Ansicht nach seien die offiziellen Kontakte des MfS mit diesem Personenkreis und die daraus gewonnenen Informationen in der bisherigen Forschung unterschätzt worden. Durch die Form der Informationsbeschaffung über das weit gespannte Netz der Nomenklaturkader sei eine besondere Form der Überwachungskultur entstanden, die ganz wesentlich zur Herrschaftssicherung der SED beigetragen habe.
Pethe und Booß veranschaulichen am Beispiel von bislang weitgehend unerschlossenen Akten des MfS, wie sich die Herrschaft der SED auf ein umfassendes System gegenseitiger Überwachung stützte, das selbst in die obersten Führungsetagen der SED und des Staates hineinreichte. Da Funktionäre von Partei und Staat vor ihrem Aufstieg in obere Leitungsposten einer Überprüfung durch das MfS unterzogen wurden, fungierte die Geheimpolizei faktisch als Personalberater der Abteilung für Kaderfragen des Zentralkomitees. Pethe und Booß können nachweisen, dass diese Überprüfungen auch vor Mitgliedern zentraler Führungsgremien der SED und des Staates nicht haltmachten, weshalb Mielke die darüber gewonnenen Informationen im eigenen Ministerium sowie gegenüber der SED-Führung geheim hielt und unter dem Codewort "Rote Nelke" archivieren ließ. Inwiefern Mielke aus Informationen über Personen aus dem engeren Führungskreis der SED politischen oder persönlichen Nutzen zog, bleibt eine noch zu klärende Frage. Die Unterlagen des geheimen Vorgangs "Rote Nelke" sprechen zudem gegen die bislang vertretene These, wonach Spitzenfunktionäre der SED nicht als inoffizielle Mitarbeiter für das MfS tätig waren.
Müller-Enbergs analysiert ein sehr breites Spektrum von Motiven für die Kooperationsbereitschaft inoffizieller Mitarbeiter und liefert Argumente gegen die gängige Auffassung, die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem MfS habe vorwiegend materielle Hintergründe gehabt oder sei unter Anwendung von Druck und Erpressung zustande gekommen. Anhand von Unterlagen der MfS-Hauptverwaltung Aufklärung gelangt Müller-Enbergs zu dem Schluss, dass für die überwiegende Mehrheit der für das MfS geworbenen inoffiziellen Mitarbeiter ideelle Motive, d.h. politisch-ideologische Überzeugungen ausschlaggebend waren. Dieser Befund erklärt auch die vergleichsweise große Bereitschaft von Personen aus staatlichen Verwaltungen bzw. von Mitgliedern der SED, dem MfS als inoffizieller Mitarbeiter Informationen aus dem Arbeitsalltag bzw. dem persönlichen Umfeld zu liefern. Müller-Enbergs verweist allerdings zu Recht auf den Wandel der Motive für ein inoffizielles Engagement für das MfS, der sich im Laufe der Jahrzehnte vollzogen habe. Darüber hinaus kann er anhand von Fallbeispielen aufzeigen, wie man sich dem Drängen des Staatssicherheitsdienstes zur inoffiziellen Mitarbeit verweigern konnte. Hier sieht der Autor weiteren Forschungsbedarf.
Die zentrale These, wonach die Informationsbeschaffung in der DDR keineswegs auf die inoffiziellen Mitarbeiter des MfS beschränkt werden darf, wird in den Aufsätzen des Bandes anhand von Fallbeispielen überzeugend begründet. Durch den von Booß und Müller-Enbergs benutzten Begriff des Denunziationskomplexes kann erklärt werden, wie es dem MfS gelang, über ganz vielfältige Formen der Informationsbeschaffung in die Gesellschaft einzudringen. Die offizielle Kooperation des MfS mit Personen in Schlüsselpositionen staatlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Institutionen wird von ihnen zu Recht als ein wesentliches Element im Informationssystem des Geheimdienstes gesehen, das in der Forschung zu Repressions- und Überwachungspraktiken des MfS bislang ungenügend berücksichtigt worden ist. Gleichwohl wirft die quantitative Einschätzung, wonach fast die Hälfte der Bevölkerung in kleineren Dossiers, auf Karteikaten oder in Datenbanken vom MfS erfasst gewesen sei, eine Reihe von Fragen auf. So ist es mit Blick auf das gesamte Spektrum des Informationssystems fraglich, ob man alle Informationsquellen des MfS als qualitativ gleichwertig beschreiben kann. Der Informationswert von Berichten inoffizieller Mitarbeiter war zweifellos ungleich höher als der von knappen Dossiers der Kontaktpersonen aus dem Wohngebiet.
Das Verdienst des Bandes besteht insbesondere darin, eine neue Sicht auf die überlieferten Akten und Aktivitäten des MfS als konstitutives Herrschaftsinstrument der SED angeregt zu haben. Booß und Müller-Enbergs veranschaulichen, dass noch sehr viel mehr differenzierende Forschung zu den Überwachungspraktiken des MfS nötig ist.
Andreas Malycha