Rezension über:

Marie Dejoux: Reformatio ? Les mots pour dire la réforme à la fin du Moyen Âge (= Histoire ancienne et médiévale; 192), Paris: Éditions de la Sorbonne 2023, 314 S., ISBN 979-10-351-0882-3, EUR 25,00
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Rezension von:
Jan Reitzner
Bexhövede
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Jan Reitzner: Rezension von: Marie Dejoux: Reformatio ? Les mots pour dire la réforme à la fin du Moyen Âge, Paris: Éditions de la Sorbonne 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/38255.html


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Marie Dejoux: Reformatio ?

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Von der "karolingischen" und der "gregorianischen", über die "kluniazensische" oder "zisterziensische" Reform bis hin zur "Reichsreform": Kaum ein historiographisches Konzept erfreut sich in der Mediävistik seit gut hundert Jahren einer solchen Beliebtheit wie die "Reform". In den zeitgenössischen Quellen wird der Begriff jedoch nahezu vergeblich gesucht. Wie soll mit diesem disparaten Befund umgegangen werden und auf welche Weise kann er erklärt werden? Der vorliegende Sammelband geht dieser Frage in einer Vielzahl von Tiefenbohrungen nach.

Anlass für die Veröffentlichung ist eine Initiative des "Laboratoire de médiévistique occidentale de Paris" (LaMOP), das unter der Leitung von Marie Dejoux (Sorbonne) mehrere Veranstaltungen zu diesem Thema durchgeführt hat. [1] In der Einleitung wird von ihr zunächst kundig die Forschungsgeschichte rekapituliert. Zurecht verweist sie auf den Vorsprung der Kirchen- und Theologiegeschichte, die sich intensiv mit diesem Terminus auseinandergesetzt hat (8). [2] Daraus ergibt sich folgerichtig die Fokussierung auf die "Profangeschichte", also vornehmlich auf die Reform öffentlicher Verwaltungsstrukturen. Das fragliche Wortfeld existiert in diesem Zusammenhang in nennenswertem Umfang jedoch erst im späten Mittelalter, womit die zweite Eingrenzung begründet wäre.

Es ist eine große Stärke des Bandes, dass die theologische Grundierung dieser Debatten nicht aus dem Blick gerät. "Reform" ist immer Rückkehr zur forma Christi, zur Gestalt christlichen Lebens vor der "Ursünde", dem peccatum originale. Diese Wiederherstellung liegt aber letztlich außerhalb der Zeit (11) und kann nur von Christus geschenkt werden. Deshalb sprechen die Geistlichen lieber von "reparieren", sobald es um primär weltliche Belange geht (297). Erst mit zunehmender Verstaatlichung neigen weltliche Souveräne dazu, sich das Recht zur Reform anzueignen (301). Auch die vielfältigen Bezüge zu Innozenz III. (9; 101; 303 u.ö.) werden zurecht herausgestellt.

Methodologisch wendet sich der Sammelband schon ausweislich des vorab an alle Referierenden verschickten Fragebogens (17) stark den digital humanities zu. Eine unüberschaubare Vielzahl an (oft bunten) Graphiken, Prozentzahlen oder lexikalischen Zählungen durchzieht das ganze Buch. Beispielhaft deutlich wird das im ersten Beitrag von Nicolas Perreaux. Der Experte im "data mining" bewegt sich souverän zwischen GoogleBooks, der Patrologia Latina, der Vulgata, dem Corpus Thomisticum oder auch den Cartae Europae Medii Aevi (CEMA). Lobenswert ist der reflektierte Umgang auch mit den Gefahren und Grenzen dieser Methode. [3] So warnt Perreaux ausdrücklich vor der homophonen Illusion (32): Der gleiche Begriff kann zu einer anderen Zeit, in einer anderen Textgattung oder an einem anderen Ort eine völlig verschiedene Bedeutung annehmen.

Auch das Schlusswort von Claude Gauvard, deren akademische Karriere schon um einige Jahrzehnte weiter fortgeschritten ist als bei allen anderen Autorinnen und Autoren, warnt vor der Suggestionskraft der Zahlen und einem Realismus, der sie verobjektiviert (297). Diese differenzierte und reflektierte Haltung findet sich auch in den Beiträgen von Aude Mairey (England) und Francisco Foronda (iberische Halbinsel).

