Rezension über:

Bernd-Stefan Grewe / Markus Himmelsbach / Johannes Theisen et al. (Hgg.): Freiburg und der Kolonialismus. Vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus (= Veröffentlichungen aus dem Archiv der Stadt Freiburg im Breisgau; Bd. 42), Stadtarchiv Freiburg im Breisgau 2018, 187 S., ISBN 978-3-923272-40-2, EUR 24,00
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Rezension von:
Jürgen G. Nagel
Hagen
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen G. Nagel: Rezension von: Bernd-Stefan Grewe / Markus Himmelsbach / Johannes Theisen et al. (Hgg.): Freiburg und der Kolonialismus. Vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus, Stadtarchiv Freiburg im Breisgau 2018, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 2 [15.02.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/02/37925.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Deutschland (post-)kolonial" in Ausgabe 23 (2023), Nr. 2

Bernd-Stefan Grewe / Markus Himmelsbach / Johannes Theisen et al. (Hgg.): Freiburg und der Kolonialismus

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"Spurensuche" ist das Schlagwort, das die große Mehrheit der deutschen Publikationen zur kolonialen Verstrickung vor Ort am treffendsten beschreibt. Daran knüpft Bernd-Stefan Grewe in seiner Einleitung zu dem Buch an, das diese Spurensuche auf die Universitätsstadt Freiburg und ihre urbane Gesellschaft ausweitet. Er betont darin die Notwendigkeit, diese Strukturen einer weitaus systematischeren Herangehensweise zu unterwerfen, als dies reine Zusammenstellungen von Kolonialausstellungen, Vorträgen und Kolonialwarenläden vermögen. Mit "Freiburg im Kolonialismus" legt er zusammen Heiko Wegmann, Johannes Theisen und Markus Himmelsbach eine entsprechende Untersuchung vor, die sich aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive wohltuend vom bisherigen Standard abhebt.

Zunächst einmal ist hierfür wie für das gesamte Forschungsfeld die Definition des Begriffs Kolonialismus von entscheidender Bedeutung. Eine koloniale Beherrschungssituation war in den deutschen Städten konkret nicht erfahrbar und eine Konzentration auf direkte Beziehungen in die Kolonien greift sicherlich zu kurz. Daher unterscheidet Grewe in seiner konzeptionellen Einleitung zwischen einem funktionalen Verständnis von Kolonialismus aus dem deutschen Forschungskontext, der ganz auf konkrete Herrschaftssituationen abzielt, und einem Kolonialismusbegriff aus der französischen Befassung mit dem Thema, der auf Denkweisen oder ideologisch fundierte Strukturen abhebt. Die Betonung der letztgenannten Perspektive für die vorliegende Untersuchung ist auf den ersten Blick einleuchtend; es wird jedoch nicht ganz klar, worin der tatsächliche Gegensatz besteht. Dass eine Ideologie namens Kolonialismus immer auf die in Kolonialbesitz manifestierte Funktion Bezug nimmt - sei es in Form von realen Verhältnissen oder von Zielsetzungen - wird in dieser dichotomischen Unterscheidung nicht angesprochen. Treffend ist, dass damit einer simplen Zuordnungslogik, ob eine Situation nun "kolonial" war oder nicht, ein Riegel vorgeschoben wird. Eine Loslösung von real existierenden kolonialen Situation kappt jedoch die Leinen, an denen der Ballon aufgehängt ist. Auch die kolonialrevisionistische Bewegung hatte ihre realen Bezugspunkte, waren ihre größten Highlights doch die Augenzeugenberichte aus den deutschen Kolonien vor 1914.

Die Gefahr der völligen Loslösung von realen Kolonialverhältnissen birgt die Gefahr, das Themenfeld unter dem Label Kolonialismus zu überdehnen. Es ist den Autoren weitgehend gelungen, diese Falle zu umgehen. Ein paar Merkwürdigkeiten fallen dennoch auf. So ist fraglich, die fragile, isolierte brandenburgische Festung Groß-Friedrichsburg an der Goldküste tatsächlich als Kolonie zu bezeichnen. So wird die Pilotin Elly Beinhorn zur "Kolonialfliegerin", ohne das klar ist, was das eigentlich sein könnte. Und eine Hindu-Tanzgruppe speziell im Freiburger Theater oder die Jazzmusik als genereller afroamerikanischer Kulturimport stießen in der Tat auf heftige rassistische Zurückweisung in (extrem) rechten Kreisen. Dies ist aber nur dann ein koloniales Phänomen, wenn die ganze zeitgenössische Welt als kolonial apostrophiert wird, wodurch sich die Thematik schnell in Beliebigkeit verliert.

