Luke Giraudet: Public Opinion and Political Contest in Late Medieval Paris. The Parisian Bourgeois and his Community, 1400-1450 (= Studies in European Urban History (1100-1800); Vol. 60), Turnhout: Brepols 2023, 327 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-59386-9, EUR 104,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Die neue Studie von Luke Giraudet zu öffentlicher Meinung und politischer Streitkultur im spätmittelalterlichen Paris stellt die überarbeitete Fassung seiner im Jahr 2019 an der University of York eingereichten Dissertation dar. Wie in einem Brennglas lassen sich am Pariser Beispiel die politischen Verwicklungen und Verwerfungen in der späten Phase des Hundertjährigen Kriegs nachzeichnen. Mit seinem Fokus auf das anonyme "Journal d'un bourgeois de Paris" (1405-1449) interessiert sich der Verfasser weniger für politische Ereignisgeschichte als für Stimmungen und Deutungen, individuelle Wahrnehmungen und Prozesse der kollektiven Meinungsbildung in Paris in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts.
Damit wählt er einen Zugang, der sich durch die - keineswegs auf Paris beschränkte - dichtere Überlieferung von Briefen, Tagebüchern und anderen Egodokumenten schon länger als fruchtbares Feld der Spätmittelalterforschung herausgebildet hat. Die hochrangige Stellung des Pariser 'Bourgeois', der sich selbst als Kleriker im Umfeld der Pariser Universität und der Pariser Kirche outet, erlaubt ihm teilweise interne Einblicke in die aktuellen politischen Verhältnisse, wobei er an vielen Stellen pointierte Meinungen, Befürchtungen, Erwartungen, im Umlauf befindliche Gerüchte oder Klagen über das Fehlen gesicherter Informationen wiedergibt. Spätestens seit den Arbeiten von Bernard Guenée sind die Texte des 15. Jahrhunderts Kronzeugen für die politische Kommunikation und den Stellenwert öffentlicher Meinung im spätmittelalterlichen Paris. [1]
Giraudet beabsichtigt mit seiner "microhistory of the final phase of the Hundred Years War" (22) auch eine "rehabilitation" (23) des 'Journal' in der spätmittelalterlichen französischen Historiografie. Damit spielt er auf ältere Bewertungen an, die dem Text mit seinen vielen Hinweisen zu Versorgungsproblemen und Preissteigerungen vor allem alltagsgeschichtlichen Wert zubilligen. Jedoch geht in der forschungsgeschichtlich angelegten Einleitung (15-49) weitgehend unter, dass sich der Blick der neueren Forschung längst von diesem Paradigma gelöst hat. Ein zweites Manko wird bei der Beschreibung der Parallelüberlieferungen sichtbar: Giraudet verspricht sich von der Analyse des 'Journal' unter anderem deshalb viel, da die Pariser Überlieferung kirchlicher und städtischer Akten zu Beginn des 15. Jahrhunderts fast vollständig verloren gegangen sei (22). Nicht zum einzigen Mal hat man an dieser Stelle den Eindruck, dass der Verfasser mit der Pariser Archivsituation nur wenig vertraut ist.
Den komplexen dezentralen Herrschaftsverhältnissen in der französischen Hauptstadt, die sich an den großen Grundherrschaften orientieren, ist es geschuldet, dass das meiste Schriftgut der munizipalen Administration und der Gerichtspraxis in den Beständen der großen geistlichen Institutionen in Paris zu finden ist: Bischof und Kapitel von Notre-Dame, die Klöster Sainte Geneviève, Saint-Germain-des-Prés oder Saint-Martin-des-Champs und Stiftskapitel wie Sainte-Opportune oder Saint-Germain-l'Auxerrois. Allein die Überlieferung von Gerichtsurteilen, Rechnungen und censiers, d.h. Verzeichnissen der Grundabgaben in den grundherrschaftlichen Bezirken (censives), erreicht am Ende des 14. Jahrhunderts einen Höhepunkt, wie die magistralen Studien von Louis Tanon und Valentine Weiss zeigen, die beide im Literaturverzeichnis fehlen. [2] Ein neues Forschungsprojekt an der Sorbonne widmet sich überdies seit 2020 der Edition der Register des Kapitels von Notre-Dame de Paris aus den Jahren 1326-1504 in den Archives Nationales, die auch einen großen Bestand an Akten zur politischen Situation in Paris zur Zeit der englisch-burgundischen Dominanz und der Herrschaft Karls VII. nach 1436 umfassen ( https://lamop.pantheonsorbonne.fr/e-ndp ). All diese Texte zusammen ergeben - trotz unbestreitbarer Verluste - eine dichte Überlieferungslage, die durch Bilder, Objekte und Architekturen noch erweitert werden könnte.
