Rachel Chin: War of Words. Britain, France and Discourses of Empire during the Second World War, Cambridge: Cambridge University Press 2022, 288 S., ISBN 978-1-0091-8101-3, GBP 75,00
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Die Vergangenheitsbewältigung à la française ist bis heute ein innenpolitisch heißes Eisen. Jacques Chirac war der erste Staatspräsident, der 1995 von höchster Warte aus den Gründungsmythos der Vierten Republik mit Fragezeichen versah. Bis dahin galt die Résistance gegen die nationalsozialistischen Besatzer als Verkörperung des wahren Frankreichs, während dem Vichy-Regime unter dem greisen Marschall Pétain quasi als geschichtspolitischer bad bank jene vermeintlich randständigen Figuren der Kollaboration zugeschoben wurden, die mit dem weiteren Verlauf der französischen Geschichte nichts zu tun hatten. Die französische Variante des identitätspolitischen Kulturkampfs wird bis heute von Deutungskonflikten über Vichy ebenso umgetrieben wie von der Bewertung der imperialen Vergangenheit Frankreichs. In Rachel Chins Studie fließen diese beiden Hauptströme der französischen Zeitgeschichtsschreibung zusammen. Chin betrachtet die komplexe Ménage-à-trois zwischen Großbritannien, Vichy und der France libre durch die Linse der französischen Kolonialgeschichte zwischen 1940 und 1945. Ins Zentrum ihrer Untersuchung platziert sie dabei die Rhetorik der Akteure als "a strategic policy-making tool in its own right" (2), mit dessen Hilfe eine "combination of cultural, historical and emotive imagery" (13) für den verbalen Kriegseinsatz mobilisiert werden sollte. Chin untersucht anhand zentraler militärischer Konflikte infolge der "triangular rivalry" (54), wie sich die Kontrahenten gegenüber der eigenen Öffentlichkeit und gegenüber dem Feind rhetorisch ins rechte Licht zu rücken trachteten. Die Propaganda gerade der französischen Antagonisten kreiste nach dem Waffenstillstand vom Sommer 1940 um die beiden zentralen Begriffe Legitimität und Souveränität. Die britische Regierung wiederum musste einen doppelten Spagat vollziehen: einerseits zwischen der Unterstützung für die France libre unter Charles de Gaulle und der Wahrung leidlicher Beziehungen zu Pétain, andererseits zwischen einer Kritik an den Kollaborateuren von Vichy und einer versöhnlichen Haltung gegenüber der französischen Bevölkerung, die für einen Aufstand gegen die Okkupanten gewonnen werden sollte.
Die Zerstörung der französischen Flotte vor Mers el-Kébir durch britische Verbände im Juli 1940 lieferte gewissermaßen die Blaupause für weitere Kriegshandlungen im kolonialen Frankreich. Knapp 1300 französische Seeleute verloren ihr Leben, was London als "necessary tragedy" (77) zu rechtfertigen versuchte und mithin erstmals das "wartime mantra of honourable structure, eventual victory and French salvation" (69) anstimmte, welches nicht zuletzt auch auf die Administration der Vereinigten Staaten zielte. In Großbritannien genoss das Vorgehen der Regierung die Zustimmung der Bevölkerung, und der neue Premierminister Winston Churchill - "vaulted to historic greatness" (94) - konnte die Operation Catapult als sein kriegspolitisches Gesellenstück verbuchen. Naturgemäß sah man in Vichy die Eskalation im Mittelmeer anders, nämlich als Dolchstoß des formal nach wie vor mit Frankreich verbündeten, perfiden Albion, das im Übrigen Frankreichs erzwungene Neutralität durch eine verfehlte Politik in den 1930er Jahren mitverschuldet habe.
Als im Herbst 1940 die Operation Menace scheiterte, mit der die Briten den Pétain-treuen Truppen den strategisch wichtigen Hafen von Dakar zu entreißen versuchten, beeilte sich London nachträglich, das Unterfangen als Idee de Gaulles zu desavouieren, während dieser sich als humanitär motivierter Patriot gerierte und den Abbruch der glücklosen Aktion mit dem Schutz französischer Bürger begründete. Auch bei diesem Stresstest der spannungsgeladenen Beziehungen zwischen Westminster und der France libre behielt die britische Regierung die nationale Presse als "viable window into local and international sentiment" (125) im Auge, während das Vichy-Regime seinen Triumph im Senegal dazu nutzen wollte, einen Keil zwischen Churchill und de Gaulle zu treiben.