Grundlage für den systematischen Zugriff auf die kolonialen Verflechtungen Freiburgs bildet das Konzept der "sozialmoralischen Milieus" von M. Rainer Lepsius. Es postuliert die Konstruktion sozialer Einheiten durch eine Kombination aus sozioökonomischen und kulturellen Dimensionen. Städte werden damit nicht nur in Form einer sozialen Schichtung verstanden, sondern als Interaktionsfeld kohärenter Milieus, wodurch beispielsweise politisches (Wahl-)Verhalten erklärungsmächtiger untersucht werden kann. Bereits zuvor ist auf dieser Basis eine Studie zu Freiburg im Ersten Weltkrieg entstanden. Die Autoren greifen auf also auf ein bewährtes Modell zurück, dessen Adaption in der Einleitung freilich recht knapp bleibt. Der Hinweis auf die Vorteile kann nicht über die geringe Ausdifferenzierung des Modells hinwegtäuschen. Konkret sind es drei der vier von Lepsius postulierten Milieus, die als gliederndes Element bearbeitet werden: das katholische, das liberale und das Arbeitermilieu. Gerade bei der Untersuchung des liberalen Milieus, welches hier aufgrund der politischen Gewichtsverschiebung hinsichtlich des Kolonialismus als "bürgerlich-nationales" Milieu behandelt wird, zeigt sich, dass sich darunter sehr verschiedene Gruppierungen wie auch Einzelpersonen versammeln.

Dementsprechend bildet das Kapitel zum bürgerlich-nationalen Milieu von Heiko Wegmann auch den umfangreichsten Teil der Studie. Darin schreitet der Autor ein breites Spektrum ab, von der lokalen Presse über diverse Vereine mit unmittelbarem wie mittelbarem Kolonialbezug sowie Parteien und evangelische Missionsvereinen bis hin zur Universität, und verweist immer wieder auf den großen Variantenreichtum innerhalb des Milieus. Besonders ertragreich fallen dabei die tiefen Einblicke in die Vernetzungsstrukturen der bürgerlich geprägten Vereine aus, wodurch die weitreichende koloniale Verflechtung einer Stadtgesellschaft überhaupt erst greifbar wird. Das Kapitel kann auf einen breiten Forschungsstand rekurrieren, der nicht zuletzt dem Autor und seiner Initiative "Freiburg postkolonial" selbst zu verdanken ist.

Die beiden anderen milieubezogenen Kapitel aus der Feder von Johannes Theisen fallen weitaus kürzer aus - ein Umstand, der nicht zuletzt auf der Tatsache beruht, dass hier die Detailforschung teilweise noch in den Anfängen steckt. Nicht zuletzt dadurch einstehen gewisse Engführungen. Die Ausführungen zum katholischen Milieu orientieren sich stark an den kirchlichen Geschehnissen, auch dann, wenn es um Presse oder Mission geht. Sie erfassen damit nicht das vollständige Interaktionsfeld des Milieus, dessen Denken deutlicher über Kirche und Mission hinausführt, als hier beschrieben werden kann. Das Kapitel zum Arbeitermilieu hingegen konzentriert sich nach kurzer Reminiszenz auf sozialdemokratische Parteien vornehmlich auf die regionale Arbeiterpresse. Es fehlt nicht an Hinweisen auf anderwärtig organisierte Arbeiter; deren koloniale Verflechtungen bleiben jedoch blass.

Der Vollständigkeit halber sei noch angesprochen, dass die Studie nicht bei der Ausleuchtung der Milieus stehenbleibt. Abgerundet wird sie durch die Betrachtung von Massenkultur (Heiko Wegmann), städtischen Institutionen (Heiko Wegmann) und dem städtischen Museum für Natur- und Völkerkunde (Markus Himmelsbach). Damit erfahren die auch in Freiburg relevanten Zusammenhänge wie Kulturgüterraub, Völkerschauen und Kolonialfilme, die in den aktuellen postkolonialen Debatten eine zentrale Rolle spielen, ihre gebührende Beachtung.

Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Freiburg "zweifellos eine vom Kolonialismus erfasste Stadtgesellschaft war". Hierfür führt sie auf rund 160 Seiten zahlreiche Beispiele vor, die einerseits für das gesamte Reich geltende Trends noch einmal bestätigen, und andererseits die konkrete Ausformung und Bedeutungsentfaltung auf lokaler Ebene verdeutlichen. Die wieder von Bernd-Stefan Grewe verfasste Schlussbetrachtung führt noch einmal verschiedene Aspekte dazu an, führt jedoch nicht wesentlich über das zuvor Gelesene hinaus. Wertvoll erscheint vor allem die ausdrückliche Differenzierung von verschiedenen Formen von Kolonialismus, wodurch am ganz konkreten Fall simplifizierenden Vorstellungen von kolonialer Verstrickung eine fundierte Stimme entgegengesetzt wird. Insgesamt ist es allerdings schade, dass trotz des weitaus systematischeren Zugriffs, als er in der Mehrheit der gängigen "Spurensuchen" zu finden ist, vielfach doch nur eine Zusammenstellung von Fakten, bezogen auf Ereignisse, Personen und Institutionen, geboten wird. Das Modell der "sozialmoralischen Milieus" wird noch zu wenig als Erklärungsansatz genutzt und dient eher der Sortierung als der Durchdringung. Ungeachtet dessen handelt es sich um eine wichtige Studie, welche die Forschung zum Kolonialismus vor Ort einen wichtigen Schritt vorangebracht hat und den Weg für weitere Forschungen zu weisen vermag.

Jürgen G. Nagel