Ulrich Henselmeyer: Ratsherren und andere Delinquenten. Die Rechtssprechungspraxis bei gerinfügigen Delikten im spätmittelalterlichen Nürnberg (= Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven; Bd. 6), Konstanz: UVK 2002, 212 S., ISBN 978-3-89669-779-0, EUR 29,00
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Die Bielefelder Dissertation widmet sich einem typischen Untersuchungsgegenstand der historischen Kriminalitätsforschung: der spätmittelalterlichen Stadt. Für seine Fallstudie hat Ulrich Henselmeyer die zweitgrößte Reichsstadt - Nürnberg - ausgewählt, zu der bereits einige Arbeiten vorliegen, die auch die Thematik Kriminalität und Gerichtsbarkeit behandeln oder zumindest streifen. Im Unterschied zu anderen, meist auf die höhere Blutgerichtsbarkeit fokussierenden Studien untersucht Henselmeyer die Gerichtspraxis des Stadtrates bei geringfügigen Delikten, die in Nürnberg zeitgenössisch als "Hadersachen" bezeichnet wurden. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, wobei die statistische Auswertung hinsichtlich der Delikte und Strafen lediglich die Jahre 1432 bis 1434 umfasst. Dies ist der Quellenlage geschuldet, denn nur für diese Jahre liegen Kriminalakten zur Niedergerichtsbarkeit - Haderbuch und Stadtrechnungen - in dichter Überlieferung vor, aus der insgesamt 891 Delinquenten ermittelt werden. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die in den Nürnberger Policeyordnungen als strafbar fixierten devianten Handlungen, die Praxis der Niedergerichtsbarkeit sowie Strafarten wie Geldbuße und Turmhaft, wobei der Autor insbesondere die Umsetzung der Policeyordnungen, die Strafverfolgungspraxis, die Funktionsmechanismen des reichsstädtischen Rechtsalltags und das Rechtsverständnis der Stadtbewohner aufhellen möchte (21).
Henselmeyer hat seine Untersuchung klar aufgebaut und behandelt zunächst die institutionellen Strukturen. Die Hoch- und Niedergerichtsbarkeit übten der Rat beziehungsweise von diesem gebildete Gremien aus: der innere Rat, dann vor allem das Fünfergericht sowie das für Gewerbesachen zuständige Pfandamt und seit 1470 das zusätzlich geschaffene Rugamt. Eine klare Trennung zwischen Hoch- und Niedergerichtsbarkeit existierte jedoch auch in Nürnberg nicht, und der Bereich der geringfügigen Delikte war in den entsprechenden Policey- und Strafgesetzen nicht exakt festgelegt. Das Satzungsrecht der Stadt erfasste nahezu alle Bereiche des Zusammenlebens und enthielt Straf- wie Ordnungsrecht (im modernen Sinn). Auf die normativen Grundlagen - insbesondere die umfangreiche Nürnberger Policeygesetzgebung - geht Henselmeyer allerdings kaum ein, sodass die darin enthaltenen Ordnungsvorstellungen, Motive und Strafzwecke nicht systematisch aufgehellt werden. Wichtigstes Abgrenzungskriterium zwischen Hoch- und Niedergerichtsbarkeit bildeten die Strafen; niedergerichtliche Delikte beziehungsweise "Hadersachen" konnten nur mit Geldbußen und Freiheitsentzug in den Stadttürmen und dem "Lochgefängnis", nicht aber peinlich gestraft werden. Henselmeyer zeigt, dass bereits im Spätmittelalter eine breite Palette an Strafarten zur Anwendung kam und lange vor der Etablierung des Zuchthauses, das in der Forschung als Ursprung der modernen Freiheitsstrafe galt, Haftstrafen eine zentrale Rolle spielten. Mit einem Anteil von über 60 Prozent verdrängte die Haftstrafe als "Polizeistrafe" alle anderen Sanktionsformen (Ehrenstrafen, Prügel). Nur die Geldbuße, mit der seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Haftstrafen abgelöst werden konnten, spielte im Bereich der Niedergerichtsbarkeit noch eine Rolle.
