Christoph Schmelz: Die Entwicklung des Rechtswegestaates am Beispiel der Trennung von Justiz und Policey im 18. Jahrhundert im Spiegel der Rechtsprechung des Reichskammergerichts und des Wismarer Tribunals (= Schriften zur Rechtsgeschichte; Heft 117), Berlin: Duncker & Humblot 2004, 174 S., ISBN 978-3-428-11660-7, EUR 64,00
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Die Marburger rechtshistorische Dissertation beschäftigt sich am Beispiel der Rechtsprechung des Reichskammergerichts (RKG) und des Wismarer Tribunals, des höchsten Gerichts des unter schwedischer Regierung stehenden Vorpommern, mit dem im frühneuzeitlichen Alten Reich konfliktträchtigen und umstrittenen Verhältnis von "guter Policey" und Justiz.
Das Buch weist erhebliche Schwächen, teilweise gravierende Mängel auf, die bereits in den beiden einleitenden Kapiteln deutlich werden: Methodisch ist die Arbeit auf eine naive teleologische Geschichtsbetrachtung reduziert, die ausgehend vom Grundgesetz der BRD und der Rechtsschutzklausel die lineare "Entwicklungsthese" (23) zeigen möchte, "daß das 18. Jahrhundert, insbesondere die Phase zwischen 1750 und 1790, als 'saeculum mirabilis' und Geburtsstunde des heutigen Art. 19 IV GG anzusehen ist" (21). Belegen will Schmelz die gerichtliche Kontrolle hoheitlicher Akte anhand der Rechtsprechung des RKGs und des Wismarers Tribunals in "Policeysachen". Als Ausgangspunkt fungiert dabei die bekannte Feststellung des RKG-Assessors Cramer, dass Policeysachen weder bei den höchsten Reichs- noch bei den territorialen Gerichten justiziabel seien, außer sie verletzten wohlerworbene Rechte (iura singularia), die auf Herkommen, Privilegien, Verträgen, Normsetzungen usw. beruhten. Cramer gehöre damit zu den Schriftstellern, "die durch ihre justizreformerischen Überlegungen die Entwicklung zu einem modernen Rechts(wege)staat nachhaltig beeinflußt haben" - diese "Assessorenschriftsteller" bleiben allerdings ungenannt (16). Jedenfalls geht es Schmelz um die Frage des Verhältnisses von Policey und Justiz im Alten Reich, wozu neuere Forschungen (z. B. zu Untertanenprozessen) vorliegen, die Schmelz jedoch vielfach ignoriert oder nicht verarbeitet. Überhaupt führt die Einleitung nichts zum Forschungsstand aus, geschweige denn, dass sie sich mit bisherigen Ansätzen und Ergebnissen auseinander setzte.
Zum eigenen Ansatz, zur Auswahl der Texte und Fälle, ihrer Kontextualisierung und zeitlichen Verortung führt Schmelz lediglich unbestimmt und tautologisch aus: "Gegenstand der Arbeit [sind] sog. schlüsselspezifische Ansätze aus Zeitenwenden in Wendezeiten respective aus Wendezeiten in Zeitenwenden, die als Schlüsselaspekte die rechtshistorische Bewußtseinsbildung markieren" (15). Das Resultat hat er bereits in der Einleitung parat: "Diese Entwicklungslinien werden dann zu dem Ergebnis führen, dass sich Mitte des 18. Jahrhunderts mit einer Neuorientierung vom absolutistischen Polizeibegriff hin zum naturrechtlich gefärbten - neben der Eröffnung von Rechtswegen - eine weitere 'rechtsstaatliche Ausbaustufe' entwickelte', wobei es auch um die "Effektivität des Rechtsschutzes" und um "Bürgernähe" gegangen sei (22). Einmal abgesehen davon, dass solche Floskeln wenig zur Konkretisierung der Thematik beitragen (aber die gesamte Arbeit durchziehen): Rechtsschutz im Sinne des Grundgesetzes, Bürgernähe, subjektive, vor den Reichsgerichten einklagbare Rechte, Individualrechtsschutz, Geburtsstunde des Grundgesetzes etc. - ahistorischer kann man die frühneuzeitliche Ständegesellschaft, die Verfassung des Alten Reiches, die Reichsgerichtsbarkeit oder die "gute Policey" wohl kaum angehen.
