France Saïe-Belaïsch (éd.): Architectures d'archives en France 2013-2020, Paris: Service interministeriel des Archives de France 2021, 215 S., ISBN 978-2-11-167050-1, EUR 19,00
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Analog zur topischen Formel, XY sei ein vielzitierter, aber wenig gelesener Autor, ließe sich sagen, dass Historikerinnen und Historiker, inklusive jene der Abteilung Kunstgeschichte, zu denjenigen gehören, die durchaus Archive frequentieren, aber über diese selbst wenig wissen. Das gilt nicht zuletzt in Bezug auf deren materielle Gegebenheiten wie Architektur, Infrastruktur und Möblierung. Auch deshalb ist das vorliegende Buch eine willkommene Bereicherung des zumal überwiegend theoretisch geführten Archivdiskurses, der per se wenig für Fragen und Aspekte der Konservierungs- und Forschungspraxis übrighat. In France Saïe-Belaïschs herausgegebenem Band klingt an, dass sich Archive allererst in ihrer architektonischen Dinglichkeit zu dem entfalten, was sie sind. Will heißen: Die (statischen) Diskurse sind das eine, (dynamische) Praktiken das andere, dazwischen liegt das weite Feld der Architektur. [1]
Wenn die Lektüre des Bandes, und das sei gleich eingangs gesagt, nur in Maßen erhellende Einblicke in die Blackbox von Frankreichs Archiven der 2010er Jahren eröffnet, dann liegt dies am Publikationstypus selbst. Denn das vorliegende Buch stellt einen Rechenschaftsbericht der zuständigen ministeriellen Baubehörde dar; eine publizistische Kommunikationsform, wie sie für die französische Administration seit dem 19. Jahrhundert Usus ist. Immerhin hat diese Praxis einige prominente Publikationen hervorgebracht, so Adolph Alphands "Les promenades des Paris" von 1867-1872 und Félix Narjoux' "Paris. Monuments élevés par la ville 1850-1880" von 1883. Saïe-Belaïschs Band stellt also die Leistungsschau einer Behörde dar, die, wie in Frankreich üblich, als Expertokratie auftritt. Dementsprechend ist das Buch durch und durch von Faktenwissen, Expertise und Normativität geprägt. Gegliedert ist der Band in drei Abschnitte: Der erste Teil gibt einen einführenden architekturhistorischen Überblick über Frankreichs Archive der letzten Jahrzehnte. Der zweite Teil, das eigentliche Gelenkstück des Bandes, bietet einen Katalog der rund 40 Bauten, die die Regierung zwischen 2013 und 2020 im metropolitanen und überseeischen Frankreich erweitert, umgebaut oder neu errichtet hat, während der dritte Teil neben zwei informativen Beiträgen zu Nachhaltigkeit und Asbestsanierung eine Bauanleitung, als Toolkit für Archivbauer zu verstehen, enthält.
Man kann sich bei der Gegenwartsarchitektur kaum des Eindrucks erwehren, dass sie zusehends zur kleineren Schwester des Hegemon Infrastruktur wird. Bei den Archivbauten begründet sich dies, um einen neueren Analysebegriff der Kulturtechniktheorie zu benutzen, durch ihre 'Kooperation' mit der technischen Ausstattung und Möblierung, die der Band ausgiebig behandelt. Immer wieder drehen sich die Ausführungen um die operative Verschaltung von Magazinen, Rollregalen, Korridoren, Büros, Lesesälen etc. Immer wieder wird die immense Zahl verlegter Kabelkilometer und verschraubter LED-Lampen angeführt, als ginge es um eine tiefere Offenbarung. Indessen wird der Leser auf die Baustelle einer Behörde und deren formalisierter Sachkultur geführt. Von der Schnittstelle mit den beauftragten Architekturbüros erfährt man entsprechend wenig. Beim Durchblättern des Katalogs fällt jedenfalls auf, dass die jüngsten Archivbauten im Vergleich etwa mit der öffentlichen Architektur des 19. Jahrhunderts eine ausgesprochene Diversität prägt. Das Spektrum reicht von der einfachen 'Schuhkiste' (Archives départementales de la Somme in Dury) über den multifunktionalen Baukomplex (Archives régionales auf La Réunion) bis zur 'Archivkathedrale' (Archives nationales in Pierrefitte-sur-Seine). Im Trend der Zeit liegt der Um- und Erweiterungsbau, der Neubau bleibt eine Ausnahme.
