Nicole Kandioler: Widerständige Nostalgie. Osteuropäische Film- und Fernsehkulturen, 19652013, Bielefeld: transcript 2021, 291 S., ISBN 978-3-8376-4750-1, EUR 34,99
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Die vorliegende Monografie von Nicole Kandioler ist keine Geschichte des osteuropäischen Films und Fernsehens, wie die Autorin auch selbst betont (264). Was aber ist das Buch dann? Kandioler verspricht eine "Relektüre der osteuropäischen Filmgeschichte(-n)" (9), und zwar aus einer Perspektive, die nicht von der bisherigen westeuropäischen Geschichtsschreibung verzerrt werde und die Verflechtungen zwischen den nationalen Kinematografien wahrnehme. Dafür entwickelt Kandioler ein ebenso innovatives wie kompliziertes Forschungsverfahren, das sogenannte Double Feature, in dem sie jeweils zwei Szenen aus zwei unterschiedlichen Filmen miteinander vergleicht beziehungsweise zusammen interpretiert. In Anlehnung an Alain Bergala charakterisiert Kandioler diese Methode als "Pädagogik des Fragments" (71). Die Double Features bestehen jeweils aus einem älteren, das heißt vor 1989 gedrehten, und einem neueren Film. Fünf der elf Double Features stellen Werke aus demselben nationalen Kontext zusammen; sechs kombinieren Filme aus unterschiedlichen Ländern Osteuropas - beziehungsweise Mitteleuropas, wie man Deutschland, Tschechien (Tschechoslowakei), Polen, Ungarn, Österreich und Rumänien eigentlich bezeichnen sollte. Die Ansprüche, die Kandioler mit dieser Methode verknüpft, sind groß: Sie soll "blinde Flecken in der Erfassung osteuropäischen Filmschaffens" (29) füllen, das historiografische Narrativ der "Gleichsetzung der gesamten osteuropäischen Filmgeschichte mit der sowjetischen Ära" und "nationale[r] Identitäten, im Sinne von Moskaus Machtinteressen" (ebenda) hinterfragen, den "Fokus auf westeuropäische Kritik und Theorie" in Bezug auf osteuropäische Filme (30) überwinden sowie die "Romantisierung des Auteur" (ebenda) infrage stellen. Durch die Aufdeckung "intermedialer Referenzen" strebt Kandioler die Erfassung einer von ihr so bezeichneten "Counter-Nostalgia" im osteuropäischen Kino an (53), womit sie das "subversive Potential der Nostalgie" meint.
Löst Kandioler diese ambitionierten Versprechen ein? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, welche Maßstäbe wir ansetzen. Betrachten wir die Monografie als Beitrag zu einer spezialisierten Forschung - was sie letztendlich ist, denn es handelt sich um eine Dissertation - so erweist sich Kandiolers Anwendung des Double Features meines Erachtens als wenig zielführend. Unklar bleibt nämlich, nach welchen Kriterien Kandioler die Filme und Szenen auswählt. Die osteuropäischen Kinematografien der letzten 50 Jahre sind dermaßen reich an Titeln jeglicher Art, dass sich bei einer Auswahl von nur 22 Szenen für jedwede These ein Beleg finden ließe. Die Szenen sind nach thematischen Gemeinsamkeiten geordnet: a) Narrative der Heterosexualität, b) Fernsehen, Feminismus und nationale Identität, c) Kollektives Trauma und "Competing Memories", d) Genre, Ironie und Nostalgie. Es handelt sich also um gewaltige Themenkomplexe, die kaum auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Folglich besteht der analytische Teil, der zwei Drittel des Buches umfasst, aus Filmbeschreibungen und detaillierten Interpretationen einzelner Szenen, die in zwei kurzen, insgesamt zehnseitigen Fazits münden.
Eine andere Option wäre die Lektüre des Buches von Kandioler aus einer kuratorischen Perspektive. Diese Möglichkeit signalisiert die Autorin selbst: "Wenn ich das Double Feature als kuratorische Praxis begreife, so deshalb, weil ich damit die Auswahl der Film- und Fernsehproduktionen als stark subjektive ausweisen möchte" (76). Das Vorhaben von Kandioler könnte hervorragend als multimediale Ausstellung funktionieren, bei der man einzelne Filmszenen einander gegenüberstellen würde. Die Zusammensetzung älterer und neuerer Filme, polnischer, tschechischer (beziehungsweise tschechoslowakischer), ungarischer, rumänischer, deutscher und österreichischer Blicke auf Heterosexualität, Feminismus, Traumata und Nostalgie könnte im künstlerischen Modus viele Gemeinsamkeiten beziehungsweise Unterschiede aufdecken. In diesem Sinne wäre das Vorhaben sicherlich äußerst bereichernd und aufschlussreich, nur würde es dabei nicht auf wissenschaftliche Argumente, sondern auf Einblicke und Impressionen abzielen.
Nun ist die Monografie von Kandioler aber eine wissenschaftliche Publikation und wird hier als eine solche rezensiert. So sehr man sich wünschen mag, ein Kunstprojekt auf der Grundlage dieses Buches zu betrachten, so skeptisch muss das Urteil einer wissenschaftlichen Begutachtung ausfallen. Das Verdienst von Kandioler besteht vor allem in der Weiterentwicklung des Double Features. Manche der von Kandioler vorgelegten Analysen sind innovativ und enthalten beachtenswerte Bemerkungen. Die Zusammensetzungen sind manchmal überraschend, aber dennoch meistens inspirierend. Allerdings überzeugen sie leider kaum als Bestandteile einer wissenschaftlichen Argumentation, die zur Lösung der in der Einführung identifizierten Forschungsprobleme beitragen sollen, nicht zuletzt auch wegen des sperrigen und wenig leser:innenfreundlichen Schreibstils.
Magdalena Saryusz-Wolska