Noch komplexer als in Westafrika gestaltete sich - historisch wie militärisch - die Situation in der Levante. Chin analysiert die zwiespältige gaullistische Rhetorik gegenüber dem Libanon und Syrien, die einerseits vage Versprechen auf Unabhängigkeit bediente, andererseits aber die Souveränität Frankreichs eng mit seiner Handlungsfreiheit im Nahen Osten verknüpfte. Großbritannien nahm für sich die Rolle eines "arbiter extraordinaire" (138) in Anspruch, der im Zweifelsfall das nationale Interesse am Suezkanal, der Hauptschlagader des Empire, über die Ansprüche de Gaulles stellte, dem die proarabische Linie des Foreign Office ohnehin suspekt war. Chin bettet diese Betrachtungen in den weiteren Kontext kolonialistischer Schachzüge nach 1914 ein, die - verbunden mit ruchloser Gewaltanwendung - als "imperial bargaining of Arab futures" (210) das politische Klima im Nahen Osten vergifteten - mit gravierenden Auswirkungen bis heute. Als die gaullistische Mandatsverwaltung dann im Herbst 1943 Mitglieder der libanesischen Regierung verhaften ließ, bemühte sie sich, ihr Vorgehen einer konsternierten Öffentlichkeit gegenüber mithilfe eines "well-worn discourse" (219) über die mangelnde Erfahrung lokaler Politiker zu rechtfertigen. Nur der massive Druck Londons brachte die Verantwortlichen schließlich zur Raison und führte zur Freilassung der libanesischen Führung. Im Mai 1945 zog das befreite Frankreich erneut Pfeile internationaler Kritik auf sich, als seine Luftwaffe Damaskus angriff, um - knapp ein Jahr vor dem Abzug der französischen Mandatsmacht - Aufständische zur Botmäßigkeit zu zwingen.
Chin nutzt diese Episode für einen Ausblick auf die Nachkriegsära der Dekolonisation, die sie treffend als "more of a conceptual framework than a strategic plan" (232) apostrophiert. Während Frankreich bestrebt war, seine imperialen Besitzungen als Unterpfand nationaler Größe und internationaler Beachtung zu wahren, lavierte die britische Regierung zwischen solidarischen Lippenbekenntnissen gegenüber Paris und einer Haltung, die andere Akteure der Weltpolitik als progressiv und altruistisch wahrnehmen konnten, was im heraufziehenden Kalten Krieg indes selbst Wohlmeinenden zusehends schwerfiel, da sowohl die Sowjetunion als auch die Vereinigten Staaten nach dem Zerbrechen der Anti-Hitler-Koalition die Polemik gegen die dem Zug der Zeit so flagrant widersprechenden Beharrungstendenzen der europäischen Kolonialmächte als kleinsten gemeinsamen Nenner identifizieren konnten. Die Vereinten Nationen taten ein Übriges, um Frankreich und Großbritannien diskursiv in die Enge zu treiben.
Diese Passage ist wahrscheinlich die überzeugendste in Chins Studie, denn sie bündelt verschiedene Entwicklungslinien (post-)kolonialer Geschichte zu einem plausiblen Erzählstrang. Dass Rhetorik ein essentieller Bestandteil kriegerischer Konflikte ist und sich daher als heuristischer Zugriff auf die von den einzelnen Akteuren angestrebte Legitimation des eigenen, mitunter auch völkerrechtswidrigen Vorgehens und die Delegitimation der Gegenseite anbietet, kann hingegen nicht als neue Erkenntnis gewertet werden. Chins Untersuchung bietet demnach vor allem jenen hilfreiche Einsichten, die mehr über den diplomatisch-militärischen Eiertanz Großbritanniens nach der Kapitulation Frankreichs beziehungsweise über den Hintergrund der Schwierigkeiten erfahren wollen, die Frankreich nach 1945 mit der Integration von Vichy in seine Erinnerungslandschaft hatte.
Gerhard Altmann