In der Durchführung versucht sich Schmelz zunächst an der Rekonstruktion des frühneuzeitlichen Policeybegriffs, der Gerichtsverfassung und der juristischen Diskussion über die Thematik "Justizsachen versus Polizeisachen". Im vierten und fünften Kapitel wird nochmals das "Votum" Cramers und das Verhältnis der Reichs- zur territorialen Gerichtsbarkeit aufgegriffen. Es geht weiter mit der "Rolle der Kammerjustiz der Territorialfürsten" (Kap. 6) und einer "ideengeschichtlichen Einordnung" (Kap. 7). Im achten Kapitel folgt die Konkretisierung am Beispiel der Rechtsprechung des Wismarer Tribunals, und abschließend wird nach einem Exkurs zum "richterlichen Methodenbewußtsein" (Kap. 9) eine Zusammenfassung versucht.
Abgesehen von der durchgängig bemühten unhistorischen Konstruktion unmittelbarer Bezüge zwischen dem Reich und "dem Jetzt" (23) zeigen sich weitere Mängel: Texte und Zitate werden falsch interpretiert, die Ergebnisse der neueren Forschungen zu Policey und Reichsgerichtsbarkeit ungenau oder missverständlich herangezogen, kaum diskutiert, häufig auch ignoriert. Fußnoten, Beleg- und Zitierpraxis sowie das Literaturverzeichnis weisen zahlreiche Fehler auf, historische und wissenschaftliche Begriffe werden ungenau und diffus gebraucht, Fakten und historische Ereignisse sind gelegentlich schlicht falsch dargestellt. Aus dieser Melange werden dann im Sinne der "Entwicklungsthese" holzschnittartige, überzogene Schlussfolgerungen abgeleitet. Dafür nur einige Beispiele aus dem dritten Kapitel zum "Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei":
In der juristischen Diskussion um das Problem der Justiziabilität von Policeysachen sieht Schmelz durchaus richtig unterschiedliche Positionen zwischen Befürwortern einer (reichs-) gerichtlichen Zuständigkeit unter bestimmten Bedingungen (eben Verletzung der wohlerworbenen Rechte) und einer eher territorialstaatlichen, die gerichtliche Überprüfung ablehnenden Position. Er zitiert Strube, der einen ordentlichen Prozess bei Zwistigkeiten über iura singulorum bejaht, soweit nicht gemeine Wohlfahrt und Staat betroffen seien, und Schreiber, der lediglich feststellt, dass es Sache des Landesherrn und seiner Regierungsbehörden (Geheimer Rat) und nicht der Gerichte sei, "neue Verordnungen in Policey-Sachen zu machen", also Policeygesetze zu erlassen. Damit erkenne Strube - so Schmelz in fehlgehender Interpretation - eine prinzipiell richterliche Erkenntnis über Policeyordnungen an und beziehe Schreiber eine "Gegenposition zu der Reichspublizistik" (48 und 49). Ganz offensichtlich hat Schmelz hier falsche Vorstellungen von Policeyordnung und Policeygesetzgebung, denn in der gesamten Reichspublizistik findet sich keine Position, die eine Gesetzgebungskompetenz der Gerichte in Policeysachen behaupten und diese dem Landesherrn und dessen Regierungsorganen absprechen würde.
Es folgen Beispiele aus der Judikatur des RKGs bzw. einer Publikation Hoschers zu den Unruhen im Reich im Gefolge der Französischen Revolution: Völlig unvermittelt und ohne Nennung von Zeit und Kontext versucht sich Schmelz an dem "ersten Fall", der "bürgerliche Unruhen und Revolutionen im fürstlich lüttichen Staate" betreffe. Als "revolutionär" empfindet er, dass das RKG ex officio tätig geworden sei und das "Votum zugunsten der Untertanen ausfiel" (51). Tatsächlich handelt es sich um den Aufstand im Fürstbistum Lüttich im Jahr 1789, den das RGK neben anderen Unruhen gemäß seiner bereits 1495 festgesetzten Kompetenz bei Landfriedensbruch behandelte und in dem es, wie auch in den anderen Fällen, gegen die aufständischen Untertanen entschied und sogar eine Reichsexekution veranlasste, die zur Niederschlagung des Aufstands und zur Bestrafung der Untertanen führte.