Der enorme Aufwand digitaler Studien zeitigt jedoch oft inhaltlich überschaubare Ergebnisse. So zeigt Perreaux, dass der Begriff ab 1870 für einen Kontext jenseits der protestantischen Reformation verwendet wird (38) und seit der Aufklärung einen teleologischen Zug bekommt. Weder während der "karolingischen" noch während der "gregorianischen" Reform findet sich das entsprechende Wortfeld gehäuft (60). Dann zeigt er ausgehend von einer augustinischen Hamartiologie (65), wie die Verbindung zwischen "reform-" und "pax" seit den 1120ern zunimmt. Die verlorene "imago dei" wird wiederhergestellt: zunächst rein geistig, dann ganzheitlich, später mit Blick auf den Leib Christi, seine Kirche und zuletzt auch auf (stärker) weltliche Institutionen (68). Wenn überhaupt dürfte diese letzte vielleicht etwas groß geratene These für den Mediävisten eine neue Erkenntnis sein.

Schlussendlich votiert er (mit weiteren Beiträgen) für die Lösung, weiterhin bei einer Verdichtung von Transformationsprozessen die "Reform" als Konzept zu behalten - bei gleichzeitiger Vermeidung falscher Assoziationen (25). Dabei darf weder die extreme Seltenheit des Begriffs in den Quellen noch die komplexe Begriffsgeschichte der letzten Zeiten verschwiegen werden. Den letzten Punkt nimmt der Band vorbildlicherweise bis in die Gegenwart ernst, wenn immer wieder individuelle Resonanzen transparent gemacht werden (5; 18; 25; 292; 307).

Zuletzt ist noch die geographische Vielfalt der Kontexte von Frankreich über Deutschland (Gisela Naegle) bis hin zur iberischen Halbinsel (Francisco Foronda) oder Italien (Carole Mabboux) zu würdigen. Dabei sind die Unterschiede oft nicht nur mit Blick auf die Quellen erheblich, sondern auch mit Blick auf die Geschichtsphilosophie der letzten zweihundert Jahre. Von den "Vorreformationen" in Deutschland (13; 126) [4] über den Einfluss der idealistischen Geschichtsphilosophie auch in Frankreich (8) bis hin zur "unauffindbaren" Reform auf der iberischen Halbinsel (181; 296): Es wäre sicher lohnenswert, noch weitere Kontexte einzubeziehen, etwa die Frage nach der "Reform" in islamisch geprägten Sprachkulturen im Rahmen einer Universalgeschichte oder die "Reform" in urbanen Kontexten, wie schon das Fazit anregt (296).

Insgesamt behandelt der Band ein schlüssig umrissenes und wichtiges Thema, das alle Autorinnen und Autoren mit bemerkenswerter Disziplin in den vorgegebenen methodischen Bahnen für ihre jeweilige Fragestellung behandeln. Auffällig ist die Vielzahl der digitalen Analysetools, die durchweg reflektiert und sinnvoll eingesetzt werden, obschon die Frage nach dem tatsächlichen "output" offen bleibt. Weitaus anregender scheint die Frage nach den theologischen Grundierungen von Verwaltungsfragen, wie etwa der Reduktion der königlichen Beamten. Die Lektüre ist zu empfehlen: Die "Reform" als historiographisches Konzept ist schließlich aus der öffentlichen Debatte genausowenig wegzudenken, wie die entsprechende Problematisierung in der akademischen Welt.


Anmerkungen:

[1] Vgl. https://lamop.pantheonsorbonne.fr/laboratoire-medievistique-occidentale-paris (zuletzt aufgerufen am 20.09.2023)

[2] Ein zentraler Grund für die intensive Debatte dürfte sicher das Verhältnis von Reformation und Transformation im 16. Jahrhundert gewesen sein, das zu intensiven Debatten entlang der Achse Tübingen - Göttingen (Volker Leppin - Thomas Kaufmann) führte. Auch bei dieser Diskussion hätte bei einer stärker historisch kontextualisierten Begrifflichkeit vielleicht manche Schieflage vermieden werden können.

[3] Zum Stand der digitalen Mediävistik im deutschsprachigen Raum sei auf die Arbeitsgruppe des Mediävistenverbands hingewiesen: https://www.mediaevistenverband.de/digitale-mediaevistik/ (zuletzt aufgerufen am 20.09.2023).

[4] Exemplarisch steht für eine solche Haltung der viel zitierte Gerhart Ladner mit seiner Schule (etwa 9f; 127, 295).

Jan Reitzner