Amandine Diener: Enseigner l'architecture aux Beaux-Arts (1863-1968). Entre réformes et traditions, Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2022, 424 S., ISBN 978-2753582729, EUR 32,00
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Die 1816 gegründete Architekturabteilung der Pariser École des Beaux-Arts hatte bekanntlich für eineinhalb Jahrhunderte das Monopol über die Ausbildung von Architekten und seit 1900 auch von Architektinnen in Frankreich inne. Die vorliegende Dissertationsschrift von Amandine Diener nimmt die Entwicklungen dieser wirkmächtigen Architekturschule zwischen dem ersten Reformversuch von 1863 und der endgültigen Schließung nach dem legendären Pariser Mai '68 in den Blick. Die Eckdaten selbst nehmen insofern Bezug auf das Ethos der Unantastbarkeit dieser staatlichen Ausbildungsstätte, als die gescheiterten Reformbestrebungen von 1863 bereits einen Vorgeschmack darauf gaben, dass die einzig denkbare Neuordnung dieser Schule in ihrer Abschaffung bestand. Diener erzählt diese erstaunliche Beharrungsgeschichte anhand von neuem Faktenmaterial. Dabei rücken bislang unbekannte Umstrukturierungs- und Erneuerungsbemühungen in den Blick, die wiederum, wie anders nicht möglich, das Bild des Beaux-Arts-Aristokratismus bestätigen.
Im Fokus stehen Betrachtungen zur Binnenstruktur der École, ihres Lehrkörpers sowie zu den entwurfsmethodischen und pädagogischen Grundlagen. Die Arbeit von Diener ist eher narrativ als analytisch. Themenfelder werden über verschiedene Kapitel hinweg erörtert. Sucht man nach einem roten Faden, liegt er in der Chronologie. Einiges wird nur angetippt, so die zentrale Rolle der Archäologie und Bauforschung, welche die Leitvorstellungen der Lehre indes tief prägten, aber auch die Trennung der Beaux-Arts-Doktrin vom Nützlichkeitspostulat begründeten. Genauso marginal wird das Preissystem der Schule und das damit verbundene Problemfeld der Elitenformation und -selektion angesprochen. Entsprechend knapp abgehandelt wird, dass die Grand Prix-Gewinner für die Funktionselite des Landes bestimmt waren, also hohe Posten in der Bauverwaltung von Kommune, Departement und Staat erhielten, was das zumal schmale Spektrum der Wettbewerbsthemen erklärt, die sich noch im 20. Jahrhundert vorzugsweise um den öffentlichen Monumentalbau drehten.
Diener liefert gleichwohl ein eindringliches Panorama der Geschichte der französischen Architektenausbildung im Zeichen der Beaux-Arts. Immer wieder arbeitet sie die eigentümliche Ambivalenz der Schule heraus, einerseits Modernisierungskonzepte zu blockieren, ohne damit andererseits einen Reputationsschwund zu provozieren, wovon nicht zuletzt die hohe Zahl der eingeschriebenen ausländischen Studierenden vor allem aus den USA zeugt. Denn Innovationsrenitenz, wie sie sich u.a. in der verhinderten Einrichtung der Lehrstühle für Betonbau und Gebäudetechnik ausdrückte, bedeutete umgekehrt Arbeit am Klassik- und Einheitsideal - jener großen Orientierungsmarke, die Eliteethos und Identität der Beaux-Arts bestimmte.
Wenn Moderne als rationale, zukunftsoffene und innovationsorientierte Denkhaltung zu verstehen ist, dann war die Beaux-Arts-Schule nicht modern. Und doch macht Diener auf eine Reihe von untergeordneten Entwicklungen aufmerksam, die dieses Bild nun differenzieren. So wurden einerseits Vortragsreihen zu Städte- und Bauhygiene sowie zu industriellen Baumaterialien organisiert, andererseits avancierten die externen Lehrateliers zu Umschlagsorten des Modernewissens, auch setzten Lehrbücher auf eine straffer methodisierte Entwurfslehre, während sich gleichzeitig die Binnenorganisation zusehends formalisierte und bürokratisierte. Wiewohl rationale Standards zusehends Fuß fassten, blieb das hehre Selbstverständnis der Schule von diesen realen Entwicklungen weitgehend unberührt. Das Verdikt gegen Rationalisierung und Technisierung, welche die Planungs- und Arbeitsformen des 20. Jahrhunderts indes massiv veränderten, ist auch Kennung einer Gegenmoderne, die es vorzog, ihr Regime weiterhin auf Kanon und Ideal zu gründen. Wer damit der Beaux-Arts-Schule im Kurzschluss bloß Realitätsfremdheit attestieren will, muss sich von Diener belehren lassen, dass anstelle der binären Logik von Moderne und Gegenmoderne vielmehr von einem komplexen Modell wechselseitiger Interdependenzen auszugehen ist. Für eine solche Betrachtung legt Verfasserin nun die Subtexte frei.