Dieser Vorgang ist in der Forschung in mehreren Arbeiten (z. B. von Paul Nève und dem Rezensenten) ausführlich behandelt worden, die Schmelz jedoch nicht heranzieht. Aber nicht genug, dass er die tatsächlichen Vorgänge ins Gegenteil verdreht - er zieht aus dem Lütticher Beispiel den völlig überzogenen Schluss, dass dieser Fall bereits "Spurenelemente einer anthropologischen Rechtsausrichtung" erkennen lasse und folglich "im Zentrum der Rechtsdogmatik der Judikatur des Reichskammergerichts die von der Person als Rechtssubjekt und maßgeblichen Anknüpfungspunkt rechtlicher Vorschriften ausgehende Betrachtungsweise und die Figur des subjektiven Rechts" stehe (51). Das Resümee dieses Kapitels beschließt Schmelz mit einer aus dem Zusammenhang gelösten, missverständlich paraphrasierten Ausführung von Michael Stolleis zur Entwicklung des "Policey-Gebots" und der diesbezüglichen Rolle der Juristen (im 16. Jahrhundert), die er in Anwendung auf seine Behandlung von "Policey und Justiz" zu der These missbildet: "Damit ist der 'Kristallisationspunkt' der 'Sozialdisziplinierung' der Neuzeit erreicht" (55), was Max Weber und Norbert Elias mit ihren Modellen bestätigt hätten (56); ein Verweis oder eine Literaturangabe auf die damit berührte (aber gründlich missverstandene) Forschungsdiskussion zur Thematik Policeygesetzgebung, (Sozial-)Disziplinierung oder Zivilisationstheorie unterbleibt.
In diesem Stil geht es weiter: Texte aus der zeitgenössischen juristischen Literatur werden mit RKG-Fällen gemischt, meist ohne Kontext, teilweise entstellt oder gar schlicht missgedeutet und zu überspannten Hypothesen verbogen. Dafür ein weiteres Beispiel aus dem vierten Kapitel, in dem Cramers "Votum" "vertieft" werden soll, weil es die "Klagebefugnis" der Untertanen in Policeysachen begründe (58). Nach zunächst zutreffenden Bemerkungen zur wesentlichen Rolle der wohlerworbenen Rechte will Schmelz diese naturrechtlich im Sinne der "natürlichen Freiheit" umdeuten und mit folgendem Beispiel belegen:
In einem vom RKG behandelten Konflikt zwischen den Lübecker Bäckern, denen der Mehlverkauf gestattet war, und den ebenfalls Mehl verkaufenden Hökern um die "Handlungsfreiheit" glaubt er eine Beschäftigung mit der natürlichen Freiheit zu erkennen (64 f.). Übersehen wird allerdings, dass das zeitgenössische Wort Handlungsfreiheit Handelsfreiheit meint (Handlung = Handel) und es hier nur darum geht, dass die entsprechende Policeygesetzgebung den Hökern den Handel mit Mehl gestattet hatte und die Handelsaktivitäten der Bäcker nur bezüglich des Weizenmehls privilegiert worden waren. Davon abgesehen, dass es hier gar nicht um individuelle bürgerliche Freiheit, sondern um den Gegensatz zwischen allgemeiner Policeynorm und Privileg geht und das RKG einen ganz anderen Freiheitsbegriff zu Grunde legt: Aus der "Handlungsfreiheit" wird für Schmelz ein zentrales Element von "natürlicher Freiheit" und in Kombination mit dem "Votum" Cramers ein Klagerecht der Untertanen. Dies dokumentiert angeblich, dass "das Reichsrecht nahe an die Anerkennung der natürlichen Freiheit als Recht herankam" (65). Ein missdeuteter RKG-Fall und Cramers Ausführungen stehen folglich für das Reichsrecht insgesamt und dessen Entwicklung zum Naturrecht?!
