Francisca Loetz: Mit Gott handeln. Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kulturgeschichte des Religiösen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 580 S., 4 Graf., 12 Tab., ISBN 978-3-525-35173-4, EUR 64,00
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Die Heidelberg Habilitationsschrift von Francisca Loetz will mittels einer Fallstudie zur Gotteslästerung im Stadtstaat Zürich zu einer Kulturgeschichte frühneuzeitlicher Religiosität vorstoßen. Dass dies weitgehend und mit teilweise eindrucksvollen Ergebnissen gelingt, bestätigt die Fruchtbarkeit der historischen Kriminalitätsforschung als einen Zugang zu vormodernen Lebenswelten, der über den engeren Bereich von Devianz und Justiz hinausführt. Das "Breitbanddelikt" der "Gotteslästerung", unter dem verschiedene deviante Verhaltensweisen wie Schwören, Fluchen, Lästerung von Heiligen, Gottesmutter, Gott selbst oder "unchristlicher" Lebenswandel verstanden und verfolgt werden konnten, fungiert dabei als Sonde und "Negativmaßstab", um die gesellschaftliche, politische und individuelle Bedeutung frühneuzeitlicher Religiosität breiterer Bevölkerungsschichten auszuloten.
Rund 900 Fälle von Gotteslästerung zwischen dem späten 15. und 18. Jahrhundert untersucht die Verfasserin auf breiter Quellenbasis (vorwiegend Kirchen- und Kriminalakten), wobei quantitative Auswertungen zur Gewinnung einer Vergleichsbasis und zur Bewertung historischer Wandlungsprozesse unternommen werden, insgesamt aber eine qualitative Analyse exemplarischer Fälle überwiegt. In einer kenntnisreichen Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand und theoretischen Modellen der Frühneuzeitforschung wie "Konfessionalisierung", "Sozialdisziplinierung" oder "Staatsbildung" entwickelt Loetz im einleitenden Teil einen eigenständigen methodischen Zugriff, der Gotteslästerung auf der Basis von Sprechhandlungstheorien und damit unter dem Aspekt sozialer Kommunikation untersucht. Zwar erlauben die obrigkeitlichen Quellen keine direkte Rekonstruktion von Sprechhandlungen, dennoch kann aus ihnen mit der gebotenen quellenkritischen Vorsicht die Perspektive der Betroffenen dechiffriert werden. Damit gelangt die Untersuchung über die Ebene der theologischen Diskurse und der obrigkeitlichen Religions- und Justizpolitik hinaus, die aber keineswegs vernachlässigt werden. In einem ersten Schwerpunkt rekonstruiert Loetz vielmehr minuziös die Normen der einschlägigen Gesetzgebung und die theologisch-kirchliche Konzeptualisierung der Gotteslästerung: Zwar brachte die Reformation eine deutliche Intensivierung der Normgebung, und auch ihre Züricher Protagonisten Huldrych Zwingli und Heinrich Bullinger beschäftigten sich mit ihrer Problematik. Letztlich belegt Loetz jedoch, dass in der normativ-diskursiven Konstruktion der diesem Delikt jeweils zugeordneten devianten Verhaltensweisen langfristige, bis ins Spätmittelalter zurückreichende Kontinuitäten dominierten. Die Reformation brachte folglich keine konzeptionellen Innovationen, sondern führte eher zu einer Sensibilisierung und Intensivierung hinsichtlich der Wahrnehmung und Verfolgung von Blasphemie.
Ob und wie Gotteslästerung verfolgt wurde, hing aber nicht nur von Normen, Obrigkeit und Justiz ab, sondern die Bevölkerung spielte dabei eine zumindest gleichgewichtige Rolle. Entscheidend war letztlich das Anzeigeverhalten der Beteiligten und damit deren Wahrnehmung und Bewertung blasphemischer Äußerungen im Kontext von Kommunikationen und Konflikten. Denn Blasphemien konnten nicht nur einen Angriff auf die göttliche und obrigkeitliche Ordnung bedeuten, sondern auch als verbale Provokation und Strategie dienen, um zum Beispiel einen Kommunikationspartner in seiner Ehre zu verletzen. Im Gegenzug verfügten die Zuhörer über ein gewisses "Beschuldigungskapital" und konnten eine Lästerung anzeigen oder sogar direkt mit Sanktionen - der Ehrenstrafe des so genannten Herdfalls - belegen. Zutreffend betont Loetz daher die große Bedeutung horizontaler Sozialkontrolle, die der Züricher Stadtrat allerdings in die obrigkeitlich-gerichtliche Verfolgung der Gotteslästerung integriert habe (527). Die obrigkeitliche Justiz ging insgesamt konsequent gegen die Blasphemiker vor, reagierte aber hinsichtlich der Sanktionen flexibel und differenziert. Nur schwere Lästerungen, die meist im Kontext weiterer krimineller Handlungen standen, wurden tatsächlich mit Todesstrafen geahndet, die in immerhin 78 Fällen vom Rat verhängt wurden. Insgesamt überwogen leichtere (Ehren-)Strafen, denn Ziel der obrigkeitlichen Verfolgung war nicht die Ausgrenzung, sondern die Wiedereingliederung der Lästerer, insbesondere wenn sie über genügend "Sozialkapital" verfügten.
