Peter Longerich: Außer Kontrolle. Deutschland 1923, Wien: Molden Verlag 2022, 320 S., 50 s/w-Abb., ISBN 978-3-222-15102-6, EUR 33,00
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Sandra Maß: Kinderstube des Kapitalismus. Monetäre Erziehung im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018
Lino Schneider-Bertenburg: 1873. Der Gründerkrach und die Krisenwahrnehmung der deutschen Sozialdemokratie , Stuttgart: W. Kohlhammer 2022
1923 war mit Ruhrbesetzung, Hyperinflation und Ludendorff-Hitler-Putsch ein denkwürdiges Jahr in der deutschen Geschichte, dem wenig überraschend zum 100-jährigen Jubiläum viel publizistische Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Außer Kontrolle. Deutschland 1923 ist Peter Longerichs Beitrag zur historischen Bewertung dieses Jahrs überschrieben. Der Titel macht den Fokus des Buchs auf die krisenhafte Zuspitzung der politischen Konflikte deutlich und verweist zugleich auf seine zentrale These. Dass die schwerwiegende Krise nicht in der Diktatur mündete, sei Longerich zu Folge "nicht auf das Krisenmanagement der Regierung zurückzuführen, sondern auf die gegenseitige Blockade der rechtskonservativen und rechtsextremen Kräfte und die Verpuffung sämtlicher Staatsstreich- und Putschpläne nach dem misslungenen Ludendorff-Hitler-Unternehmen" (268).
In acht von einem Prolog und einem Fazit eingerahmten Kapiteln nähert sich Longerich der Krise des Jahrs 1923 von ihrem "Vorraum" bis zu ihrer "Entladung". Im Prolog stellt er sein Krisenmodell vor, das von dem Ausgangspunkt "struktureller Konflikte" (8) über eine "Zuspitzung" zur "eigentlichen Krise" (10) und schließlich zu "Eskalation" und "Entladung" führt. Für die Analyse besitzt das Stufenmodell wenig Mehrwert. Denn wie Longerich überzeugend darlegt, war der Verlauf "entscheidend durch das Handeln und die Interaktionen von Personen in Schlüsselpositionen geprägt" (18), die sich nicht zwingend dem Stufenmodell unterordnen lassen.
Das erste Kapitel befasst sich mit dem "Vorraum der Krise", der Besetzung des Ruhrgebiets am 11. Januar 1923. Diese wird von Longerich im größeren Kontext der Probleme Frankreichs und vor dem Hintergrund der deutschen Okkupation im Ersten Weltkrieg analysiert. Longerich betont, dass auch der "passive Widerstand" keinem Masterplan gefolgt sei, und vertritt die These, dass es der Druck der Zechenbesitzer und insbesondere von Hugo Stinnes gewesen sei, der zum passiven Widerstand geführt habe, was in dieser Pauschalität kaum haltbar sein dürfte [1]. Völlig zu Recht betont Longerich dagegen den massiven politischen Einfluss, der von Stinnes und seinen Kollegen an der Ruhr ausging. Das zweite Kapitel wechselt die Perspektive vom "passiven" zum "aktiven Widerstand". Es hebt vor allem auf die "vaterländischen" Kampfverbände ab, denen eine Schlüsselrolle für das Verständnis der Eskalation zukommt. Ausgehend von Rechtsextremisten wie Heinz Oskar Hauenstein oder Gerhard Roßbach werden die Netzwerke der republikfeindlichen Organisationen und ihre Bezüge zur Reichswehr beleuchtet. Hans von Seeckt, Chef der Heeresleitung, zeigte sich offen für einen Umsturz. Die Reichsregierung verfolgte dagegen eine fatale "Politik des Wegsehens, Duldens und Ermunterns" (56).