Im Hauptteil seiner Untersuchungen fragt der Verfasser in fünf Kapiteln nach dem Pariser Milieu, in dem sich der 'Bourgeois' bewegt (Kap. 1), Kommunikationsformen der städtischen und kirchlichen Obrigkeiten (Kap. 2), Gerüchten und Gewalt in der Pariser Gesellschaft (Kap. 3), öffentlichen Räumen und Streitkultur (Kap. 4) und schließlich - im Sinne von Barbara Hanawalt (Ceremony and Civility, 2017) - nach städtischen und höfischen Zeremonien in der französischen Hauptstadt (Kap. 5). Nicht neu ist die Situierung des 'Bourgeois' auf der Rive droite und die Vermutung engerer Bezüge zur Kirche Saints-Innocents bei den Hallen. Überzeugend wird dargelegt, dass die topografische Einordnung mit der politischen Einstellung konvergiert, die im 'Journal' zum Ausdruck kommt: Die Hallen galten als Zentrum der burgundischen Partei in Paris; in der benachbarten Pfarrei Saint-Eustache hatte die burgundische Andreasbruderschaft ihren Sitz. An dem berühmten Totentanzfresko auf dem Friedhof des Innocents, gestiftet durch Herzog Jean de Berry in den ersten Jahren des Bürgerkriegs zwischen Armagnacs und Bourgignons, macht die Studie deutlich, dass insbesondere die Pariser Kirchen im Zentrum des Machtkampfs zwischen den rivalisierenden Parteien und des Wettstreits um öffentliche Aufmerksamkeit und Zustimmung standen.
All dies ist freilich nicht unbekannt, sondern bereits durch die ältere französische Paris-Forschung in vielen Details ausgeleuchtet worden. Neu ist hingegen die These, dass das 'Journal' als "important textual ressource" (91) für bürgerliche Aufsteiger aus dem Hallenviertel angelegt worden sein könnte, so etwa die Mitglieder der Familie Maciot, die zur Elite der lokalen Amtsträger im 15. Jahrhundert gehörte. Ein weiteres wichtiges Ergebnis des Buchs wird in diesem Kapitel vorweggenommen: Der 'Bourgeois' lässt sich nicht einfach als Parteigänger der angloburgundischen Allianz einordnen, sondern richtet seine politischen Urteile danach aus, was für die Stadt Paris und ihre etablierten kirchlichen Eliten den größten Nutzen oder den geringsten Schaden erbringt.
Die folgenden Kapitel sind den Spannungen, teils gewalttätigen Exzessen, teils machtpolitischen Demonstrationen und medialen Kampagnen im Zuge des Konflikts zwischen Armagnacs und Bourgignons in Paris gewidmet. Lange Passagen des 'Journal' behandeln die Dispositionen der Hauptakteure, insbesondere des Herzogs Johann Ohnefurcht von Burgund, der durch die Ermordung Ludwigs von Orléans 1407 die Initialzündung zu der Auseinandersetzung gab, und seines Nachfolgers Philipp der Gute, der nach der Ermordung seines Vaters 1419 ein Bündnis mit dem englischen Königshaus der Lancaster schloss und damit die Grundlage für die lange Herrschaft des Herzogs John of Bedford in Paris (1422-1435) legte. Giraudet behält in diesen Kapiteln den Überblick über die sich überschlagenden Ereignisse, indem er die teilweise lose aneinandergereihten Fäden des 'Bourgeois' durch sorgfältig recherchierte Kontextualisierungen zu einem differenzierten Blick auf die politische Kommunikation und (Streit-)Kultur im spätmittelalterlichen Paris zusammenfügt.
Hilfreich ist dabei die Arbeit mit methodischen Konzepten wie den älteren Arbeiten von Jacques Ellul zu den psychologischen Grundlagen von Propaganda (Propagandes, 1962) oder Ansätzen zur Bedeutung von Emotionen für die politische Kommunikation (z.B. Lila Abu-Lughod, Catherine Lutz: Language and the Politics of Emotion, 1990), die er für seine Analysen fruchtbar macht. Bereits Guenée hatte erkannt, was Giraudet am Beispiel des 'Bourgeois' eindringlich bestätigt: "emotional display and expression were crucial to medieval governance" (123). Die Studie hebt insgesamt darauf ab, dass ein großer Teil der politischen Kommunikation im Paris der Zeit Bedfords und Karls VII. ein anspruchsvolles Konstrukt zur emotionalen Lenkung der Massen war, bei dem bildliche, räumliche und zeremonielle Arrangements mitbedacht und eingesetzt wurden. Auch wenn das Erkenntnispotenzial, das dieser vielversprechende und durch die Arbeiten etwa zu John Lydgate im London unter der frühen Lancasterherrschaft bereits breit erprobte Ansatz, durch die starre Fokussierung auf das 'Journal' etwas geschmälert wird, ist Luke Giraudet eine über weite Strecken instruktive Untersuchung zur politischen Kultur in Paris in einer der dynamischsten Phasen seiner langen Geschichte gelungen.
Anmerkungen:
[1] Bernard Guenée: L'opinion publique à la fin du Moyen Âge d'après la chronique de Charles VI du Religieux de Saint-Denis, Paris 2002.
[2] Louis Tanon: Histoire des justices des anciennes églises et communautés monastiques de Paris, Paris 1883; Valentine Weiss: Cens et rentes à Paris au Moyen Âge, 2 Bde., Paris 2009.
Jörg Oberste