Helmut Müller-Enbergs / Thomas Wegener Friis (Hgg.): DDR-Spionage. Von Albanien bis Großbritannien (= Analysen zu Sicherheitsfragen; Bd. 6), Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft 2018, 320 S., ISBN 978-3-86676-535-1, EUR 34,90
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Erst in den letzten Jahren hat die historische Forschung - und hier unter anderem die Forschung zur Epoche des Kalten Kriegs - endlich auch die Geschichte der Nachrichtendienste in ihre Analysen miteinbezogen. [1] Da ist es am Platz, Untersuchungen zu internationalen Aktivitäten der ostdeutschen Staatssicherheit offensiver in entsprechende Diskussionen einzubringen. [2] In diesem Kontext ist der vorliegende Band zu verorten. Er bietet Erkenntnisse über Grundcharakteristika und -methoden ostdeutscher Auslandsspionage jenseits der Bundesrepublik sowie Überblicke über Aktivitäten der entsprechenden Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) sowie des Bereichs Aufklärung des Ministeriums für Nationale Verteidigung gegenüber einzelnen Zielgebieten. Hervorzuheben sind hier unter anderen die Studien zu Amerika, zu Bulgarien, Frankreich und zu Großbritannien. Die Skizze zu Andorra benötigt gerade einmal eine gute Seite. Sie zeigt zwar exemplarisch das Staubsauger-Prinzip auf, mit dem eben auch die ostdeutschen Spione vorgingen. Dennoch scheinen derartige, buchstäblich abgelegene Fallstudien durchaus verzichtbar zu sein.
Darüber hinaus versteht sich der Sammelband programmatisch als "Auftakt", der weitere wissenschaftliche Kooperationen zur Erforschung der "internationale[n] und vor allem europäische[n] Nachrichtendienstgeschichte" anregen soll (13). In diesem Sinne listet der Band beispielsweise für Belgien und Großbritannien die in der BStU bislang identifizierten Vorgänge auf, um "weiterführende Recherchen [zu] unterstützen" (112-117, 299-303). Derlei Offenheit war in der Vergangenheit keineswegs gängige Praxis, wie die Herausgeber in ihrem fundierten Forschungsüberblick feststellen müssen. Wie wichtig Kooperationen für das gesamte Forschungsfeld sein können, lässt sich Hinweisen auf laufende und geplante Gemeinschaftsprojekte entnehmen. Die angekündigte digitale Publikation der internationalen Treffen der Leiter der Auslandsspionagedienste des Warschauer Pakts darf mit Spannung erwartet werden.
Gemeinsame Anstrengungen zur Erschließung und Bearbeitung internationaler Provenienzen erscheinen umso wichtiger, als nicht nur die Quellenlage für die Geschichte der ostdeutschen Aufklärung alles andere als üppig ist. Im Fall der relevanten ostdeutschen Behörden sind die operativen Akten wohl größtenteils vernichtet worden. Aussagekräftige Materialien früherer Partnerdienste sind heute zumindest partiell greifbar. Das ehemalige sogenannte "System zur Informationsrecherche der HV A", das wichtige Aufschlüsse über das eigentliche Informationsaufkommen der Spionage gibt, ist dagegen in großen Teilen erhalten. Die wichtigen "Rosenholz"-Karteikarten, die dahinterstehende Spionage-Netzwerke aufschlüsseln, sind für die Forschung bislang nur in Bezug auf deutsche Staatsbürger zugänglich. Aktenbestände westlicher Geheimdienste über deren Kampf gegen die ostdeutsche Spionage bzw. über ihre Konfrontationen mit der ostdeutschen Abwehr sind nicht bzw. nur punktuell nutzbar. [3] Auch hier machen die Herausgeber Hoffnung, dass beispielsweise Materialien der britischen und US-amerikanischen Funkaufklärung in absehbarer Zukunft der Forschung zur Verfügung gestellt werden.
Vor diesem Hintergrund ist es eine Leistung des Bandes, wenn über Einzelfälle und Ausschnitte zahlreiche wichtige Dimensionen, Tendenzen und Fragestellungen der internationalen Geschichte der DDR-Spionage angerissen werden. Dazu zählt unter anderem das Problem, inwieweit Erkenntnisse von HV A und Militärspionage politische Entscheidungsfindungsprozesse der DDR-Führung beeinflussten. In den weiteren Zusammenhang dieser Diskussion gehört auch die Frage nach der Einbindung ostdeutscher Aktivitäten in globale Interessen von KGB und UdSSR. Die Moskauer Partner wussten beispielsweise Informationen aus der Raumfahrtforschung und verschiedenen Rüstungsbereichen direkter zu nutzen als ostdeutsche Abnehmer.
