James H. Billington: Russia in Search of Itself, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2004, XVIII + 234 S., ISBN 978-0-8018-7976-0, USD 24,95
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Das russische Volk erlebte im kurzen 20. Jahrhundert 1917 und 1991 zwei dramatische Zusammenbrüche der staatlichen Hülle. Nach 1917 hielten die Bolschewisten das Imperium mit Gewalt, Verführung und politischen Kompromissen nahezu vollständig zusammen. 1991 dagegen wollte und konnte die Moskauer Zentrale der Sprengkraft der verschiedenen Nationalismen nichts entgegensetzen. So fanden sich nach 1991 sogar rund 25 Millionen Russen außerhalb der Grenzen der Russischen Föderation wieder. Auf diese Weise sieht sich das neue Russland genötigt, nicht nur soziale oder wirtschaftliche Probleme einer Transformationsgesellschaft anzugehen, sondern auf Erfordernisse einer post-kommunistischen Staats- und Nationenbildung und damit zugleich auf Anforderungen einer Bewusstseinsfindung unter völlig neuen Vorzeichen zu reagieren. Diese Prozesse müssen zudem integrativ vorangetrieben werden. Wie groß die aktuellen Belastungen und die Unsicherheiten über die Zukunft sind, zeigt sich daran, dass viele Russen die Gegenwart als "smutnoe vremja", als "Zeit der Wirren" bezeichnen, im Anklang an die "smuta" der Jahre 1598-1613 nach dem Ende der Rjurikidendynastie, die von Aufständen und Kämpfen zwischen echten und auch falschen Thronprätendenten geprägt war (51). [1]
Der Autor des Buches, das Russlands schwierige Suche nach sich selbst thematisiert, langjähriger Direktor des renommierten Woodrow Wilson Center for Scholars sowie Hauptbibliothekar des amerikanischen Kongresses und kenntnisreicher Beobachter Russlands, nähert sich dem Thema umsichtig in einer essayistischen Analyse. Grundlage seiner Erörterungen ist neben diversen Umfragen vor allem die genaue Lektüre der vielfältigen Publizistik in Russland. Dieses Material sowie Ereignisse, die für die Untersuchung relevant sind, reichen bis ins Jahr 2003 hinein. Billington betrachtet die Diskussionen als Ausdruck der heutigen russischen Psychologie aus der heraus die politische Führung die Zukunft gestalten müsse (XIV, 46). Die Ergiebigkeit ähnlicher Ansätze auch für die historische Forschung ist erst kürzlich eindrucksvoll demonstriert worden. [2] Dem zentralen Untersuchungsgegenstand stellt Billington kurze Abrisse der entsprechenden Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert voraus. Für das (späte) 19. und frühe 20. Jahrhundert verweist er vor allem auf die letztliche Leere des staatlich inspirierten Chauvinismus und der imperialen Überdehnung (18). Zu einem wirklichen positiven Selbstbewusstsein ist es im Zarenreich nicht mehr gekommen. [3] Auch in der UdSSR nutzte gerade Stalin den "großrussischen Chauvinismus" (Lenin) eher für staatstragende Zwecke als für die russische Selbstvergewisserung. Die "Dorfprosa" der post-stalinistischen Ära, die literarische Rückbesinnung auf die ländliche Gesellschaft und ihre Nähe zur Natur, barg dann nicht nur das Potenzial verschiedener Ausformungen eines russischen Selbstbilds, das nicht selten nationalistisch getönt war, sondern mit ihrer Sensibilität für menschliche, ökologische und andere Kosten des Systems zugleich auch das für eine anti-sowjetische Ausrichtung. [4] Hiermit verdeutlicht Billington noch einmal die komplexe Verbindung von informeller nationaler Selbstfindung und offizieller Herrschaftslegitimation, die auch seine Analyse der post-kommunistischen Ära leitet.
Seit 1991 versucht Russland, sich an vorrevolutionären Errungenschaften zu orientieren, die zum Teil in der Emigration oder Opposition überdauert haben zum Teil in der späten UdSSR oder nach 1991 wieder entdeckt wurden. Dazu gehört die Idee Ivan Il'ins, der schon Anfang der fünfziger Jahre nicht nur das Ende der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetunion voraussagte, sondern den folgenden staatlichen Zerfall durch das Zusammenspiel eines starken Führers mit der Orthodoxen Kirche verhindert wissen wollte. Daneben gewinnen im Kontext der von Billington für zentral erachteten Rückbesinnung auf das Silberne Zeitalter der russischen Kultur Anfang des 20. Jahrhunderts etwa auch Pavel Florenskij als Vertreter einer eigenen Spiritualität, Vladimir Vernadskijs Konzept der "Noosphäre", einer eigenständigen Gedanken- oder Bewusstseinssphäre, oder Michail Bachtins Literaturkritik neue Aktualität. Die dritte Ideenschule sieht Billington durch Dmitrij Lichačev verkörpert, der gegenüber Gorbačev und besonders El'cyn eine besondere Synthese westlicher und russischer Werte einforderte und in seiner Persönlichkeit moralische und wissenschaftliche Wahrheitssuche verband.
