Christine G. Krüger: "Die Scylla und Charybdis der socialen Frage". Urbane Sicherheitsentwürfe in Hamburg und London (1880-1900), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2022, 256 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-8012-0634-5, EUR 22,00
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Die historische Streik- und Protestforschung, die im ausgehenden 20. Jahrhundert wichtige Impulse zur kulturgeschichtlichen Erweiterung der klassischen Arbeiterbewegungsgeschichte gegeben hat, erfreute sich zuletzt keines großen Interesses mehr. Umso gespannter nimmt man das neue Buch von Christine Krüger, mittlerweile Professorin in Bonn, zur Hand, das, wie der Klappentext verspricht, mit einem Vergleich der beiden großen Hafenstreiks in London 1889 und Hamburg 1896/97 "erstmals" urbane Sicherheitsentwürfe untersuche und "die scheinbare Eindeutigkeit alter Grundannahmen" korrigiere.
Der Innovationsanspruch, so verdeutlicht sich nach dem Aufschlagen des Buchs, gründet im Konzept der "Sicherheit". Die Studie ist aus einem Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs "Dynamiken der Sicherheit" hervorgegangen und verortet sich im Feld der Sicherheitsgeschichte. In der Einleitung diskutiert Krüger nicht den geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand zum gesellschaftlichen Umgang mit Streiks und sozialer Frage, sondern primär politikwissenschaftliche Modelle der Critical Security Studies. Anknüpfend an diesen theoretischen Referenzrahmen definiert sie es als ihr Ziel, den historischen Wandel des Wechselverhältnisses zwischen Sicherheitsentwürfen und Kollektivkonstruktionen anhand der sozialen Proteste in Hamburg und London auszuleuchten. Methodisch operiert sie überwiegend diskursanalytisch, mit der Presse, Polizeiberichten und sozialwissenschaftlichen Schriften als Hauptquellen.
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil, "Sicherheitsgemeinschaften" benannt, untersucht zunächst, wie die drei tonangebenden Parteiungen im Kontext der Streiks Sicherheitsgefährdungen evozierten und diese mit rhetorischen In- und Exklusionen verbanden. Die Arbeiterschaft rechtfertigte ihre Forderungen mit der Unsicherheit der eigenen Existenz, beschuldigte in Hamburg aber außerdem die Unternehmer, durch das Anheuern fremder Streikbrecher die gesamtstädtische Sicherheit zu gefährden - ein interessanter Vorwurf, den offenbar auch die (unkommentierte) Umschlagillustration ausdrückt. Das unternehmerfreundliche "Lager der Konfrontation" geißelte wenig überraschend die Arbeiterproteste als Gefahr, bisweilen mit der Zuspitzung, diese würden auf Umsturz abzielen. Das "Lager des Dialogs", bestehend aus sozialreformerisch gesinnten Bürgerlichen, beklagte die Risiken, die eine tieferliegende gesellschaftliche Spaltung berge, und rief entsprechend zu Einigung auf. Anschließend thematisiert Krüger räumliche Dimensionen von Sicherheit, indem sie die fortschreitende soziale Segregation in den beiden Großstädten sowie punktuelle Praktiken der Grenzüberschreitung beschreibt, die nach ihrem Befund in London leichter fielen als in Hamburg. Einerseits trugen die streikenden Dockarbeiter 1889 ihren Protest durch imposante Umzüge aus den Arbeitervierteln ins Zentrum der britischen Metropole. Andererseits bemühten sich bürgerliche Kreise stärker als in Hamburg, Segregation durch ihr Hineingehen in die Arbeiterviertel zu überwinden, was Krüger - ohne direkten Zusammenhang mit dem Streik - anhand der Settlementbewegung und der Mode des "Slumming" ausführt.
