Stefan Creuzberger: Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung, Reinbek: Rowohlt Verlag 2022, 670 S., ISBN 978-3-498-04703-0, EUR 34,00
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Wer das fast 700-seitige Buch von Stefan Creuzberger in die Hände nimmt, um eine allseitige, chronologisch geordnete Vorstellung von der wechselseitigen Geschichte Deutschlands und Russlands im 20. Jahrhundert zu bekommen, wird bald feststellen, dass das mit diesem Band kaum möglich ist. Dann wird es aber auch schon zu spät dafür sein, um das Buch wieder aus der Hand zu legen. Denn der Leser wird vermutlich von der kontroversen, scharfsinnigen und anregenden Fragestellung und Denkweise angesteckt werden und beginnen, eigene Dichotomien für diese merkwürdige Paarbeziehung der beiden Länder zu suchen und zu durchdenken. Ausdruck dieser ungewöhnlichen wie anregenden Herangehensweise sind die drei Kapitel - "Revolution und Umbruch", "Terror und Gewalt", "Abgrenzung und Verständigung" -, die als Sinngrundsteine gewählt wurden. Ob es noch hätten mehr sein können? Auch darüber beginnt man unweigerlich zu sinnieren. Die Darstellung beginnt der Rostocker Zeithistoriker in seinem Vorwort mit einer Süßwarenfabrik in Moskau und ihrer Fabrikantenfamilie - ein Einstieg, der daran erinnert, dass die Geschichte selbst keineswegs einem abstrakten wissenschaftlichen Begriff folgt und immer von Menschen handelt. Aus diesem Grunde kann sie auch so leicht unmenschlich werden, was in dieser Beziehungsgeschichte ja zur Genüge passiert ist. Trotzdem bleibt sie die Geschichte ihrer Menschen.
Nach dem ersten Eindruck, der bei den Lesern und Leserinnen schon durch das Inhaltsverzeichnis Interesse für die Wechselwirkungen Deutschlands und Russlands und ihren Einfluss auf die dramatische Geschichte des 20. Jahrhunderts weckt, beginnt eine ziemlich kontinuierliche, auf Quellen und Literatur gestützte Zeitreise. Innerhalb eines jeden Kapitels können die Ereignisse, Akteure, Ideologien und Lebenswelten verfolgt werden, seit Beginn des Jahrhunderts, seit dem Ausbruch und Aufbruch des Ersten Weltkriegs oder dann mit der Rapallo-Ära bis zur deutschen Wiedervereinigung und Putins Herrschaft. Ob die Gliederung in die drei genannten Kapitel und die Bildung der unterschiedlichen Paarbegriffe jedem einzelnen Stichpunkt entspricht, müssen und dürfen die Leser selbst entscheiden.
Wie konnte es passieren - um gleich bei der brennenden Aktualität zu beginnen -, dass mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine Putin und die Regierungskreise in Russland und das scheinbar so einfach zu verführende Volk nach den Jahren der Gorbatschow-Perestrojka und des Jelzin-Chaos davon träumten, wieder eine Furcht erregende Großmacht zu sein und die Nachbarn reagieren zu können? Diese Frage, die erst zukünftig zufriedenstellend zu beantworten sein wird, evoziert eine andere: Wie kann sich das Verhältnis zu Russland, dessen Macht so toxisch für die Welt wurde, überhaupt in der Zukunft gestalten? Auf diese Frage gibt "Das deutsch-russische Jahrhundert" eine hellsichtige und gleichzeitig eine - gerade auch für uns Exilierte - hoffnungsvolle Antwort: "Nichts währt ewig" (561).
