Urs B. Leu: Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733). Pionier der Alpen- und Klimaforschung, Zürich: Chronos Verlag 2022, 226 S., 51 Abb., 3 Tbl., ISBN 978-3-0340-1690-2, EUR 38,00
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Johann Jakob Scheuchzer war in seiner Zeit ein bestens vernetzter Wissenschaftler. Er war als Leibarzt für Peter den Großen im Gespräch, korrespondierte regelmäßig mit Gottfried Wilhelm Leibniz, diskutierte seine Publikationen vorab mit dem Mathematiker Johann I. Bernoulli, war zeitgleich mit Isaac Newton Mitglied der Royal Society, der ihm zudem eine Publikation finanzierte. Carl von Linné benannte eine Pflanzengattung nach ihm und in der Schweiz tragen nicht nur Straßen seinen Namen, sondern auch zwei Berggipfel. Dennoch gehört Scheuchzer zu den vergessenen Naturforschern der Frühen Neuzeit, auch in seiner Heimatstadt Zürich ist er eher unbekannt. Urs B. Leu hat sich angesichts des 250. Geburtstags von Scheuchzer vorgenommen, dies zu ändern. Leu hat als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Zentralbibliothek Zürich in der Abteilung Alte Drucke und Rara unmittelbaren Zugang zum umfangreichen Nachlass Scheuchzers. Den Umfang dieses Nachlasses von 170 gedruckten und 200 handschriftlichen Werken aus den Bereichen Naturwissenschaft, Medizin und Theologie sieht er als einen der wesentlichen Gründe dafür an, dass bis heute keine umfassende Biographie von Scheuchzer vorliegt. 1927 entstand eine Dissertation, die sich mit dessen erster Lebenshälfte befasste, und um die Jahrtausendwende entstanden drei Arbeiten, die sich einzelnen Wirkungsfeldern Scheuchzers widmeten, etwa seinen physikotheologischen Überlegungen.
Diese übersichtliche wissenschaftliche Aufarbeitung seines Œuvres deckt sich zumindest mit der Wertschätzung, die Scheuchzer zu seinen Lebzeiten in Zürich erfuhr. Europaweit war er zwar in Gelehrtennetzwerke eingebunden, stieß akademische Debatten an und prägte den Forschungsstand, ließ seine Bücher in den Niederlanden drucken, übersetzte fremdsprachige Werke oder fertigte 1713 eine detaillierte Karte der Schweiz an, die bis 1796 an Genauigkeit nicht übertroffen wurde. In Zürich selbst konnte Scheuchzer jedoch kaum reüssieren, galten seine naturwissenschaftlich-physikalischen Forschungen als gotteslästerlich und die Zensur beschnitt noch in den 1720er Jahren seine Publikationen zum kopernikanischen Weltbild. Es nagte am Menschen Scheuchzer, dass er in seiner Heimatstadt nicht die Anerkennung erfuhr, die er seiner Meinung nach verdiente, und die angesehenen und gutdotierten wissenschaftlichen Pfründe der Stadt an Kollegen gingen, die sich der Suprematie der orthodoxen Theologie beugten.
Leu gibt selbst zu, dass sein schmaler Band kein Ersatz für eine wissenschaftliche Biographie ist, aber das gereicht dem Buch nicht zum Nachteil. In den kurzen, selten mehr als zehn Seiten umfassenden Kapiteln rückt er sehr dicht an Scheucher heran und lässt ihn in ausführlichen Quellenzitaten selbst sprechen. Überwiegend sind es nicht Zitate aus den gedruckten Werken, sondern aus den unzähligen Korrespondenzen, so dass diese einen Einblick geben in die Überlegungen, Wünsche, Vorstellungen, Sorgen und Netzwerke eines Naturforschers in der Frühen Neuzeit samt seiner Strategie, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und seine wissenschaftlichen Überzeugungen und Erkenntnisse in einem konfessionell aufgeladenen Zeitalter zu publizieren. Anfangs mag der nicht chronologische Aufbau des Buches noch als hinderlich empfunden werden, da der Werdegang Scheuchzers nur stückhaft ersichtlich wird. Im weiteren Verlauf der Lektüre kann die Aufteilung des Buches nach den Forschungsinteressen Scheuchzers (als Arzt, als Kurator, als Kartograph, als Naturforscher, usw.) überzeugen, da über diese einzelnen Schlaglichter die gesamte Breite des Scheuchzerischen Wirkens ersichtlich wird und ein Panorama gelehrten Lebens in der Frühen Neuzeit entsteht. Die umfangreichen Tabellen im Anhang zum Curriculum der Zürcher Lateinschule, den Einträgen in Scheuchzers Liber amicorum sowie der Auflistung der Kosten seiner Alpenreise 1705 sind ebenfalls dazu geeignet, ein deutliches und lebendiges Bild von Scheuchzers Lebenswelt zu zeichnen.
Allerdings ist das gesamte Büchlein auf seinen Protagonisten hin ausgerichtet. Eine Einordnung der Befunde oder eine vergleichende Perspektive wird von Leu allenfalls in Nebensätzen vorgenommen. So ergibt sich ein Sittenbild eines Schweizer Gelehrten an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, dessen Außergewöhnlichkeit sich zwar erahnen lässt, dessen Profil durch den Kontrast mit anderen Wissenschaftlern jedoch sicher gewonnen hätte. Doch ist es vermutlich gar nicht der Anspruch des Werkes, den Forschungsstand zu prägen, sondern den Schweizern und Zürchern einen bedeutenden Sohn von Stadt und Land wieder näherzubringen. Dieses Ansinnen ist dem an der Nahtstelle von wissenschaftlicher Aufarbeitung und populärwissenschaftlicher Darstellung angesiedelten Buch in ausgezeichneter Weise gelungen.
Tobias Huff