Das dritte Kapitel thematisiert die Situation im Ruhrgebiet sowie die Spannungen zwischen Reich und Ländern. Im Ruhrgebiet bröckelte der Widerstand angesichts der Versorgungsprobleme und der seit April beschleunigten Inflation. Die Reichsregierung bemühte sich derweil erfolglos und inkonsequent um eine diplomatische Lösung, während Stinnes die Regierung mit seinen Forderungen - wie der Aufhebung des 8-Stunden-Tages - unter Druck setzte. Das politische Hauptaugenmerk des Kapitels liegt räumlich in Bayern, wo sich der Rechtsextremismus nahezu ungehindert entfalten konnte. Longerich skizziert anschaulich die komplexen Verhältnisse der paramilitärischen Verbände und die Rolle zentraler Akteure wie Hitler, Ludendorff oder Hermann Kriebel. Der Rückzug vom "passiven Widerstand" im Ruhrgebiet wird im vierten Kapitel nachgezeichnet. Diesen betrachtet Longerich vor allem als Folge der abnehmenden Unterstützung seitens Stinnes. Reichskanzler Cuno konnte sich vor dem Hintergrund steigender Preise, eines nicht endenden Ruhrkampfes und einer Streikwelle im Sommer 1923 nicht länger halten.
Das fünfte Kapitel hat "das Verhängnis der Inflation" zum Thema. Neben einer konzisen Diskussion wichtiger Faktoren wie dem Ersten Weltkrieg und der Kriegsfinanzierung, die in international vergleichender Perspektive erörtert wird, finden auch sozial- und kulturhistorische Aspekte Beachtung. Die Darstellung folgt dem konventionellen Verständnis und bemüht die üblichen Kronzeugen wie Victor Klemperer, Hans Fallada oder Thomas Mann. Die sozialen Folgen der Hyperinflation, der Stress und die Versorgungsengpässe werden anschaulich geschildert. Wer zuvor ein oder zwei Bücher zum Jahr 1923 gelesen hat, wird hier wenig Neues finden [2]. Die Betrachtung der Inflation in einem eigenen Kapitel ist für das grobe Verständnis des Ereignisses sicher hilfreich. Dadurch wirkt die Inflation aber auch isoliert von den politischen Ereignissen, die ansonsten im Fokus stehen.
Gustav Stresemann, der Nachfolger Cunos, steht am Beginn des sechsten Kapitels. Stresemann sah sich im August 1923 mit zahlreichen Krisenherden konfrontiert. Dazu zählten neben Ruhrkampf und Inflation der Konflikt mit Bayern und Sachsen sowie die drohenden Aufstände und Putschversuche aus dem links- und rechtsextremistischen Lager. Für die weitere Entwicklung kam der Beendigung des passiven Widerstands im September 1923 eine entscheidende Bedeutung zu. Insbesondere in Bayern führte dies zu einer weiteren Eskalation, wo Generalstaatskommissar Gustav von Kahr de facto zum Diktator avancierte. Ein Großteil der weiteren Analyse widmet sich der detaillierten Rekonstruktion unterschiedlicher Putschpläne und ihrer Konkretisierung, was spannend zu lesen ist, aber naturgemäß eine thematische Verengung bedeutet. Der Buchrucker-Putsch der "Schwarzen Reichswehr" findet bei Longerich eine ausführliche Betrachtung. Parlamentarische Debatten und gesamtpolitische Entwicklungen rücken dagegen etwas in den Hintergrund, so dass auch die Rolle der republikfeindlichen DNVP etwas blass bleibt.