Aber damit nicht genug: Ohne nähere Ausführungen verweist Schmelz auf die Forschungen von Jürgen Weitzel und Bernhard Diestelkamp, die ganz zweifellos gezeigt haben, dass das RKG unter bestimmten Umständen in einzelnen Bereichen und Fällen Rechte der Untertanen schützen konnte; er zieht daraus aber den Schluss, dass in der RKG-Judikatur "der Schutz natürlicher und bürgerlicher Freiheit im Rechtschutzverfahren der Untertanen einen besonderen Stellenwert einnimmt" und folglich der "Lauf der Geschichte [...] realiter dazu [drängte], den Machtmissbrauch und jede Überschreitung der Grenzen der Staatsgewalt im Wege einer richterlichen Kompetenz überprüfen zu lassen" (65). Eine zusätzliche Abstützung oder gar Diskussion dieser weit reichenden Behauptung unter Heranziehung einschlägiger neuerer Forschungsliteratur, z. B. auch von Anette Baumann, Julia Maurer oder Rita Sailer, unterbleibt. Immerhin räumt Schmelz dann auf der folgenden Seite ein, dass sich der Freiheitsschutz des RKGs doch nur punktuell habe entfalten können (66).
Der Rezensent könnte weitere Beispiele dieser Art folgen lassen, verzichtet jedoch darauf. Dokumentiert werden sollen ohne Kommentar nur noch die ebenfalls erheblichen "handwerklichen" Mängel durch zwei vollständige Angaben aus dem Quellen- und Literaturverzeichnis, wo sich (158 und 166) die folgenden Angaben finden: "Grua, François: Tome II, Paris 1948" und "Press, Volker, Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 123 (1975)".
Eine zusammenfassende Bewertung erscheint aufgrund der beispielhaft aufgezeigten Mängel kaum möglich: Gewiss referiert die Arbeit passagenweise den zeitgenössischen Diskurs oder die Judikatur des RKGs und des Wismarers Tribunals halbwegs zuverlässig. Dennoch folgen daraus keine neuen Erkenntnisgewinne. Bestenfalls werden bekannte Ergebnisse oder Thesen zum Verhältnis von Policey und Justiz bestätigt, mehrfach aber auch Fakten, Texte und Begriffe schlicht falsch dargestellt oder fehlgedeutet. Deren Interpretation und Einordnung folgt letztlich unhistorisch einem teleologischen Entwicklungsmodell, nach dem das RKG und das Wismarer Tribunal ohne Abstriche "einen ganz entscheidenden Beitrag für die heutige Erscheinungsform des Rechtstaates geliefert" hätten (142). Beide Gerichte waren die effizienten "Hüter bürgerlicher Rechte und Freiheiten" (142) - als ob die frühneuzeitliche Stände- und Untertanengesellschaft durchgängig bürgerliche Freiheitsrechte gewährt hätte. So weit ging auch das "Modell" Schwedisch-Vorpommern mit seinem Wismarer Tribunal nicht, dessen besondere Situation schon gar nicht im Hinblick auf die allgemeinen Verhältnisse von Gerichtsbarkeit und Policeygesetzgebung im Reich verallgemeinert werden kann.
Dass das Wismarer Tribunal und auch das RKG den Untertanen einen begrenzten Rechtsschutz gegen landesherrliche Policey-Eingriffe in wohlerworbene Rechte gewährte, soll hier nicht bezweifelt werden. Schmelz setzt sich jedoch nicht mit den bisherigen differenzierten Forschungsergebnissen auseinander - die z. B. als Motiv die Geltendmachung der jurisdiktionellen Kompetenzen von Kaiser und Reich gegen die Politik von Landesherren betonen - und hypostasiert seine Befunde in seinem Bemühen um Gegenwartsbezug und "geschichtlich denkende Rechtsdogmatik" (132) zur These einer im Alten Reich einsetzenden "revolutionären Evolution" des Rechtsstaats: Denn "auch Evolutionen haben dasselbe Endprodukt wie Revolutionen und können somit als Revolutionen sui generis qualifiziert werden" (142). Ein solches Evolutions-, Revolutions- und Geschichtsmodell, das Schmelz abschließend mit vielfältigem "name-dropping" von Luhmann und Elias über Wehler und Goethe bis hin zu Gneist und Gagnér drapiert, ist dem Rezensenten bisher nicht begegnet, und folglich kann er dazu auch nichts mehr ausführen. Denn, wie Schmelz als "abschließende Stellungnahme" und Fazit formuliert (147): "Wie es ist, kann nur derjenige verstehen, der weiß, wie es wurde".
Karl Härter