Der Katalogteil dokumentiert sehr anschaulich, wie Frankreich seit einigen Jahren seine Archivlandschaft in beeindruckender Weise neu aufzustellen unternimmt. Während Paris der Rücken zugekehrt wird, konzentriert sich die Baukampagne auf die Departements außerhalb, was als Teil der unter Mitterand initiierten Dezentralisierung zu nehmen ist; jener großangelegten Verwaltungsreform, die 1982/83 mit den sogenannten Deferre-Gesetzen festgeschrieben wurde. Gleichzeitig haben der gestiegene Flächenbedarf der Archive und Wirtschaftlichkeitsüberlegungen die Entwicklung weiter begünstigt. Besonders spürbar sind die einschneidenden Veränderungen in Paris, wo viele Archive ihren zentralen Standort bereits mit funktionalen Domizilen in der Banlieue eingetauscht haben, so besonders prominent 2009 das diplomatische Archiv des Außenministeriums (heute in La Corneuve) und 2013 die neuere Abteilung des Nationalarchivs (jetzt in Pierrefitte-sur-Seine). Die Auslagerung an den Pariser Stadtrand folgt einer durchaus ambivalenten Entwicklung. Denn dem Gewinn von erhöhter Speicherkapazität und verbesserten Servicebedingungen steht eine weiträumige Verteilung im städtischen Großraum und die Abtrennung von innerstädtischen Forschungsinstitutionen (BnF, INHA etc.) gegenüber. Man kann nun in die Untergangsgesänge kulturkonservativer Prägung einstimmen und damit das Thema für einlässliche Betrachtungen versiegeln, man kann es aber auch analytisch öffnen und versuchen, den langwierigen Transformationsprozess der Urbanisierung des Suburbanen zu bestimmen und zu reflektieren. Hierfür müsste man den Blick auch auf die jüngst fertiggestellte Wissenschaftsstadt Saclay und den noch in Bau befindlichen Wissenschaftscampus Condorcet in der Pariser Peripherie weiten. Diese besonders ambitionierten Projekte stehen sowohl für jenen bereits mehrere Dekaden laufenden Suburbanisierungsprozess, der heute unter dem Großbegriff des Grand Paris firmiert, als auch für die Hoffnung einer umfassenden Renaissance der französischen Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft; Kontexte, die im Band allenfalls angetippt werden.
Die Beurteilung der vorliegenden Publikation fällt nicht leicht. Einerseits vereint sie ein verstreutes und schwer zugängliches Faktenmaterial, das sie für zukünftige Beschäftigungen mit dem Thema unentbehrlich macht. Andererseits mangelt es an einer Überführung des detailreichen Faktenwissens in einen problemorientierten Diskurs. Die Ambivalenz ist dem Berichtsformat der vorliegenden behördlichen Publikation geschuldet, welche die Archivbauten aus dem Blickwinkel einer normativen Baupraxis verhandelt, dadurch eher Soll- als Ist-Zustände festhält und erörtert. Gleichzeitig erinnert das Buch insistent daran, dass Archive auch eine architektur- und stadthistorische Reflexionsressource selbst darstellen. Schließlich sind sie Zeugnisse und Agenten einer gegenwärtigen Transformationsgeschichte des Wissens und der Wissenschaft, in der das Suburbane und die Region entscheidender werden als die Stadt - eine Entwicklung, die die Frankreichforschung mit ihrer Privilegierung des Paris-Zentrismus kaum unberührt lassen kann.
Anmerkung:
[1] Dass sich das Forschungsfeld in diskursgeschichtliche und praxeologische Perspektiven teilt, zeigen Publikationen wie einmal die Textanthologie von Knut Ebeling / Stephan Günzel (Hgg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin 2009 sowie zum anderen der dem material turn verpflichtete Sammelband von Anke te Heesen / Anette Michels (Hgg.): Auf/Zu. Der Schrank in den Wissenschaften, Berlin 2007. Ein rein architekturhistorischer Beitrag liegt vor mit Nathalie Simonnot / Rosine Lheureux (éds.): Architectures et espaces de la conservation (1959-2015). Archives, bibliothèques, musées, Villeneuve D'Ascq 2018.
Salvatore Pisani