Aufstände der Kommunisten in Hamburg und Sachsen, die von der Reichswehr brutal niedergeschlagen wurden, Teuerungskrawalle und pogromartige Ausschreitungen gegen Juden sowie Separatismusbestrebungen führten zu einem blutigen Herbst. Dieser wird im siebten Kapitel rekonstruiert. Die Ereignisse bilden den Hintergrund für die Bemühungen der Gegner der Republik, das Kabinett Stresemann zu stürzen. Stinnes und Seeckt arbeiteten immer gezielter auf einen "kalten Staatsstreich" (243) hin, lehnten zugleich aber einen offenen Putsch ab. Währenddessen setzten in Bayern die rechtsradikalen Kräfte von Kahr unter Druck. Als von Kahr zögerte und die reichsweite Koordination der Putschisten misslang, schlugen Hitler und Ludendorff am Abend des 8. November 1923 los, wie in Kapitel acht geschildert wird. Das Scheitern dieses von Anfang an wenig aussichtsreichen Unterfangens ist für Longerich zugleich die Erklärung für das Scheitern der republikfeindlichen Kräfte insgesamt. "Hätten Hitler und Ludendorff nicht ihren Putschversuch unternommen, wäre das Krisenmanagement der Regierung Stresemann direkt in den Untergang der Weimarer Demokratie gemündet" (267). Träfe dies so zu, wäre es zweifellos eine Ironie der Geschichte. Die These erscheint jedoch stark zugespitzt. Zwar kann Longerich die konkrete Gefährdung der Republik durch die Aktionen und Vorbereitungen republikfeindlicher Akteure gut belegen. Auch überzeugt grundsätzlich das Argument, dass es vor allem Koordinationsprobleme der Rechten gewesen seien, die eine effektive Attacke auf die Demokratie verhindert hätten. Aber Koordinationsprobleme sind kein Spezifikum rechtsradikaler Kräfte der frühen 1920er Jahre, sondern eine Art struktureller "Normalfall", so dass ihre Erklärungskraft für historische Entwicklungen nicht überschätzt werden sollte.
Insgesamt hat Longerich eine souveräne und gut lesbare politische Geschichte des Krisenjahres 1923 vorgelegt, die im Unterschied zu einem bloßen Überblickswerk eigene und quellengestützte Akzente setzt. Positiv hervorzuheben ist auch, dass Longerich die historische Rolle verschiedener Akteure konsequent im Kontext des Jahres 1923 bewertet und entsprechende Verzerrungen durch spätere historische Darstellungen explizit benennt. Die zentrale These des Buchs bezüglich der maximalen Fragilität der Weimarer Demokratie im Herbst 1923 ist diskussionswürdig. Dass sich etwa Stresemann während der krisenhaften Zuspitzung im Oktober und November 1923 nur im Amt habe halten konnte, weil der als möglicher Nachfolger designierte Otto Wiedfeldt eine Antwort schuldig blieb (243), ist nicht unbedingt zwingend. Wenig konsequent wirkt auch die Darstellung der Rolle von Seeckts, der angeblich schlicht unterschätzt habe, "wie sehr er trotz seiner Sondervollmachten in den Regierungsapparat eingebunden blieb" (266), ansonsten aber die Republik liebend gerne zu Grabe getragen hätte. Das mag der Fall gewesen sein. Das offenbar geringe Maß an umstürzlerischer Eigeninitiative bleibt gleichwohl überraschend. Longerich selbst konstatiert zudem, dass die Reichsregierung Mitte Oktober durch die politischen Beschlüsse in Richtung Währungsstabilisierung und internationaler Kooperation "zwei wichtige Entscheidungen" getroffen habe, die "letztlich erheblich zur Überwindung der Krise beitragen sollten" (205). Ganz aus der Hand gegeben hatte die Reichsregierung die Kontrolle also nicht.
Anmerkungen:
[1] Siehe Boris Gehlen: Paul Silverberg (1876-1959). Ein Unternehmer. Stuttgart 2007, S. 253 f.
[2] Dazu auch Tim Schanetzky: 2023/1923. Die Inflation der Inflationsbücher, in: KWI-BLOG, [https://blog.kulturwissenschaften.de/inflationsbuecher/], 17.04.2023 und Michael Wildt: Sammelrezension zu 1923, in: H-Soz-Kult, [www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-132999], 22.08.2023.
Sebastian Teupe