Francisca Loetz (Hg.): Gelebte Reformation. Zürich 1500-1800, Zürich: TVZ 2022, 541 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-290-18468-1, EUR 54,00
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Der Begriff der "Reformation" wird heute so vielfältig verwendet, wie es Perspektiven auf die Geschichte gibt. Der vorliegende Band will, so die Herausgeberin im Vorwort, die "Reformation Zürichs aus sozial-, kultur-, gender- und mediengeschichtlicher Sicht" darstellen und dabei gleichzeitig die "Vielfalt der überlieferten Quellen hervorheben" (10). Der Titel "Gelebte Reformation" soll darauf hinweisen, dass nicht die Anfangsereignisse oder theologische Schriften im Zentrum stehen sollen, sondern die Frage, "wie Reformation in der Frühen Neuzeit erfahren und gelebt worden ist und welche kurz- und langfristigen Folgen die religiöse Umorientierung für Zürich und die Zürcher Gesellschaft hatte" (8). Dem korrespondiert, dass sich die Herausgeberin am Konzept der "long Reformation" orientiert, und "Reformation" damit letztlich mit dem gesamten Zeitraum der "Frühen Neuzeit" als reformiert geprägte Konfessionskultur gleichsetzt, wie bereits der Buchtitel anzeigt. Entsprechend präsentieren die Beiträge Aspekte und Schlaglichter im Blick auf die in Folge der Zürcher Reformation mehr oder weniger "reformiert" (um)geprägten kulturellen Lebensverhältnisse, Institutionen, Bräuche, Praxen, Werte und Konflikte, wie sie sich in den untersuchten Quellen(gattungen) spiegeln. Mit dem sich über drei Jahrhunderte erstreckenden Zeitraum "Reformation" vermehren sich die der Auswertung harrenden Quellen erheblich. Gleichzeitig spielt die kirchengeschichtlich traditionelle Zäsur zwischen der kurzen, aber dramatischen Phase des Umbruchs ("Reformation") und dem anschliessenden langen "Konfessionellen Zeitalter", das in mancher Hinsicht gewiss nicht unbedingt als direkte Realisierung reformatorischer Ideen bezeichnet werden kann, keine Rolle.
Es versteht sich von selbst, dass eine Rezension eines Bandes, der achtundzwanzig Beiträge enthält, nicht einzelne Texte würdigen oder gar mit ihnen ins Gespräch kommen kann. Die einundzwanzig Beiträgerinnen und Beiträger - durchgehend von theologischer Kompetenz unbelastet, aber "unterschiedliche[n] Fachdisziplinen, berufliche[n] Hintergründen und Karrierestufen" entstammend (10) - verdienen aber, zumindest genannt zu werden:
Nach einer politikgeschichtlichen Übersicht (André Holenstein) und einem Artikel über die "Erste Zürcher Disputation" mit Konzentration nicht auf die Inhalte von Zwinglis Thesen, sondern auf deren gesellschaftliches Konfliktpotenzial (Fabrice Flückiger) - ergänzt durch einen Beitrag zum "Problem der Türken" von Francisca Loetz - im ersten Kapitel, unter die Stichworte "Abgrenzen und Annähern" gefasst, kommen in der Folge zahlreiche gesellschaftliche Themen des frühneuzeitlichen reformierten Zürich zur Sprache. Im zweiten Kapitel wird unter den Stichworten "Lesen und Lernen" auf die Zürcher Bibelübersetzung (Anja Lobenstein-Reichmann), auf die Lesefähigkeit (Michael Egger) und auf die "neue" reformierte Pfarrerschaft (Bruce Gordon) hingewiesen. Kapitel drei ("Sehen und hören") enthält Beiträge zum reformierten Stadtraum (Martina Stercken), zur Theaterkultur (Hildegard E. Keller), zum Umgang mit Bildern (Carola Jäggi) und zum (abgeschafften) Kirchengesang (Francisca Loetz und Jan-Friedrich Missfelder). In "Streiten und bezeugen" (Kapitel vier) geht es um kirchliche Verhältnisse im Dorf (Peter Niederhäuser), um Konfessionspolemik auf Wirtshausebene (Nicole Zellweger) und um den Umgang mit Täufern (Urs B. Leu). Die Armenpolitik (Markus Brühlmeier und Dominik Sieber), der Umgang mit Heilszauber (Eveline Szarka) und das Schicksal von Nonnen und Mönchen nach der Auflösung der Klöster (Peter Niederhäuser) werden in Kapitel fünf unter den Titel "Ausgrenzen und Aufnehmen" gebracht. Kapitel sechs befasst sich mit dem obrigkeitlich-kirchlichen Umgang mit Sexualität (Francisca Loetz; Markus Brühlmeier) und Prostitution (Adrina Schulz), und Kapitel sieben ist mit "Glauben und zweifeln" überschrieben. Hier werden Gespenster (Eveline Szarka), die Gotteslästerung (Francisca Loetz) und Zürcher Pfarrer als Seelsorger und Hüter des Gesetzes (Nicole Zellweger) exemplarisch abgehandelt.
