Stephan Conermann / Fabian Fechner: Deutschland (post-)kolonial. Einführung, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 2 [15.02.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/02/forum/deutschland-post-kolonial-274/
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Von Stephan Conermann / Fabian Fechner
Der bundesdeutsche Koalitionsvertrag (2021-2025) hat erstmals auf Bundesebene die "Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte" als Ziel mit aufgenommen, ebenso wie jüngst die Koalitionsvereinbarung für NRW (2022-2027). Neben der Restitutionsfrage steht die Aufarbeitung des kolonialen Erbes bei gesamtgesellschaftlichen Lernprozessen und in der Erinnerungskultur im Mittelpunkt. Die Diskussionen um das Humboldt Forum und den Sturz kolonialer Denkmäler weltweit im Zuge der black-lives-matter-Bewegung, ausgelöst durch den Mord an George Floyd, haben die gesellschaftliche Relevanz des Themas sprunghaft erhöht. Vor diesem Hintergrund gründeten sich in einigen deutschen Städten decolonize-Gruppen, die mit künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum und postkolonialen Stadtführungen an eine breite Öffentlichkeit treten. Dieses Interesse knüpft an lokal agierende Geschichtswerkstätten und Gruppen der Eine-Welt-Bewegung an, die seit den späten 1980er Jahren kolonialkritisch die eigene Stadtgeschichte aufarbeiteten. Zunächst in Städten wie Hamburg, Köln und Freiburg wurden "Kolonialhelden" dekonstruiert, "völkerkundliche" Sammlungen neu bewertet und die personelle und strukturelle Verbindung der Stadtgesellschaften mit Kolonialkriegen, "Zivilisierungsmission" und wirtschaftlicher Ausbeutung aufgezeigt - immer auch mit den Auswirkungen bis in die Gegenwart.
In diesem Forum finden sich Besprechungen einer Reihe wichtiger Neuerscheinungen zu diesen Themenfeldern aus den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum. Die nach wie vor dominierende Leitgröße bei der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte ist eine einzelne Stadt. Unter den Städten mit der längsten einschlägigen Forschungsgeschichte ist vor allem Freiburg zu nennen. In der besprochenen Arbeit besticht vor allem ein milieuzentrierter Ansatz, der an die Stelle des üblichen Schlagworts der "Spurensuche" tritt (Nagel zu Grewe/Himmelsbach/Theisen/Wegmann). Doch sind einige andere Veröffentlichungen zu Städten, deren kolonialistisches Profil bislang kaum bekannt war, zu verzeichnen. Im Falle der niederrheinischen Kleinstadt Viersen beeindruckt, wie inhaltlich und methodisch wegweisend eine Bestandsaufnahme kolonialer Verflechtungen abseits der urbanen Zentren sein kann, die bemerkenswerterweise aus einer Abschlussarbeit hervorgegangen ist (Schmidt zu Karlsson). Im Falle Mannheims ist das Plädoyer bedenkenswert, regionale Spezifika herauszuarbeiten, um Einzelstudien nicht als Variationen zu einer im Kern einheitlichen nationalen Ideologie aufzufassen (Schmidt zu Gißibl/Niederau). Hinsichtlich bereits besser bekannter Städte sind unterschiedliche thematische Entfaltungen festzustellen: In Berlin wird mit Friedrichshain-Kreuzberg ein Bezirk detailliert behandelt. Die vorgenommene Verbindung des Kolonialen mit dem nach Osteuropa greifenden Imperialismus, die bislang eher in konzeptionellen Arbeiten vorgenommen wurde, stellt in unserem engeren Zusammenhang ein Novum dar (Fechner zu Bayer/Terkessidis). Neben dem Fokus auf Bezirke im Rahmen der noch laufenden gesamtstädtisch verstandenen Aufarbeitung Berlins ist für die andere Kolonialmetropole Hamburg eine große Summe vorgelegt worden (Conermann zu Zimmerer/Todzi).
Die vielversprechende Tendenz der letzten Jahre ist der Gang von einer Einzelstadt weg in die Fläche. Die Nennung einer Region im Buchtitel sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Grundlagenforschung noch ganz am Anfang steht. Gerade in der Zusammenschau mit der Ausstellung "Schwieriges Erbe" im Stuttgarter Linden-Museum (März 2021 bis Mai 2022) ist der Symposiumsband zu Baden-Württemberg überaus anregend (Conermann zu Haus der Geschichte Baden-Württemberg). Kolonialistische Verflechtungen auch vor und nach dem formalen deutschen Kolonialbesitz nimmt ein Tagungsband zu Westfalen-Lippe überzeugend und ergebnisreich in den Blick (Conermann zu Bischoff/Frey/Neuwöhner). Mit thematischen Erweiterungen liegt mittlerweile auch ein Band zu ganz Nordrhein-Westfalen vor (Wiegmink zu Bechhaus-Gerst/Fechner/Michels). Eine methodisch besonders anspruchsvolle und vielversprechende Betrachtungsweise stellt die vergleichende und teils verflechtungsgeschichtliche Betrachtung zweier (Groß-)Regionen dar. Für das Rheinland ist dies in Bezug auf das Grasland in Kamerun unternommen worden (Conermann zu Gouaffo/Michels), für Westfalen hinsichtlich der deutschen Kolonialgebiete in der "Südsee" mit einem Schwerpunkt bei der Mission (Fechner zu Hensel/Rommé). Der letztgenannte Band begleitete ebenso wie ein gerade erschienener Freiburger Katalog eine Ausstellung (Fechner zu Städtische Museen Freiburg/Hoffmann-Ihde). Dass Bezugspunkte einer Untersuchung kolonialistischer Verflechtungen und Kontinuitäten nicht unbedingt geographisch festgelegt werden müssen zeigt der Sammelband zum Hamburger Wissmann-Denkmal, der eine dicht recherchierte Objektbiographie als Zentrum hat (Fechner zu Jokinen/Manase/Zeller).
Mit dieser exemplarischen Auswahl an inhaltlich und methodisch weiterführenden Studien soll deutlich werden, wieviel Dynamik in letzter Zeit die regionalgeschichtlich reflektierte Kolonialismusforschung gewonnen hat.