Wichtige neue Erkenntnisse birgt Dieners Studie zur Gründung der Regionalschulen, die in verschiedenen Phasen seit 1903 zuerst in Lille, Lyon, Marseille, Rennes, Rouen und dann in Straßburg, Grenoble und Bordeaux entstanden. Einlässlich rekonstruiert die Verfasserin das Machtgerangel zwischen der Pariser Zentrale und ihren regionalen Ablegern, was sich in Inegalitäten auf der Ebene von Ausstattung, Finanzierung, Status und der Anerkennung von Abschlüssen niederschlug. 1914 nahm die Pariser École des Beaux-Arts in ihrem Titel das Prädikat "supérieure" auf, um sich von den neugegründeten Écoles régionales d'architecture (ERA) abzuheben. Zentralismus und Hegemonieanspruch sind dabei Elemente einer Standesorganisation, zu der man in Dieners Band zwar eine Menge Material findet, doch die als Untersuchungsgegenstand kaum einbezogen wird.
Der Mai '68 ist in Frankreich die Geschichte eines dramatischen Eliteversagens. Der Architekturabteilung der Beaux-Arts wurde Sklerose und Autismus, ihrer Architektenelite Klientelismus und Autoritarismus angelastet. Der Glaube an die moralische Integrität und gesellschaftliche Relevanz der Schule war gebrochen, sie wurde am 6. Dezember 1968 aufgelöst. Während der Pariser Mai '68 von der politischen Krise zwischen Gesellschaft und Eliten erzählt, beschreibt Diener das Scheitern der Beaux-Arts als Folge ausgebliebener innerer Strukturreformen, insbesondere als Folge defizitärer Lehrinhalte und antiquierter Rekrutierungs- und Auslesemechanismen. Ihre dabei von Wertungen freie Beschreibungsform belegt, dass die Ideologiekritik innerhalb der französischen Architekturgeschichtsschreibung inzwischen passé ist. Gleichwohl entsteht während der Lektüre wieder neu jenes unbehagliche Bild, dass sich die Architektenausbildung an der Beaux-Arts über eineinhalb Jahrhunderte unter anderen Bedingungen vollzogen hatte, als es ihr Ethos von Gleichheit und Leistung gebot, mit dem man unmittelbar nach der französischen Revolution so optimistisch begonnen hatte. Architekt-Sein ist ein Fachberuf und doch macht das von Diener zusammengetragene Material auch deutlich, dass Charakter und Entwicklung dieser Figuration abhängig sind vom dem jeweils zugrunde gelegten Menschen- und Gesellschaftsbild, das in Zeiten von Umbrüchen immer wieder neu zur Debatte gestellt wird.
Das vorliegende Buch zeugt davon, dass sich die neuere fachgeschichtliche Architekturforschung in Frankreich seit einigen Jahren dafür aufgeschlossen zeigt, sich eingehender ihren eigenen internen Bedingungen und Referenzen zu widmen und die Analyse und Geschichte des Berufsstands 'Architekt' nicht der Soziologie allein zu überlassen. Diener legt ihrer Studie einen dezidiert empirisch-quantitativen Ansatz zugrunde, der mit den Mitteln der Statistik und mit Hilfe von Organigrammen ausbuchstabiert wird. Vermehrung und Systematisierung des gesicherten Wissens sind das eine, das andere müsste sein, die empirischen Funde problemorientiert zu erörtern und auf übergeordnete Betrachtungen hin zu öffnen. Am schwersten wiegt die weitgehende Ausklammerung des Elitismus als zentralen Kontext der französischen Architektenausbildung, wiewohl Dieners dichte Studie implizit von nichts anderem handelt. Architekturgeschichte als Geschichte von Beziehungen schreiben, heißt nach den Verquickungen dieses ungemein relevanten Berufsstands zu gänzlich unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zu fragen bzw. die Betrachtung der inneren Betriebsebene auf jene der gesamtgesellschaftlichen Systemebene auszudehnen. Für diese Öffnung hat die Diskurspolizei der Disziplinen seit einigen Jahren die Grenzkontrollen gelockert, was alte Perspektiven zu verschieben und neue Pfade zu suchen erlaubt. Das sollte man nutzen.
Salvatore Pisani