Eine Perle des Bandes bildet Kapitel acht, wo Expertinnen und Experten über den Charakter und Interpretationsfragen der herangezogenen Quellen Auskunft geben: Briefkorrespondenzen (Randolph C. Head), Mandate (Nicole Zellweger), das Antistitialarchiv (Rainer Henrich), Kundschaften und Nachgänge (Francisca Loetz), Stillstandsprotokolle (Peter Niederhäuser) und Objekte (Christian Hörack) sind die hier vorgestellten Quellengattungen. Nicht alle genannten Gattungen werden allerdings gleichermassen stark berücksichtigt.
Im Anhang (Kapitel 9) finden sich schliesslich Quellenbeispiele und neben einem Register tabellarische Übersichten über die Ereignisgeschichte und über die Konfessionsunterschiede.
Insgesamt verbinden alle Beiträge minutiöse historische Quellenarbeit mit großer Anschaulichkeit in der Präsentation. Gelegentliche kleinere Missgriffe, wo kirchen- oder theologiegeschichtliche Bereiche berührt werden, fallen angesichts des anders gelagerten Forschungsfokus und der stets deutlichen Aussageintention der Verfasserinnen und Verfasser nicht ins Gewicht.
Wie jede Perspektive auf die Geschichte hat auch die vorliegende neben der Öffnung eines Gesichtsfeldes ihre Grenzen, indem sie sich auf das konzentriert, was man als öffentliche Religion im reformiert geprägten frühneuzeitlichen Zürich bezeichnen kann. Spuren dessen, worum es den Zürcher Reformatoren zweifellos im Kern ging, eine von religiöser Verknechtung und kirchlicher Ausbeutung befreite, von Vertrauen und Liebe geprägte christliche Frömmigkeit und ein christlich-gesellschaftliches Leben im Geist des "Gemeinnutzes", vielleicht am ehesten auffindbar in Gestalt von Zeugnissen verinnerlichter reformierter Glaubensvorstellungen und reformiert-christlicher Glaubens- und Lebenspraxis, stehen nicht im Fokus des Interesses und kommen bestenfalls indirekt oder am Rand in den Blick. Damit bleiben wesentliche Bereiche dessen, "wie Reformation in der Frühen Neuzeit erfahren und gelebt worden ist", im Dunkeln. Das hat allerdings keineswegs nur mit der jede Konstruktion der Vergangenheit bestimmenden Dialektik zwischen der stets konkret gesellschaftlich (und individuell) geprägten Perspektivität historischen Fragens und den Quellen zu tun, sondern ist auch eine Frage der überhaupt auswertbaren Quellen, ohne die es kein geschichtliches Wissen gibt. Können solche Relikte vergangenes Leben naturgemäss nur verzerrt und bestenfalls fragmentarisch bezeugen, so gibt die hier gewählte Quellenpräferenz von gleichsam aktenkundig gewordenen (und oft konfliktorientierten) Spiegelungen des Christentums im frühneuzeitlichen Zürcher "Staat" die Sicht vor.
Die Beiträge vermögen dessen ungeachtet nicht nur die Wechselhaftigkeit und Ambiguität allen menschlichen Handelns auf der konkreten, alltagsgeschichtlichen Vollzugsebene zu illustrieren, sie werfen auch Schlaglichter auf die Differenz zwischen theologischer Theorie und einer im Horizont obrigkeitlicher Verordnungen gelebten gesellschaftlichen Konfessionspraxis.
Der Band ist schön gestaltet, von den Bildern über die Gesamtkomposition bis - so zumindest der Leseeindruck - in die literarische Rhetorik der Beiträge hinein, und lässt eine stark prägende redaktionelle Hand der Herausgeberin vermuten, die selbst für mehrere Beiträge verantwortlich bzw. an solchen beteiligt ist, zweifellos zum Vorteil des Bandes! Es ist ihr in bewundernswerter Weise gelungen, unterschiedliche Beiträgerinnen und Beiträger zu gewinnen, unter einem klaren Konzept zu vereinen und die Beiträge schliesslich zu einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen und zu präsentieren.
Damit bearbeitet der vorliegende Band eine in der traditionellen Kirchengeschichtsschreibung eher vernachlässigte Perspektive auf die Zürcher "Reformation". Er ergänzt die oft theologie-, frömmigkeits- oder allenfalls politikgeschichtlich orientierten Darstellungen der Reformationsgeschichte und trägt so dankenswerter Weise zu einer vollständige(re)n Wahrnehmung des frühneuzeitlichen Christentums in reformierter Prägung bei. Viele Beiträge regen überdies zu weiteren Forschungen an. Und gerade wer sich eher für das frühneuzeitliche reformierte Christentum des "Reformationszeitalters" interessiert als für die reformiert-christliche Frühe Neuzeit, wird die Beiträge dieses Bandes, allesamt fundiert, lehrreich und spannend zu lesen, mit Gewinn zur Hand nehmen.
Peter Opitz