Rezension über:

Enno Bünz: Die mittelalterliche Pfarrei. Ausgewählte Studien zum 13.-16. Jahrhundert (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation; 96), Tübingen: Mohr Siebeck 2017, X + 862 S., 23 s/w-Abb., 3 Tabl., ISBN 978-3-16-153874-2, EUR 109,00
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Rezension von:
Jörg Oberste
Universität Regensburg
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Oberste: Rezension von: Enno Bünz: Die mittelalterliche Pfarrei. Ausgewählte Studien zum 13.-16. Jahrhundert, Tübingen: Mohr Siebeck 2017, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 3 [15.03.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/03/30657.html


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Enno Bünz: Die mittelalterliche Pfarrei

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Enno Bünz hat einen voluminösen Band zur spätmittelalterlichen Pfarrei in Deutschland vorgelegt und damit ein Forschungsfeld bereichert, das sich trotz zahlreicher älterer und regionaler Einzelstudien bislang einer methodisch anspruchsvollen und synthetischen Darstellung entzogen hat. 17 bereits publizierte Arbeiten aus den Jahren 1995 bis 2012 werden in eine aktualisierte und teilweise erweiterte Form gebracht und durch vier Originalbeiträge ergänzt, so dass sich sein Buch in insgesamt 21 Kapiteln in monographischer Geschlossenheit präsentiert.

Der Disparatheit von regionalen, sozialen und rechtlichen Gegebenheiten, von Quellen und Forschungen stellt Bünz in den methodischen ersten Kapiteln und im gesamten zweiten Teil (Kapitel 4-9) einen komparatistischen Ansatz gegenüber, während die Studien im dritten und vierten Teil eben jene Besonderheiten am Einzelfall beleuchten.

Die Pfarrei ist eine Institution von langer Dauer und flächendeckender Präsenz. Doch im Unterschied zum hohen Klerus und zu Klöstern oder Ordenshäusern fehlt ihr über lange Jahrhunderte eine eigene institutionelle Schriftlichkeit, eigene Historiographien, eigene Buchführung und - teilweise wohl als Folge daraus - nachhaltige Aufmerksamkeit der historischen Forschung. Für Deutschland trifft dieser Befund nicht zuletzt dank der seit 30 Jahren betriebenen Forschungen des Autors nicht mehr uneingeschränkt zu. In den europäischen Nachbarländern stellt sich die Forschungssituation in aller Regel lückenhafter dar. Die Bilanzierung der Quellenlage ruft noch einmal die methodischen Herausforderungen für die gewählte Thematik auf: Pfarrarchive reichen kaum vor die Reformation zurück; auch die Bistumsverwaltung bedient sich erst seit dem 14. Jahrhundert einer Buchführung, die nicht zuletzt für die Entwicklung der Pfarreien wichtige Erkenntnisse liefert. Was hinzu kommt, sind Glücksfälle der Überlieferung wie die Konstanzer Investiturprotokolle, das Göttinger Rechnungsbuch eines Stadtpfarrers oder ein oberpfälzisches Pfarrhausinventar von 1431, die aber zeitlich ebenfalls kaum vor das 15. Jahrhundert reichen. Einen großen Fundus bietet das Inschriftenmaterial von Friedhöfen und aus Pfarrkirchen, an dessen Edition durch das große Gemeinschaftsprojekt "Die deutschen Inschriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit" fortlaufend gearbeitet wird. Nicht zuletzt bieten päpstliche Register wertvolle Hinweise zur Pfarrorganisation, die durch das "Repertorium Germanicum" nur zum Teil erschlossen werden. Allein diese Beobachtungen und Überlegungen zur Überlieferungs- und Editionslage auf den ersten 150 Seiten machen den hier vorgelegten Band zum Ausgangspunkt für jede weitere Beschäftigung mit dem Thema.

Hat man diese quellenbedingten Restriktionen im Blick, erklärt sich die Konzentration vieler Beiträge und Beobachtungen auf das 15. und 16. Jahrhundert. Hier eröffnet der Band an reicher werdendem Material Perspektiven insbesondere auf drei große Felder, die zu einer synthetischen Betrachtung eng ineinander greifen: 1) auf die institutionengeschichtliche Einbettung der Pfarreien in den Dekanaten, Archidiakonaten, Bistümern und in der Universalkirche; 2) auf die sozialgeschichtliche Stellung der Pfarrer und des niederen Klerus und 3) auf die Frömmigkeitspraktiken in den Pfarrgemeinden. Wäre das Buch zu diesem Anlass eigens konzipiert und geschrieben worden, wären diese drei Themen vermutlich die Hauptkapitel geworden, da sich schon in den älteren Arbeiten von Bünz ein Interesse an allen drei Feldern herauskristallisieren lässt. Da aber die hier vorgelegten Studien zum größeren Teil regionale oder prosopographische Einzelfälle behandeln, in denen institutionelle, soziale, ökonomische und frömmigkeitspraktische Aspekte zusammenfließen, folgt die Logik des Bandes eher dieser mikrohistorischen Strukturierung.

Damit beschreitet der gesamte Band einen Pfad, der von den allgemeinen und größeren Linien in den ersten drei Kapiteln, die neben dem Forschungsüberblick die "Entwicklung der Seelsorgestrukturen im Spätmittelalter" (Kapitel 2) und "Pfarrei und Niederklerus im Spiegel der vatikanischen Registerüberlieferung des 15. Jahrhunderts" (Kapitel 3) behandeln, über die vergleichenden Perspektiven u.a. zum kirchlichen Bauboom auf dem Dorf um 1500, zum Friedhof als "Stätte bäuerlicher Erinnerungskultur" oder zum "Buchbesitz von Pfarrern" (Zweiter Teil) bis zu den regionalen Studien u.a. in Franken, Bayern, Thüringen und im norddeutschen Dithmarschen (Dritter Teil) und den prosopographischen Skizzen (Vierter Teil) immer enger wird. Eine monographische Synthese wäre hier vermutlich umgekehrt verfahren.

Gleichwohl muss diese Konzeption kein Nachteil sein: Wohl niemand wird mit demselben Interesse ein Kapitel über die Pfarrerbibliotheken im 15. und 16. Jahrhundert (295ff.), über die Kirchenorganisation im mittelalterlichen Vogtland (489ff.) und über einen Dithmarschener Pfarrer der Reformationszeit (720ff.) lesen. Doch in der Zusammenschau wird sehr eindrücklich auf die Vielfältigkeit und Lücken der Überlieferungen aufmerksam gemacht. Leser, die am großen Überblick interessiert sind, werden nicht nur in den Anfangskapiteln mit hinreichend Lesestoff versorgt. In diesen und allen weiteren Kapiteln gilt, dass der Verfasser durch einen akribisch ausgearbeiteten Anmerkungsteil die Anknüpfungspunkte in der Forschung in breiter Weise aufzuzeigen versteht. Spezialisten werden nicht zuletzt dank eines ausführlichen Namen- und Sachregisters den Band als Handbuch zur spätmittelalterlichen und reformationszeitlichen Pfarrgeschichte in Deutschland zu schätzen wissen. Eine vollständige Synthese der mittelalterlichen Pfarrei in Deutschland ist damit noch nicht entstanden, insbesondere zum frühen und hohen Mittelalter bietet der vorgelegte Band außer weiterführenden Literaturhinweisen wenig. Doch Enno Bünz hat für ein solches Unternehmen die Plattform geschaffen, zumal wenn man die 124 (!) weiteren Beiträge des Autors zum hier verhandelten Themengebiet mit berücksichtigt.

Jörg Oberste