Denn männliche erwachsene Züricher im Alter von 20 bis 40 Jahren und nicht die im theologischen Diskurs und obrigkeitlichen Gesetzen anvisierte "Zielgruppe" der "Fremden", Unterschicht- und Randgruppenangehörigen stellten das Gros der Lästerer. Gotteslästerung war folglich ein sozial verbreitetes Phänomen und "Männerdelikt", das diese bevorzugt an öffentlichen Orten (zum Beispiel in Gaststätten) begingen. Schwören, Fluchen und Lästern waren nicht nur Ausdruck von Auflehnung gegen Kirche und Obrigkeit, "Unglauben" oder religiösen Zweifeln, sondern Elemente alltäglicher Kommunikation und wurden als soziale Provokation, Imponiergehabe und Drohung in (Ehr-)Konflikten eingesetzt. Die Lästerer konnten sich damit effektvoll inszenieren oder abgrenzen. Umgekehrt ließ sich der Vorwurf der Blasphemie als Etikettierungsmöglichkeit nutzen, um einen devianten Lebensstil beziehungsweise Verhaltensweisen wie Trinken oder Zorn anzuprangern. Dass diese Wirkungen erzielt werden konnten, verweist auf die fundamentale Bedeutung des Religiösen für die Alltagskommunikation. Lästerer wie Zuhörer, Zeugen und Anzeigende verfügten über ein breites religiöses Wissen und hatten die Normen ihrer Religion beziehungsweise Konfession durchaus internalisiert. Blasphemien fanden auch im Kontext religiöser Diskussionen über zentrale Glaubensprobleme und Paradoxien wie Trinität und Omnipotenz Gottes, die Jungfrauenschaft Marias, die Menschwerdung Christi, das Abendmahl, die Auferstehung der Toten, die Prädestinationslehre und die Auslegung der Bibel statt oder verweisen zumindest auf diese. Deutlich wird auch eine Veränderung der Gottesbilder von einem lebensnahen, anthropomorphen zu dem abstrakten Gott der Vergeltung und Disziplinierung des Zwinglianismus, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts wiederum einer "Verbürgerlichung", aber auch neuen Sakralisierungen unterlag. Die Religion diskutierenden, kritisierenden, infrage stellenden oder gar gegen Gottes rebellierenden Blasphemiker gelangten jedoch nicht zu einem System, "das Gott aus der Welt ausschloß" (469). Religion war für Alltag und religiöse Devianz so prägend, "daß für Alternativentwürfe zur christlichen Deutung der Welt kein Raum war" (483).
Die unterschiedlichen Motive und Kontexte der Blasphemien, die von weltlichen Ehrkonflikten, "Affekthandlungen" und "Unwissen" über soziale Provokation und religiösen Disput bis hin zu rationalistischer Skepsis und religiösem Tabubruch reichten, wurden sowohl von den unmittelbar an den Kommunikationen Beteiligten als auch von der Obrigkeit differenziert wahrgenommen. Die eher schwach ausgeprägten Verfolgungskonjunkturen in der zweiten Hälfte des 16. und des 17. Jahrhunderts waren dann auch kein Ergebnis von "Krisenerscheinungen", und ebenso wenig führte die Reformation zu einem Bruch in der Strafpraxis. Vielmehr vollzogen sich seit dem späten 17. Jahrhundert langsame Veränderungsprozesse, die sowohl die Sprechkultur als auch die Wahrnehmung und Verfolgung der Gotteslästerung und damit die Religiosität der Züricher Bevölkerung betrafen: Eine Profanisierung der Lästerung, ein Rückgang der blasphemischen Bedeutung, eine stärkere Funktionalisierung als profane Injurie in Ehr- und Alltagskonflikten kann Loetz ebenso wie eine Entdifferenzierung, Einebnung und Desensibilisierung aufseiten der verfolgenden Obrigkeit überzeugend nachweisen. Der Umgang mit Gotteslästerung zeigt folglich einen Trend zur "Privatisierung" der Religion und bildete damit ein Element der sich im 18. Jahrhundert verstärkenden Säkularisierungstendenzen. Diese Relativierung von Reformation und Konfessionalisierung sowie die Betonung spätmittelalterlicher Kontinuitäten und die seit dem späten 17. Jahrhundert verstärkt einsetzenden Säkularisierungsprozesse erscheinen dem Rezensenten überzeugend dargelegt.
