Jürgen Zimmer / Kim Sebastian Todzi: Hamburg. Deutschlands Tor zur kolonialen Welt. Erinnerungsorte zur (post-)kolonialen Globalisierung, Göttingen: Wallstein 2022, 591 S., ISBN 978-3-8353-5018-2 , EUR 28,00
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2015 ist die Forschungsstelle "Hamburgs (post-)koloniales Erbe / Hamburg und die (frühe) Globalisierung" unter Leitung des Globalhistorikers Jürgen Zimmerer eingerichtet worden. Die Forschungsstelle analysiert die realen und erinnerungskulturellen Verflechtungen der Stadt Hamburg mit kolonialgeschichtlichen Phänomenen. Neben vielen anderen anregenden Aktivitäten (u.a. Öffentlichkeitsarbeit, Aufbau einer medialen Präsenz, Anregung und Einwerbung von Forschungsprojekten, Betreuung von thematisch relevanten Abschlussarbeiten) hat Zimmerer zusammen mit dem wissenschaftlichen Koordinator der Forschungsstelle, Kim Sebastian Todzi, den hier zu besprechenden Sammelband vorbereitet und herausgegeben. Er stellt eine Art Zwischenbilanz nach den ersten sechs Jahren dar, indem er anhand von 33 ausgewählten Beispielen die koloniale Globalisierung in der Hansestadt aufzeigt. Alle Aufsätze sind sehr gut recherchiert und bieten auf sehr hohem Niveau einen ausgezeichneten Zugang zu dem facettenreichen Thema.
In einem ersten Bereich ("Wirtschaft und Politik") finden wir Beiträge zur Handelskammer, zum Hamburger Hafen, zum Baakenhafen, von dem aus Truppen in die Kolonialgebiete verschifft wurden, zum "Afrikahaus" der Familie Woermann, zu der nach der Fabrik von Heinrich Christian Stockmeyer (1797-1848) benannten Stockmeyerstraße, zu Bismarcks (1815-1898) Altersitz Friedrichsruh, zu dem preußischen Generalfeldmarschall Alfred Graf von Waldersee (1832-1904) und zu dem Juristen und Politiker Karl Sieverking (1797-1847). Die Aufsätze in dem nächsten Komplex ("Wissenschaft und Forschung") widmen sich dem Hamburgischen Kolonialinstitut (1908-1919), der Geographische Gesellschaft (gegr. 1873), dem 1908 institutionalisierten Seminar für Geographie, dem Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (eingerichtet 1900), der Naturforscherin Amalie Dietrich (1821-1891) sowie einem Teil der fotografischen Sammlung des Museums am Rothenbaum - Kulturen und Künste der Welt (MARKK, bis 2018 Museum für Völkerkunde Hamburg, gegr. 1879). In dem Themenfeld "Kunst, Kultur und Gesellschaft" behandeln die Autor∗innen in ihren Artikeln neben dem Hanseatischen als kolonialem Habitus, den zum ersten Mal 1922 ins Leben gerufenen Übersee-Club und dem oben bereits erwähnten (ehemaligen) Museum für Völkerkunde auch die von Carl Hagenbeck (1844-1913) veranstalteten "Menschenschauen" sowie den von ihm im Jahre 1907 eröffnete Tierpark, Käppen Haases (= August E.Th. Haase) seit 1894 betriebene Seemannskneipe, das Koloniale in der Hamburgischen Theater- und Unterhaltungskultur und die koloniale Biographie der HafenCity.
"Die Welt in Hamburg - Hamburg in der Welt", der nun folgende Abschnitt, vereint Studien zu dem Afrikareisenden und Geographen Heinrich Barth (1821-1865), zu dem auf der "First International Conference of Negro Workers" 1930 in Hamburg etablierten "International Trade Union Committee of Negro Workers", zu dem Kameruner Mpondo Akwa [1879-1914(?)], der von 1902 bis 1911 in Hamburg lebte, wegen Betrugs und Titelanmaßung angeklagt, am Ende jedoch freigesprochen wurde, zu afrodeutschen Perspektiven auf Hamburg während der Zeit des Nationalsozialismus, zum "Chinesenviertel" und zu Spuren "deutscher Mischlinge" (métis allemands) in Togo. Den Abschluss der Fallbeispiele bilden Denkmäler im weiteren Sinne. Dazu gehören nicht nur die für Bismarck, den Kolonialoffizier Hans Dominik (1870-1910), den deutsch-dänischen Händler, Gutsherren und Politiker Heinrich Carl von Schimmelmann (1724-1782) und für den Afrikaforscher, Offizier und Kolonialbeamten Hermann Wilhelm (von) Wissmann (1853-1905) errichteten Monumente, sondern auch das von den Briten nach dem Ersten Weltkrieg an der Stelle der Wissmann-Statue in Dar es Selaam gebaute "Askari Monument", die Gefallenengedenktafel in St. Michaelis, die Speicherstadt und das Denkmalensemble in der ehemaligen "Lettow-Vorbeck-Kaserne".
Insgesamt gesehen kann man guten Gewissens sagen, dass die Suche nach den Spuren der kolonialen Globalisierung in der Hafenstadt Hamburg bisher sehr erfolgreich verlaufen ist. Es ergibt sich ein weites Spektrum an (bisher bis auf einige Ausnahmen gar nicht oder nur rudimentär aufgearbeiteten) Bezügen zum Kolonialen. Diese sind allerdings nicht zu trennen von den sich daran anschließenden komplexen und sehr unterschiedlichen erinnerungspolitischen und -kulturellen Prozessen der letzten 100 Jahre bis hin zu den gegenwärtigen postkolonialen Forderungen und Ansätzen. Hamburg kann als sehr gutes Beispiel für einen (post-)kolonialen Erinnerungsort dienen, wobei, darin kann man Jürgen Zimmerer nur Recht geben, "eine (post-)koloniale Stadtgeschichte (...) immer Erinnerungsgeschichte und zugleich Wirtschafts-, Sozial-, Wissens-, Politik- und Kulturgeschichte" (22) sein sollte. Zimmerer benennt auch selbst eine der Herausforderungen für die Zukunft: "Was in dieser Debatte weitgehend fehlt, ist der Blick von außerhalb auf Hamburg, die Perspektivumkehr, die Spurensuche in den ehemaligen Kolonien" (28). Es geht hier um, wie es Oswald Masebo, Dozent für Geschichte an der Universität von Dar es Selaam und Präsident der Historical Association of Tanzania, in seinem Ausblick formuliert, epistemologische Leerstellen in den verflochtenen Geschichten Tansanias und Deutschlands. Konkret benennt er "die Fähigkeit der tansanischen Bevölkerung, unter den diffizilen gesellschaftlichen Bedingungen, die der deutsche Kolonialismus hervorbrachte, zu überleben; die Denkweisen und Praktiken derjenigen Tansanier∗innen, die die deutschen Kolonialbeziehungen mitprägten und veränderten; indigene Ausdrucks- und Erinnerungsformen"; sowie "das Vermächtnis des dt. Kolonialismus in der postkolonialen Nationalgeschichte und -identität Tansanias und Deutschlands" (550). Wir stehen erst am Anfang, aber der Weg für die eigene Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialzeit, die stets auch eine globale Perspektive im Blick hat und die (sehr eigenen) Sichtweisen der Betroffenen einbezieht, ist zumindest angedeutet.
Stephan Conermann