Neben der kulturell-religiös geprägten Rückbesinnung lässt sich in Russland eine aggressiv nationalistische Komponente russischer Identitätssuche beobachten. Sie stellt sich als vereinfachte Wiederauflage und Wendung des Eurasianismus dar und ist mit einem autoritären Nationalismus durchtränkt. Ihre Bedeutung gewinnen können diese Denkströmungen aus einer unspezifischen Enttäuschung vieler Russen über "den Westen" - eine Grundstimmung, die sich im Extremfall bis zur (rechts-)radikalen Xenophobie steigern kann. Eine allgemeine Desillusionierung, erkennbar an Meinungsumfragen der späten neunziger Jahre, kann zugleich den Boden für eine autoritäre Regierungsform bereiten. So sprach sich noch im Mai 2002 eine Mehrheit der Russen für eine Medienzensur aus (135). Dabei darf nicht übersehen werden, dass eine demokratische Entwicklung weniger durch direkte diktatorische Umsturzversuche gefährdet ist, sondern vor allem durch ständige Unterminierung aufgrund von Indifferenz und Desinteresse seitens der Bevölkerung und des Regierungsapparats. Trotz allem ist die Zahl der Pessimisten in Russland nach der Jahrtausendwende deutlich gesunken (105 f.). Neue Hoffnung hinsichtlich einer demokratischen Entwicklung, formuliert etwa von Ol'ga Volkogonova oder V. V. Serbinenko, verdankt sich natürlich zum einen der politischen und wirtschaftlichen Großwetterlage in Russland. Sie speist sich nach Ansicht Billingtons zum anderen aber auch aus einer schwer fassbaren moralisch-spirituellen Kraft Russlands, des neu gewonnenen Bewusstseins für individuelle Verantwortung und dem beständigen Glauben an eine besondere kulturelle Rolle Russlands.
Billingtons Buch ist eine anregende Bestandsaufnahme des schwer zu greifenden, sich ständig im Fluss befindlichen "Potpourris" (135) russischer Identitätssuche, deren Widersprüche oftmals nicht nur in verschiedenen Gruppen, sondern auch in veränderten Positionen einzelner Vertreter wurzeln. Aufgrund seiner vielfältigen Wege und Quellen wird es zu einer Kulturgeschichte Russlands, die auf das sich neu entwickelnde Selbstverständnis hin akzentuiert ist. Billington bettet dabei die komplexe Suche Russlands nach sich selbst überzeugend in die historische Entwicklung ein und zeigt die Schnitt- und Verbindungsstellen zu politischen Entscheidungen auf. Die Darstellung lässt sich so quer zur eigentlichen Nationalismusforschung lesen.
Die russische Selbstfindung ist ein schwieriger und schmerzvoller Prozess dessen Ausgang offen ist. Kritische Arbeiten über Putins Russland belegen, dass die Resultate nicht zwangsläufig positiv ausfallen müssen. [5] Auch bei Billington fällt die Zeichnung Putins ambivalent aus (50 f., 68 f., 136 f.). Trotz des Wahlsiegs der "autoritären Nationalisten" bei den Parlamentswahlen im Dezember 2003 - die Ergebnisse der Präsidentenwahl 2004 liegen außerhalb des zeitlichen Rahmens des Buches - zeigt sich Billington hinsichtlich der Gesamtentwicklung allerdings optimistisch. Er verweist hier etwa auf den neu erlernten demokratischen Umgang in der Politik, den Verzicht auf revolutionäre Umwälzungen und die überwiegende Ablehnung zaristischer oder kommunistischer Lösungsangebote und knüpft durchaus an bereits erwähnte neue Strömungen innerhalb der russischen Diskussionen an. Die von Billington eingangs propagierte Synthese westlicher politischer und wirtschaftlicher Institutionen und religiös-moralischer Dimensionen russischer Kultur ist indes noch nicht zu erkennen (XV). Ob sie angesichts der von Billington beschriebenen aktuellen Entwicklungen und längerfristigen Strömungen gelingen kann oder auch nur gesucht wird, bleibt abzuwarten: Tschetschenien erscheint vielen Beobachtern weniger als "tragische Ausnahme" (139), sondern als Symptom neuer russischer Politik und autoritär verordneter Identität.
Anmerkungen:
[1] Vgl. auch Michael McFaul, Russia's unfinished revolution: political change from Gorbachev to Putin, Ithaca 2001.
[2] Ted Hopf, Social construction of international politics. Identities and foreign policies, Moscow, 1955 and 1999, Ithaca 2002.
[3] Vgl. hierzu vor allem Vera Tolz, Russia (= Inventing the nation), London 2001.
[4] Vgl. hierzu vor allem David Brandenberger, National Bolshevism. Stalinist Mass Culture and the formation of Modern Russian national identity, 1931-1956, Cambridge 2002; Yitzhak M. Brudny, Reinventing Russia. Russian nationalism and the Soviet State, 1953-1991, Cambridge 1998.
[5] Vgl. unter anderen das Themenheft der Zeitschrift Internationale Politik, 59 (2004), Nr. 3.
Andreas Hilger