Grundsätzlich versteht es Loetz, ihre Argumente und Folgerungen sprachlich klar darzulegen, und nur gelegentlich werden die treffend herangezogenen Fallbeispiele durch allzu ausführliche Zitate zu breit "ausgewalzt". Die ausführliche Darstellung und Zitierung einzelner Fälle lässt nicht nur ein plastisches Bild frühneuzeitlicher Sprechkultur entstehen, sondern in einem kritischen und reflektierten Umgang mit den Quellen macht die Verfasserin auch deren Erkenntnisreichweite deutlich. Auf der handwerklichen Seite ist lediglich das knappe Register zu kritisieren, das Namen, Orte und Sachbegriffe enthält, die nicht klar differenziert sind. Zudem fehlen viele im Text auftauchenden Orte und Namen, und bei den aufgenommenen sind die Verweise nicht vollständig. Glücklicherweise hat Loetz eine klar aufgebaute und mit wichtigen Erkenntnissen aufwartende Arbeit zu religiösen Einstellungen und zur Praxis einer frühneuzeitlichen Gesellschaft geschrieben, sodass sich eine vollständige Lektüre allemal lohnt.
Ihre reichhaltigen Ergebnisse fasst die Autorin konzise in ihrer Schlussbilanz zusammen, ambivalent fallen jedoch Einordnung und Auseinandersetzung mit der Forschungslandschaft aus. Zugestanden sei ein skrupulöser und kritischer Umgang mit linearen oder vertikalen Herrschaftsmodellen, und sicherlich sollten monokausale Erklärungsmuster gemieden werden. In ihrer zum Teil durchaus berechtigten, kritischen Ablehnung weit greifender theoretischer Modelle wie Zivilisationsprozess, Akkulturation, Elite- / Volkskultur, Sozialdisziplinierung, Staatsbildung oder Mikro- / Makrogeschichte argumentiert Loetz gelegentlich zu pauschal, verzichtet generell auf Nachweise und verwendet stellenweise sehr allgemeine Formulierungen: "mit dem Stichwort Staatsbildung meinen Historiker den Wandel von der vormodernen Obrigkeit zum modernen Staat" (537), "die deutsche Historische Anthropologie hegt viel Sympathie für mikrohistorische Ansätze" (542), "an der Geschichte der Kirche arbeiten Historiker diverser Sparten" (541).
Ihre Forschungsergebnisse führt Loetz zwar gegen die genannten "Großtheorien" ins Feld, eine präzisere Verknüpfung insbesondere mit dem Problem "Herrschaft" erfolgt jedoch kaum. So genügt es nicht, durchaus zutreffend die Mechanismen horizontaler Sozialkontrolle, die Existenz von "Infrajustiz", gemeindlicher Selbstregulierung, Justiznutzung und Autonomie aufzuzeigen, um daraus relativ pauschal "Justiz als Herrschaftsmittel" infrage zu stellen. Weder "Justiz" noch Herrschaft können ohne die Mitwirkung von Gesellschaft funktionieren. Loetz weist selbst darauf hin, dass die Frage in den Mittelpunkt rücken sollte, in welchem Verhältnis obrigkeitliche Disziplinierung und gemeindliche Selbstregulierung standen (539). Die geforderte Integration in ein Modell von Devianz, Justiz und Herrschaft, das die Interaktionen zwischen den Akteuren in ihrem historischen Wandel herausarbeitet, leistet sie aber nur bedingt. Dass Herrschaft nicht nur über Repression funktionierte, heißt noch nicht, dass es nicht sublimere und komplexere Formen gab, neben denen Repression aber ein wichtiges Element blieb - immerhin wurden nahezu zehn Prozent der Gotteslästerer hingerichtet. Auch "Staatsbildung" wird dadurch keineswegs ausgeschlossen: Gerade die Interaktion zwischen horizontaler und institutionalisierter Sozialkontrolle und die intensiven Kommunikationen zwischen Obrigkeit und Bevölkerung indizieren Ausdifferenzierung und Wandel institutionalisierter Herrschaft. Gleiches gilt für den von Loetz konstatierten Erfolg der Christianisierung beziehungsweise Konfessionalisierung und die Ende des 17. Jahrhunderts erkennbaren Säkularisierungsprozesse: Was bedeutet es für Struktur und Entwicklung von Herrschaft und Gesellschaft, dass im Gefolge der Konfessionalisierung religiöses Wissen und religiöse Kommunikationen deutlich zunahmen, religiöse Normen - die als Komponente auch Disziplinierung und Herrschaft beinhalteten - internalisiert worden waren und der abstraktere Gott der Vergeltung in den Köpfen und Herzen der Gläubigen präsent war (529)? Diesen Vorgang hat Norbert Elias mit dem Modell von "Fremdzwang zum Selbstzwang" zu beschreiben versucht. Ist dies nicht Voraussetzung für die später einsetzende, am Medium der Gotteslästerung deutlich ablesbare "Privatisierung" und "Verbürgerlichung" der Religion, und hat dieser Prozess der Säkularisierung nicht auch Auswirkungen auf Herrschaft, Staat und Gesellschaft? Hinsichtlich der herrschaftspolitischen Dimensionen der Gotteslästerung beziehungsweise Religion kann folglich nicht auf Modelle historischen Wandels verzichtet werden, die Herrschaft, soziale Ungleichheit und Staatsbildung elementar integrieren.