Das Verfahren und die Strafzumessung unterlagen der uneingeschränkten Kontrolle des Rates, wobei auch zur "Untersuchungshaft" und Folterdrohungen gegriffen wurde, was die unscharfe Grenze zwischen niederer und höherer Strafgerichtsbarkeit unterstreicht. Kennzeichnend ist weiterhin eine sozial differenzierte Strafpraxis: Inhaber des Bürgerrechts wurden nicht in das entehrende Lochgefängnis geworfen, und Strafen konnten auch nachträglich mittels Fürbitten und Supplikationen hinsichtlich Strafart und Strafzumessung gemildert werden. Als Fürsprecher tauchen "auswärtige" Reichsstände beziehungsweise Städte, Adlige, Geistliche und Familienangehörige auf, und je höher deren soziale Reputation war, als desto aussichtsreicher erwies sich das nachträgliche Aushandeln der Sanktionen. Henselmeyer belegt dabei eindrucksvoll, dass nicht nur Unterschichten und Randgruppen, sondern auch Angehörige der städtischen "Mittelschicht" (Handwerker, Gewerbetreibende) und der Eliten von der Niedergerichtsbarkeit für deviantes Verhalten mit Geld- und Haftstrafen sanktioniert wurden.
Die Analyse der sanktionierten Devianz und der dahinter erkennbaren sozialen Konfliktlagen steht dann im Mittelpunkt des vierten Kapitels. Die 891 ermittelten Delinquenten beziehungsweise "Fälle" werden sechs Deliktkategorien - "Worte" (Verbalinjurien), "Tätlichkeiten" (Gewalt), Delikte gegen Obrigkeit / Amtsträger, Amtsvergehen, Ordnungsdelikte, Wirtschaftsdelikte, Sonstiges - zugeordnet, und zwar jeweils einfach und eindeutig. Damit verschwindet in der quantitativen Analyse die Delinquenz beziehungsweise "Nebendelikte" tauchen nicht auf. Dies erscheint für die spätmittelalterliche Niedergerichtsbarkeit akzeptabel, zumal Henselmeyer die quantitative Auswertung lediglich zur Gewinnung einiger Basisdaten vornimmt und kritisch auf die begrenzte Reichweite von Kriminalstatistiken aufmerksam macht, aus denen sich vorwiegend die Aktivitäten der strafenden Obrigkeit erhellen ließen. Dominierend ist die Kategorie der "Tätlichkeiten" (rund 53 Prozent), gefolgt von Delikten gegen die Obrigkeit mit 18 und Verbalinjurien mit elf Prozent; die anderen liegen unter zehn Prozent. Analog sind die männlichen Delinquenten mit rund 88 Prozent über-, die weiblichen mit 12 Prozent deutlich unterrepräsentiert, was den Ergebnissen anderer Untersuchungen entspricht und auch aus der spezifischen Wahrnehmung und Zuschreibung weiblicher Devianz resultierte.
Anhand einer gelungenen qualitativen Auswertung der Quellen sowie gut gewählter Fallbeispiele kann Henselmeyer ein differenziertes Bild der Delikte zeichnen, das auch die jeweiligen sozialen Kontexte des devianten Verhaltens und der Konflikte deutlich macht: Ritualisierter Ablauf und Funktionen von Verbalinjurien und körperlicher Gewalt, Familie, Ehe und Sexualität beziehungsweise sexuelle Devianz, Feste und Alkoholkonsum oder die Interessenkonflikte zwischen Handwerkern und Patriziern - um nur einige Beispiele zu nennen - werden als Elemente beziehungsweise Kontext von Devianz herausgearbeitet. Auch Glücksspiel und Verstöße gegen Aufwands-, Luxus- und Kleiderordnungen, die im Stichprobenzeitraum nicht besonders häufig auftraten, sich aber langfristig über die Stadtrechnungen als durchaus "alltäglich" nachweisen lassen, werden ausführlich behandelt. Henselmeyer belegt, dass der Rat in diesen Bereichen religiöse Vorstellungen, die Bewahrung des städtischen Friedens und die Distinktion sozialer Schichten mittels Niedergerichtsbarkeit und Geldbußen durchzusetzen versuchte. Die Darstellung der Wirtschaftsdelikte fällt dagegen blass aus. Letztlich bleibt unklar, warum gerade bei einer wirtschaftlich bedeutenden Stadt wie Nürnberg in diesem normativ intensiv geregelten Bereich kaum Devianz auftrat beziehungsweise bestraft wurde (womöglich ein Problem der Quellenüberlieferung oder der Zuständigkeit anderer Policey- und Justizorgane?).