In den Ost-West- und deutsch-russischen Beziehungen, die im letzten Jahrhundert zu oft den europäischen Kontinent und sogar die ganze Welt abwechselnd in Krieg und Frieden hineingezogen haben, gab es genügend Beispiele der Annäherung und Kooperation, aber auch der Feindschaft und der existenzbedrohenden Konfrontation. Creuzberger hat sein Buch vor dem Beginn des Kriegs Russlands gegen die Ukraine im Februar 2022 geschrieben. Nichtsdestotrotz weist er am Ende in seiner Bilanz offen sowohl auf die wachsende Unsicherheit und Gefahren für die weltoffenen zivilgesellschaftlichen Kräfte in Russland hin als auch auf die destruktive Ukraine-Politik Putins. Und aus dem Buch kann man wichtige Anstöße für die Zukunft gewinnen, um nach Alternativen zu suchen und die zukünftige Vergangenheitsbewältigung nicht nur auf eine Verurteilung der Pläne und Ziele Putins sowie seiner Führungsmannschaft zu beschränken, sondern das ganze Land gegen Gewalt immer wieder zu immunisieren. Die historische Relevanz der vielseitigen Erfahrungen des deutsch-russischen Jahrhunderts mit allen seinen Höhen und Tiefen steht außer Frage. Doch merkt man unwillkürlich nach den Ereignissen vom Februar 2022, dass das weitgespannte Sachbuch der allgemeinen Tendenz der bisherigen Geschichtsschreibung folgt und die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland eher aus zentraler Sichtweise betrachtet, ohne Beachtung oder Einbindung der parallelen Ereignisse und Interessen der anderen Völker des russischen Reiches beziehungsweise der Sowjetunion, wie es beispielsweise gegenwärtig in Bezug auf die Ukraine so augenfällig ist. Diese Sichtweise ist im letzten Jahr ins Wanken geraten und muss nun neu bewältigt werden.
Aus der gesamten Fragestellung ergibt sich eine Schwerpunktsetzung auf die Außenpolitik, auf die bilateralen Verträge und ihr Gelingen oder ihr Scheitern, teilweise auch auf die gegenseitige Wahrnehmung. Themen der Wirtschaftsgeschichte und noch mehr der kulturellen, ideologischen und Alltagswechselwirkungen treten zuweilen, beileibe nicht überall, ein wenig in den Hintergrund. Der Autor konzentriert sich insbesondere auf Zeiten des Friedens, der Kooperation, der Verständigungspolitik und der Annäherung. Deshalb widmet er seine Aufmerksamkeit überwiegend den Verhandlungen und Abkommen, beginnend bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk im Winter 1917/18 (im zweiten Kapitel) über den Rapallo-Vertrag von 1922 und seinen Geist der Verständigung (im vierten Kapitel) sowie weiter über die Wirtschaftsdiplomatie und Kulturpolitik als Brückenbauer im Kalten Krieg. Trotzdem erspart er uns nicht die Zeit der absoluten Konfrontation Ersten Weltkrieg und "des Schlachtfelds der Diktatoren" (259) und schließlich des weltanschaulichen Vernichtungskriegs. Im Vergleich zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind aber die Jahrzehnte des Kalten Kriegs mit den beiderseitigen Interessen und Schritten, auch Interessensgegensätzen, ausführlicher dargestellt. Hier ist insbesondere die stupende Kenntnis des Autors über den Besuch von Kanzler Adenauer in der UdSSR hervorzuheben. Man merkt, dass sich Creuzberger in einem breiten Maße auf die Ideen und Einschätzungen der westlichen Geschichtsschreibung stützt. An der umfangreichen Literaturliste ist jedoch auch abzulesen, dass die Debatten beziehungsweise Auseinandersetzungen innerhalb der russischen Historiographie, die es vor dem Jahr 2022 noch gab, nur bedingt Niederschlag fanden.
Das Buch ist fraglos für eine breite, historisch interessierte Öffentlichkeit geschrieben worden. Es präsentiert uns sowohl eine weitgespannte Übersicht über die wissenschaftliche Forschung als auch eine emotionale Seite der deutsch-russischen Geschichte und ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Fast jedes angesprochene Themengebiet reizt zu weiteren Fragestellungen oder regt zum Nachdenken an, was das besondere Verdienst der Publikation ist. Einen neutralen Standpunkt auf die Sicht der Geschichte einzunehmen, ist nach der Lektüre nicht möglich. Die Nominierung für NDR- und Deutschen Sachbuchpreise 2022, die Plätze 1 und 2 in Sachbücher-Bestenlisten bestätigen die Inspiration und die Aktualität der Darstellung. Es bleibt die offene Frage, wie sich die Geschichte dieser besonderen Beziehung weiterentwickeln kann.
Tatiana Timofeeva