Problematisch erscheint es zudem, auf der Basis einer begrenzten Fallstudie weit reichende Konsequenzen für "die Interpretation der Frühen Neuzeit" zu postulieren (539), die für das ganze frühneuzeitliche Westeuropa umfassende Geltung beanspruchen. Nicht einmal für Zürich wird der Gesamtkontext von Devianz, Strafjustiz und sozialer Kontrolle einbezogen, denn Loetz vergleicht ihre Ergebnisse nicht mit anderen Bereichen wie zum Beispiel Festkultur oder Ehe / Sexualität, in denen Religion ebenfalls eine wichtige Rolle spielte. Auch diskutiert sie nicht ausreichend, inwiefern der Stadtstaat Zürich ein repräsentatives Modell bilden kann, um daraus eine fundamental andere Sichtweise im Hinblick auf Praxis und Wandel frühneuzeitlicher Herrschaft und die Struktur der auf sozialer Ungleichheit basierenden Ständegesellschaft abzuleiten. Kann der Stadtstaat Zürich wirklich paradigmatische Bedeutung für Frankreich, England, Spanien, die Niederlande oder die deutschen Territorialstaaten beanspruchen? Das in einem Kapitel als Vergleichsmodell herangezogene, katholische Luzern kann hier nur bedingt Abhilfe schaffen. Hieran lassen sich zwar einige konfessionelle Unterschiede - vor allem ein geringeres Normierungsbedürfnis und Verfolgungsinteresse der Luzerner Obrigkeit - herausarbeiten, aber letztlich bedarf die behauptete generelle Verallgemeinerungsfähigkeit des Züricher Fallbeispiels einer weitergehenden Verifizierung mittels konkreter Vergleiche.
Hinsichtlich ihres Hauptanliegens, zu einer Kulturgeschichte des Religiösen vorzustoßen, gelingen der Verfasserin dagegen beachtenswerte, auch innovative Folgerungen und Thesen. Durch die Einbeziehung kommunikationstheoretischer Ansätze hat Loetz einen methodisch anregenden Beitrag zur Frühneuzeitforschung geleistet. Am Beispiel der Gotteslästerung als Kommunikationsakt macht sie deutlich, wie intensiv und differenziert religiöse und weltliche Sphäre ineinander griffen, wie stark religiöse Normen und Vorstellungen individuelle, "innere" Einstellungen, aber auch gesamtgesellschaftliche Attitüden und Kommunikation formten. Religion hatte dabei eine große praktische Bedeutung für den öffentlich Austrag von Konflikten: Fluchen und Schwören beziehungsweise der Bezug auf göttliche Autorität wurden als wirksame Sprechtaktik eingesetzt und entsprechend rezipiert; Probleme und Paradoxien von Religion und Konfession prägten alltägliche Kommunikationen. Religion war keine Äußerlichkeit, kein obrigkeitlich oktroyiertes "Opium für das Volk" und erschöpfte sich nicht in Theologie und Kirchlichkeit, sondern beschäftigte und bewegte die Menschen in ihrem Alltagshandeln. Religiöse - gerade auch deviante - Sprechweisen waren eine Alltagsressource mit erstaunlichen Denk-, Kommunikations- und Handlungsspielräumen. In dieser Hinsicht hat Loetz mit ihrer Fallstudie zu den Züricher Gotteslästerern einen wegweisenden Beitrag zur Bedeutung von Religion für das alltägliche Kommunikations- und Konfliktverhalten in der frühneuzeitlichen Gesellschaft geleistet.
Karl Härter