Ein wichtiges Ergebnis ist der relativ hohe Anteil der städtischen Elite (aber auf Seite 168 ungenau als "deutlicher Bestandteil" angegeben) und auch der Amtsträger an der sanktionierten Devianz: Nicht nur Angehörige von Randgruppen und Unterschichten oder Handwerker, sondern auch Patrizier beziehungsweise Ratsangehörige und Amtsträger wurden von der Niedergerichtsbarkeit bestraft. Die hohe Gewaltbereitschaft der städtischen Amtsträger (Büttel und Stadtknechte) ist für Henselmeyer ein Beleg für den defizitären Organisationsgrad und die Ineffizienz der städtischen Exekutivorgane. Gewalttätiges Handeln der Funktions- und Herrschaftselite - argumentiert er gegen Valentin Groebner - könne nicht vorwiegend als funktionales Mittel zur Stabilisierung von Herrschaft interpretiert werden, sondern habe vielmehr Widerstand provoziert und Normdurchsetzung erschwert und sei deshalb auch verfolgt und bestraft worden. Dass gerade die Ambivalenz einer Disziplinierung von Amtsträgern via Strafjustiz und deren höhere Gewaltbereitschaft beziehungsweise das damit verbundene Drohpotenzial ein charakteristisches Element von Herrschaftspraxis bildet, übersieht er allerdings.
Grundsätzlich gelangt Henselmeyer zu dem überzeugenden Ergebnis, dass der Rat seine Stellung als Obrigkeit über die Niedergerichtsbarkeit ausbauen und eine "uneingeschränkte Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsgewalt" etablieren konnte (176). Diese setzte er durchaus konsequent ein, und die Gerichtspraxis lässt dann auch "Durchsetzungswillen" erkennen, den der Autor mehrfach betont (hier 177, oder 85: "Die Durchsetzung der ausgesprochenen Strafen verfolgte der Rat mit großer Konsequenz"). Strafen und Niedergerichtsbarkeit wurden dabei flexibel eingesetzt, wie die Gewährung von Gnade beziehungsweise die nachträgliche Modifikation von Strafen - aber nie der völlige Verzicht - aufgrund von Fürbitten und Supplikationen zeigen. Henselmeyer interpretiert diese ambivalente Gerichtspraxis ganz im Sinne des Modells "Friedenswahrung und Konfliktschlichtung", die er als "Kern der ratsherrlichen Rechtsprechung" (176) ausmacht, während Disziplinierung und Machtsicherung zweitrangig gewesen seien. Dem entspreche, dass Devianz von Amtsträgern und Patriziern bestraft und auch von "patrizischen Delinquenten Gerechtigkeit eingefordert" (179) worden sei.