Zusammengenommen machen die Beiträge die Grenzen der angeblich so schlagkräftigen Berliner Spionagetruppen deutlich, wenn sie deren Schwierigkeiten beschreiben, nicht-deutsche Informanten zu gewinnen bzw. außerdeutsche Abwehrriegel und Zusammenhänge zu durchdringen. Zugleich wird die Vielzahl von Wegen und Umwegen deutlich, mit denen versucht wurde, Erkenntnisse nicht nur über westdeutsche, sondern eben auch über andere internationale Verhältnisse zu gewinnen. Darüber hinaus legen die Beiträge erneut die Verzahnung von innenpolitischen und außenpolitischen Aufgaben offen, wenn es etwa darum ging, DDR-Bürger im westlichen und befreundeten Ausland unter Kontrolle zu halten. Zudem ließ sich auch die DDR-Aufklärung immer wieder von ideologischen Axiomen leiten. So forschte sie im Westen nach Anzeichen des gesetzmäßigen Zerfalls, oder sie suchte immer wieder die Nähe zu linken Organisationen als quasi-natürliche Verbündete. Derlei Perspektiven beeinflussten zwangsläufig die Qualität der erhobenen Informationen. Schließlich werden komplexe Beziehungen zwischen Quellen und Agentenführern deutlich, die Engagement und Verlässlichkeit der Informanten und damit die Ergebnisse von Spionageoperationen beeinflussten. Auf diese Weise leistet der Band tatsächlich seinen Beitrag zur internationalen Geschichte der Nachrichtendienste im Kalten Krieg.
Allerdings wird die Lektüre durch zwei wesentliche Mängel erschwert: Zum einen folgt der Aufbau der Einzelbeiträge keiner stringenten Gesamtlinie. Daher werden in den einzelnen Fallstudien Informationen über die Tätigkeit von Spionage und Spionageabwehr, die Einbettung nachrichtendienstlicher Operationen in die jeweiligen bilateralen oder multilateralen politischen Beziehungen der DDR, Erkenntnisse über operative Besonderheiten, Probleme und Grundsätze in sehr unterschiedlicher Dichte und Gewichtung präsentiert. Vor diesem Hintergrund wird, zweitens, eine grundlegende Synthese dieser Splitter und Beispiele, die zugleich verbindlich in grundlegende Terminologien und allgemeine Arbeitsweisen der ostdeutschen Auslandsspionage eingeführt hätte, besonders schmerzlich vermisst. Es bleibt zu hoffen, dass die angekündigten weiteren Bände zu Auslandsaktivitäten der DDR-Nachrichtendienste diese vermeidbaren Schwächen korrigieren, um einen noch ergiebigeren Beitrag zur Internationalen Geschichte leisten zu können.
Anmerkungen:
[1] Vgl. z.B. Melvyn P. Leffler / Odd Arne Westad (eds.): The Cambridge History of the Cold War, 3 Bde., Cambridge 2010; Jonathan Haslam: Near and distant neighbours. A new history of Soviet intelligence, New York 2015.
[2] Vgl. u.a. Christopher Nehring: Die Zusammenarbeit der DDR-Auslandsaufklärung mit der Aufklärung der Volksrepublik Bulgarien. Regionalfilialen des KGB?, Diss. Heidelberg 2016; Douglas Selvage: Die AIDS-Verschwörung. Das Ministerium für Staatssicherheit und die AIDS-Desinformationskampagne des KGB, Berlin 2015.
[3] Die Chancen multiarchivalischer und damit multiperspektivischer Untersuchungen führen eindrucksvoll vor Augen Ronny Heidenreich / Daniela Münkel / Elke Stadelmann-Wenz: Geheimdienstkrieg in Deutschland. Die Konfrontation von DDR-Staatssicherheit und Organisation Gehlen 1953, Berlin 2016. Vgl. dazu die Rezension von Christian Rau in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 4 [15.04.2017], URL: http://www.sehepunkte.de/2017/04/29517.html.
Andreas Hilger