Der zweite Teil des Buchs ist mit "Verantwortungshierarchien" betitelt und analysiert, welche Akteure für die Wahrung von Sicherheit verantwortlich gemacht wurden beziehungsweise diese Kompetenz für sich reklamierten. Zuerst geht es um die Sicherheitsaufgaben des Staats, worunter Krüger auch kommunale Instanzen fasst. Sie bespricht hier zum einen die traditionellen polizeilichen Sicherheitsaufgaben und Kontroversen um den Einsatz von Polizeigewalt: Nicht immer verhielt sich die Londoner Polizei zurückhaltender, wie etwa ein Exkurs zu den Trafalgar-Square-Demonstrationen von 1886/87 veranschaulicht. Zum anderen nimmt Krüger soziale Reformen als neue staatliche Sicherheitsaufgabe in den Blick, wobei sie zuerst auf Diskussionen um die unmittelbare Streikschlichtung fokussiert und sodann auf stadtplanerische Konzepte, die wiederum in keinem direkten Zusammenhang mit dem Protestgeschehen standen und vorrangig auf medizinische Gefahrendiagnosen reagierten. Ein weiterer Abschnitt geht der Produktion von Sicherheitswissen nach, wobei das Verhältnis der sich formierenden Sozialwissenschaften zu praktischen Wissensformen und zu amtlicher Wissensgenerierung im Zentrum steht. Der letzte Abschnitt befasst sich mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen von Schutzbedürftigkeit und Sicherheitsverantwortung.
Die thematischen Facetten, die Krüger einbezieht, muten fast alle mehr oder weniger bekannt an, waren sie doch schon vielfach Gegenstand nicht nur der Protestgeschichte, sondern auch einer breitgefächerten historischen Forschung zu Armutsdeutungen, Urbanisierung, Polizeimodernisierung und Sozialreform. Der Ansatz, diese diversen Zugriffe auf die sozialen Konflikte des ausgehenden 19. Jahrhunderts unter einer sicherheitsgeschichtlichen Perspektive neu zu bündeln, leuchtet ein und klingt vielversprechend. Aber was ist der Ertrag? Im Fazit wirft Krüger diese Frage selbst auf, ihre Antwort überzeugt indes nur bedingt. In erster Linie beansprucht sie, die vorgelegte Untersuchung konkurrierender Sicherheitsentwürfe korrigiere die in "der Geschichtswissenschaft" weitverbreitete These, dass ein im Bürgertum starkes Gefühl der Bedrohung durch Arbeiteraufruhr soziale Reformen angestoßen habe. Dagegen offenbare ihre systematische Herangehensweise, dass diejenigen, die am vehementesten Revolutionsszenarien ausmalten, Sozialreformen oft ablehnten und stattdessen schärfere Repression forderten; als Movens für soziale Reformen habe vielmehr "eindeutig" ein anderer Sicherheitsaspekt die größere Rolle gespielt, nämlich die Angst vor Armut als Gesundheitsrisiko (226-227). Diese Schlussfolgerung erstaunt, suggeriert sie doch pauschalisierend, dass die Geschichtswissenschaft bislang eine eindimensionale Kausalkette von sozialen Protesten über bürgerliche Revolutionsangst zu sozialen Reformen postuliert habe. Es ist keineswegs eine neue Erkenntnis, dass Proteste nicht nur Reforminitiativen, sondern auch Rufe nach Repression stimulierten, und dass Reformen zumeist nicht aus platter Revolutionsangst erwuchsen, sondern aus komplexeren Werthaltungen und Krisendiagnosen, in denen allerdings die Sorge vor einem potentiell gefährlichen Klassengegensatz weithin mitschwang. Ebenso erstaunt, dass Krüger am Ende den vergleichenden sicherheitsgeschichtlichen Ansatz zum Korrektiv für eine als überzogen charakterisierte, aber nicht näher spezifizierte Kritik an der Sonderwegsthese erklärt, zumal sie zuvor in mehreren Abschnitten selbst darauf verwiesen hat, dass der Vergleich eher graduelle und fluide Unterschiede zutage fördert. Unterschiede gab es freilich, aber wer bestreitet dies?
Kurzum, man vermisst stellenweise eine differenziertere Auseinandersetzung mit der Historiographie. Nebenbei sei bemerkt, dass dem Buch auch ein gründlicheres Lektorat gutgetan hätte. Und schließlich hätte die Rezensentin gerne erfahren, woher das Titelzitat stammt. Trotz mancher Schwachpunkte präsentiert die Studie aber lesenswerte komparative Analysen der polyvalenten Beschwörungen von "Sicherheit" im Umfeld zweier aufsehenerregender und noch immer faszinierender Protestereignisse.
Beate Althammer