Nun kann nicht angezweifelt werden, dass gerade die spätmittelalterliche städtische Niedergerichtsbarkeit der Erhaltung des Stadtfriedens diente und zur Schlichtung von Konflikten von der Obrigkeit eingesetzt oder von den Betroffenen aktiv genutzt wurde. Für andere Funktionen, Ziele und Strafzwecke bietet Henselmeyer gerade im Hinblick auf die Durchsetzung des Gewaltmonopols und die intensive Normdurchsetzung des Rates jedoch keine ausreichende Erklärung an. Stattdessen bevorzugt er letztlich ein Harmoniemodell von sozialer Ordnung und Rechtspraxis, in dem die "Konstruktion eines Gegensatzes zwischen Obrigkeit und Beherrschten" keinen Platz mehr hat (178). Herrschaft, soziale Ungleichheit und ständische Unterschiede, soziale und politische Konflikte sowie Funktionen wie Etikettierung, Disziplinierung und Durchsetzung "neuer" Verhaltensstandards bleiben in ihrer Bedeutung unklar beziehungsweise werden zu gering gewichtet. Dies betrifft zum Beispiel die Konflikte zwischen Patriziern und Handwerkern, die Bewahrung sozialer Grenzen bei der Durchsetzung von Kleider- und Luxusordnungen, die verhaltensdisziplinierenden Motive bei der Verfolgung des Glücksspiels und auch die (Selbst-)Disziplinierung der städtischen Funktions- und Herrschaftseliten hinsichtlich des Gewaltverhaltens. Die Ordnungsvorstellungen und herrschaftspolitischen Ziele des Rates, aber auch der Bevölkerung werden insbesondere im Hinblick auf den Bereich der "guten Ordnung und Policey" nicht genügend aufgehellt, und die bereits im Spätmittelalter sehr dichte Policeygesetzgebung Nürnbergs wird nicht systematisch einbezogen. Wenig überzeugend scheint die pauschale These, dass "die Rechtsvorgaben im Satzungsrecht [...] nur eine Ausprägung sozialer Normen waren" (177). Einmal davon abgesehen, dass Henselmeyer an keiner Stelle die sozialen Normen der städtischen Gesellschaft systematisch aufarbeitet, so belegt die Untersuchung nahezu durchgängig, dass der Rat als Obrigkeit zwar soziale Normen oder Ziele (Stadtfrieden, Konfliktschlichtung et cetera) berücksichtigte, aber ebenfalls spezifische obrigkeitliche, herrschaftspolitische und auch religiöse Zielsetzungen verfolgte. Die Defizite bezüglich der Dimensionen Herrschaft, soziale Ungleichheit und Ständegesellschaft zeigen sich auch in der unscharfen Begrifflichkeit. So billigt Henselmeyer dem Rat explizit "Souveränität" zu, kraft derer er die "Rechtsgrundlagen" erlassen und umgesetzt habe (176). An anderer Stelle ist von der uneingeschränkten Rechtsautonomie Nürnbergs die Rede (141). Und die Fürbitten von Reichsständen, Reichsstädten, Adligen und dem Kaiser werden als bedeutsamer außenpolitischer Aspekt der Gnadenpraxis interpretiert (138). Der eigentliche Kontext - das spätmittelalterliche Reichssystem, die Rechtsentwicklung im Reich (Gesetzgebung der Reichsstände, Rezeption, gemeines Recht, Reichsrecht) und speziell die Rolle Nürnbergs als reichs- und wirtschaftspolitisches Zentrum - bleiben dagegen außen vor.
Die in dem sehr knappen Fazit lediglich zusammengefassten Ergebnisse zeichnen folglich ein relativ statisches, "materielles" Bild: Eine vergleichende Einordnung sowohl in die historische Kriminalitätsforschung als auch die reichsstädtische Forschung fehlt nahezu völlig, und Entwicklungsprozesse werden entweder nicht thematisiert oder - wie im Fall der Durchsetzung des Gewalt- und Justizmonopols beziehungsweise des Wandels des Rates zur Obrigkeit - kaum hinreichend erklärt. Insofern zeigt die Arbeit exemplarisch die Probleme, die entstehen, wenn Modelle historischen Wandels wie "Staatsbildung", "Policey" oder "(Sozial-)Disziplinierung", aber auch wichtige politische und soziale Rahmenbedingungen wie das Reichssystem pauschal abgelehnt oder nicht berücksichtigt werden, andererseits der moderne Staat mit seiner vermeintlich effektiven Normdurchsetzung dennoch im Hintergrund als unhistorischer Bewertungshorizont fungiert und Begriffe wie "Souveränität", "Außenpolitik" und "Gerechtigkeit" auf eine spätmittelalterliche Reichsstadt angewandt werden.
Karl Härter